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Wladimir I. Lenin 19020800 Vorwort zur zweiten Auflage der Broschüre „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten"

Wladimir I. Lenin: Vorwort zur zweiten Auflage der Broschüre „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten"

[Zum ersten Mal veröffentlicht im Dezember 1902 in der von der „Liga" herausgegebenen Broschüre. Nach Sämtliche Werke, Band 5, Wien-Berlin 1930, S. 227-233]

Es sind genau fünf Jahre verstrichen, seitdem die vorliegende Broschüre geschrieben wurde, die jetzt, da die Bedürfnisse der Agitation es erfordern, in zweiter Auflage erscheint. In dieser kurzen Zeitspanne hat unsere junge Arbeiterbewegung einen so gewaltigen Schritt vorwärts getan, in der Lage der russischen Sozialdemokratie und in ihrem Kräftezustand haben sich so tiefe Veränderungen vollzogen, dass es wohl seltsam erscheinen mag, wie das Bedürfnis nach dem einfachen Nachdruck einer alten Broschüre entstehen konnte. Haben sich denn „die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten" im Jahre 1902 im Vergleich zu 1897 nicht im geringsten geändert? Ist denn der Verfasser, der damals erst dies Ergebnis „der ersten Erfahrungen" seiner Parteitätigkeit zog, in seinen Ansichten über diese Aufgaben um keinen Schritt weitergekommen?

Solche (oder ähnliche) Fragen werden wahrscheinlich bei mehr als einem Leser entstehen, und zur Beantwortung dieser Fragen müssen wir uns auf die Broschüre „Was tun?" berufen und einige der dort gemachten Ausführungen ergänzen. Uns auf sie berufen – um auf die Darlegung der Ansichten des Verfassers über die gegenwärtigen Aufgaben der Sozialdemokratie hinzuweisen; ergänzen – was dort (S. 31, 32, 121, 138) über die Bedingungen, unter denen die Broschüre, die jetzt neu aufgelegt wird, geschrieben wurde und was über ihr Verhältnis zu der besonderen „Periode" in der Entwicklung der russischen Sozialdemokratie gesagt ist. Von solchen Perioden habe ich in der genannten Broschüre („Was tun?") im ganzen vier genannt, wobei die letzte Periode sich auf „die Gegenwart, zum Teil auf die Zukunft" bezog; als dritte Periode ist die Herrschaft (oder wenigstens die weite Verbreitung) der „ökonomistischen" Richtung seit 1897/98 bezeichnet, als zweite Periode – die Jahre 1894–1898 und als erste – die Jahre 1884–1894. In der zweiten Periode sehen wir – im Gegensatz zu der dritten – keine Meinungsverschiedenheiten in den Kreisen der Sozialdemokraten selber. Die Sozialdemokratie war damals ideologisch einheitlich, und damals wurde auch der Versuch unternommen, eine praktische, organisatorische Einheit (Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands) zu erzielen. Die Hauptaufmerksamkeit der Sozialdemokratie war damals nicht auf die Klärung und Lösung dieser oder jener inneren Parteifragen gerichtet (wie in der dritten Periode), sondern auf den geistigen Kampf gegen die Gegner der Sozialdemokratie einerseits, und auf die Entfaltung der praktischen Parteiarbeit andererseits.

Zwischen der Theorie und der Praxis der Sozialdemokraten bestand damals nicht der Gegensatz, der in der Zeit des „Ökonomismus" bestand.

Die vorliegende Broschüre spiegelt die Eigentümlichkeiten der damaligen Lage und der damaligen „Aufgaben" der Sozialdemokratie wider. Die Broschüre ruft zur Vertiefung und Erweiterung der praktischen Arbeit auf, sie sieht keine „Hindernisse" in der Ungeklärtheit irgendwelcher allgemeinen Ansichten, Grundsätze und Theorien und keine (damals nicht vorhandene) Schwierigkeit in der Verbindung des politischen Kampfes mit dem ökonomischen. Die Broschüre wendet sich mit ihren grundsätzlichen Ausführungen an die Gegner der Sozialdemokratie, an die Leute von der „Narodnaja Wolja" und dem „Narodnoje Prawo" und sucht jene Missverständnisse und Vorurteile zu zerstreuen, die diese Leute veranlassen, sich von der neuen Bewegung fernzuhalten.

Und jetzt nun, wo die Zeit des „Ökonomismus" offensichtlich ihrem Ende entgegengeht, erweist es sich, dass die Stellung der Sozialdemokraten wieder ihrer Stellung vor fünf Jahren ähnlich ist. Gewiss, die Aufgaben, vor denen wir jetzt stehen, sind unvergleichlich verwickelter geworden, entsprechend dem gewaltigen Anwachsen der Bewegung in dieser Zeit, – doch die Hauptmerkmale des gegenwärtigen Augenblicks sind nur eine Wiederholung, auf breiterer Grundlage und in größerem Maßstabe, der Besonderheiten der „zweiten" Periode. Das Missverhältnis zwischen unserer Theorie, dem Programm, den taktischen Aufgaben und der Praxis verschwindet, je mehr der Ökonomismus verschwindet. Wir können und müssen wieder mutig zur Vertiefung und Erweiterung der Tagesarbeit aufrufen, denn die Klärung der theoretischen Voraussetzungen dieser Arbeit ist bereits in hohem Maße vollzogen. Wir müssen unsere besondere Aufmerksamkeit wieder den nichtsozialdemokratischen illegalen Richtungen in Russland zuwenden, wobei wir es im Grunde genommen wieder mit denselben, nur sehr viel entwickelteren, besser herausgebildeten, „reifen" Richtungen zu tun haben, wie es auch in der ersten Hälfte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts der Fall war.

Die Leute der „Narodnaja Wolja" haben sich im Verlauf ihrer Mauserung in „Sozialrevolutionäre" verwandelt, als wollten sie allein schon durch diese Bezeichnung zeigen, dass sie auf halbem Wege stehen geblieben sind. Sie haben sich vom alten („russischen" Sozialismus) getrennt, sich dem neuen (der Sozialdemokratie) aber nicht angeschlossen. Die einzige Theorie des revolutionären Sozialismus, die die Menschheit heute kennt, d. h. den Marxismus, verwerfen sie auf Grund einer bürgerlichen („Sozialisten"!) und opportunistischen („Revolutionäre"!) Kritik. Ihre Gedanken- und Grundsatzlosigkeit führt sie in der Praxis zu einem „revolutionären Abenteurertum", das seinen Ausdruck findet in ihrem Bestreben, solche soziale Schichten und Klassen, wie die Intelligenz, das Proletariat und die Bauernschaft, auf eine Stufe zu stellen, ferner in ihrer lärmenden Propaganda des „planmäßigen" Terrors, in ihrem berühmten Agrar-Mindestprogramm (Sozialisierung des Grund und Bodens, – Genossenschaften, Fesselung an die Parzelle. Siehe „Iskra" Nr. 23/24), in ihrem Verhältnis zu den Liberalen (siehe „Rewoluzionnaja Rossija" Nr. 91 und die Rezension des Herrn Schitlowski über das „Oswoboschdenije" in Nr. 9 der „Sozialistischen Monatshefte")2 und in vielem anderen, wovon wir wohl noch wiederholt zu sprechen haben werden. In Russland gibt es noch so viele soziale Umstände und Bedingungen, die die Wankelmütigkeit der Intellektuellen nähren und bei radikal gestimmten Persönlichkeiten den Wunsch hervorrufen, das überlebte Alte mit dem leblosen Modernen in Einklang zu bringen, – Bedingungen, die sie hindern, ihre Sache mit dem Klassenkampf des Proletariats zu verbinden, – dass die russische Sozialdemokratie noch solange gezwungen sein wird, sich mit einer Richtung oder mit Richtungen, wie der der „Sozialrevolutionäre", auseinanderzusetzen, bis die kapitalistische Entwicklung und die Verschärfung der Klassengegensätze diesen jeden Boden entzogen haben wird.

Die Anhänger des „Narodnoje Prawo", die sich im Jahre 1897 durch eine nicht geringere Verschwommenheit auszeichneten (siehe weiter unten, S. 20–22) als die jetzigen Sozialrevolutionäre, sind infolgedessen sehr rasch von der Bildfläche verschwunden. Doch ihr „nüchterner" Gedanke – die Forderung, die politische Freiheit vom Sozialismus vollkommen zu trennen – ist nicht gestorben und konnte nicht sterben, denn in Russland sind die liberal-demokratischen Strömungen unter den verschiedensten Schichten der Groß- und Kleinbourgeoisie sehr stark und werden immer stärker. Darum wurde das liberale „Oswoboschdenije", das die Vertreter der bürgerlichen Opposition in Russland um sich sammeln möchte, der legitime Erbe des „Narodnoje Prawo", sein entschiedener, folgerichtiger und reifer Fortsetzer. Und so unvermeidlich, wie das Verwelken und Absterben des alten Russland der Vorreformzeit, der patriarchalischen Bauernschaft und des alten Schlages der Intelligenz, die es fertig bringt, sich in gleichem Maße für die Dorfgemeinde und die landwirtschaftlichen Genossenschaften wie für die „unauffindbaren" Terroristen zu begeistern, – ebenso unvermeidlich ist das Anwachsen und das Heranreifen der besitzenden Klassen des kapitalistischen Russlands, der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums, mit ihrem nüchternen Liberalismus, der zu erkennen beginnt, dass es unvorteilhaft ist, eine stumpfsinnige, rohe, kostspielige und vor dem Sozialismus keineswegs schützende absolutistische Regierung auszuhalten, – mit ihrer Forderung nach europäischen Formen des Klassenkampfes und der Klassenherrschaft, – mit ihrem (in der Zeit des Erwachens und des Wachstums des Proletariats) angeborenen Bestreben, ihre bürgerlichen Klasseninteressen durch die Ablehnung des Klassenkampfes überhaupt zu verdecken.

Wir haben also allen Grund, uns bei den Herren liberalen Gutsbesitzern zu bedanken, die den Versuch machen, eine „konstitutionelle Semstwopartei" ins Leben zu rufen. Erstens – beginnen wir mit dem minder Wichtigen – wollen wir uns bei ihnen dafür bedanken, dass sie der russischen Sozialdemokratie Herrn Struve weggenommen und ihn endgültig aus einem Scheinmarxisten in einen Liberalen verwandelt haben, wodurch sie uns helfen, an einem lebendigen Beispiel vor der ganzen Welt die wahre Bedeutung des Bernsteinianertums überhaupt und des russischen Bernsteinianertums insbesondere aufzuzeigen. Zweitens wird uns das „Oswoboschdenije", das bestrebt ist, verschiedene Schichten der russischen Bourgeoisie bewusst-liberal zu machen, dadurch helfen, eine immer größere Masse von Arbeitern rascher zu bewussten Sozialisten zu machen. Bei uns gab und gibt es so viel verschwommenen, liberal-volkstümlerischen Scheinsozialismus, dass im Vergleich zu ihm die neue liberale Richtung einen entschiedenen Schritt vorwärts bedeutet. Es wird jetzt sehr leicht sein, den Arbeitern die russische liberale und demokratische Bourgeoisie vor Augen zu führen und die Notwendigkeit einer selbständigen politischen Arbeiterpartei, die einen Teil der internationalen Sozialdemokratie bildet, aufzuzeigen, – es wird jetzt sehr einfach sein, die Intellektuellen aufzufordern, ihre Stellung klar zu bestimmen: Liberalismus oder Sozialdemokratie; – schwankende Theorien und Richtungen werden zwischen den Mühlsteinen dieser beiden wachsenden und erstarkenden „Antipoden" sehr rasch zermalmt werden. Drittens – und das ist natürlich die Hauptsache – werden wir es den Liberalen danken, wenn sie durch ihre Opposition das Bündnis des Absolutismus mit einigen Schichten der Bourgeoisie und der Intelligenz ins Wanken bringen. Wir sagen „wenn", denn durch ihr Liebäugeln mit dem Absolutismus, durch ihre Anpreisung der friedlichen Kulturarbeit, durch ihren Krieg gegen die „tendenziösen" Revolutionäre usw. bringen die Liberalen weniger den Absolutismus ins Wanken als vielmehr den Kampf gegen den Absolutismus. Wenn wir jede Halbheit der Liberalen, jeden ihren Versuch, mit der Regierung zu liebäugeln, unentwegt und unversöhnlich entlarven, so werden wir eben dadurch diese verräterische Seite der politischen Tätigkeit der Herren liberalen Bourgeois schwächen, wir werden dadurch ihre Linke lähmen und der Arbeit ihrer Rechten die größten Ergebnisse sichern.

So haben sowohl die Leute von der „Narodnaja Wolja" wie die von dem „Narodnoje Prawo" sehr große Fortschritte gemacht im Sinne der Entwicklung, Bestimmung und Herausbildung ihrer wahren Bestrebungen und ihrer wahren Natur. Der Kampf, der in der ersten Hälfte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts ein Kampf zwischen kleinen Zirkeln der revolutionären Jugend gewesen ist, wird jetzt wieder aufgenommen als entscheidender Kampf reifer politischer Richtungen und wirklicher politischer Parteien.

Angesichts dessen wird die Neuauflage der „Aufgaben" vielleicht auch in der Beziehung nicht ohne Nutzen sein, dass sie den jungen Parteimitgliedern ihre jüngste Vergangenheit in Erinnerung rufen, und die Entstehung jener Stellung der Sozialdemokratie unter den anderen Richtungen aufdecken wird, die erst jetzt ganz klar geworden ist, dass sie ihnen helfen wird, die ihrem Wesen nach gleichartigen, aber verwickelteren „Aufgaben" des gegenwärtigen Augenblicks klarer und deutlicher vor Augen zu haben.

Die Sozialdemokratie steht jetzt vor der besonders dringenden Aufgabe, der Zerfahrenheit und allen Schwankungen in ihren Reihen ein Ende zu machen, sich fester zusammenzuschließen und sich organisatorisch unter dem Banner des revolutionären Marxismus zu verschmelzen, – alle ihre Anstrengungen auf die Vereinigung sämtlicher, an der praktischen Arbeit beteiligten Sozialdemokraten, auf die Vertiefung und Erweiterung ihrer Tätigkeit zu richten und zugleich ernsthaft ihr Augenmerk darauf zu lenken, dass einer möglichst breiten Masse von Intellektuellen und Arbeitern die wahre Bedeutung der beiden oben genannten Richtungen, mit denen es die Sozialdemokratie seit langem zu tun hat, klar gemacht werde.

August 1902

1 Lenin meint den Artikel „Eine neue Aktion der russischen Liberalen" („Rewoluzionnaja Rossija", Nr. 9, Juli 1902), geschrieben im Zusammenhang mit dem Erscheinen der ersten Nummer des „Oswoboschdenije" (unter der Redaktion P. Struves). In dem Artikel wurde auf zwei mögliche Таktiken des bürgerlichen Liberalismus hingewiesen: „Entweder sie (die Liberalen. Die Red.) können wieder versuchen, der Regierung mit der Revolution Angst einzujagen, um mit dem eingeschüchterten Feind leichter einen Waffenstillstand abzuschließen und auf Grund eines gütlichen Übereinkommens einen kleinen Teil seiner Vorrechte abzubekommen, um zusammen mit ihm über die werktätigen Massen zu herrschen und den Kampf gegen deren Vertreter, die revolutionären Sozialisten, zu führen; oder sie können Hand in Hand mit den Vertretern des revolutionären Sozialismus den unversöhnlichen Kampf gegen den Absolutismus und gegen jede Oligarchie, für eine wirkliche Volksregierung, für die gleiche Freiheit für alle führen". Wenn der Liberalismus sich auf den Weg des unversöhnlichen Kampfes gegen den Zarismus stellt, so ist „die gegenseitige Hilfe und Unterstützung" der Revolutionäre und der Liberalen „möglich, angebracht und wünschenswert".

Zum Schluss bringt „Rewoluzionnaja Rossija" ihre feste Überzeugung zum Ausdruck, dass die beiden vertragschließenden Parteien „alle Bündnis-Verpflichtungen ehrlich gegeneinander erfüllen werden", und die Zeitung spricht ferner den Wunsch aus, dass die russischen Liberalen „diesmal ihre früheren Fehler vermeiden mögen".

2 Die bibliographische Notiz Ch. Schitlowskis „Oswoboschdenije" war in Nr. 9 der „Sozialistischen Monatshefte", September 1902, veröffentlicht.

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