II. Spontaneität der Massen und Zielbewusstheit der Sozialdemokratie

II. Spontaneität der Massen und Zielbewusstheit der Sozialdemokratie

Wir sagten, dass unsere Bewegung, die viel breiter und tiefer ist als die der siebziger Jahre, beseelt sein muss von ebenso bedingungsloser Entschlossenheit und Tatkraft wie damals. In der Tat, bisher hat wohl niemand daran gezweifelt, dass die Kraft der gegenwärtigen Bewegung im Erwachen der Massen (und vor allem des Industrieproletariats) liegt, ihre Schwäche aber – im Mangel an Zielbewusstheit und an Initiativgeist der revolutionären Führer.

In der allerletzten Zeit jedoch wurde eine niederschmetternde Entdeckung gemacht, die alle bisher herrschenden Ansichten in dieser Frage auf den Kopf zu stellen drohte. Diese Entdeckung ist vom „Rabotscheje Djelo" gemacht worden, das in seiner Polemik gegen die „Iskra" und die „Sarja" sich nicht auf einzelne Einwände beschränkte, sondern den Versuch machte, die „allgemeine Meinungsverschiedenheit" auf eine tieferliegende Wurzel zurückzuführen, und zwar auf die „verschiedene Bewertung der relativen Bedeutung des spontanen und des bewusst-,planmäßigen' Elementes". Die Anklagethese des „Rabotscheje Djelo" lautet: „Unterschätzung der Bedeutung des objektiven oder spontanen Elementes der Entwicklung"A. Darauf wollen wir erwidern: wenn die Polemik der „Iskra" und der „Sarja" absolut keine anderen Resultate gezeitigt hätte als die, dass sie das „Rabotscheje Djelo" zu der These über diese „allgemeine Meinungsverschiedenheit" anregte, so würde schon dieses Resultat allein uns eine große Befriedigung geben, so vielbedeutend ist diese These, ein so grelles Licht wirft sie auf das ganze Wesen der gegenwärtigen theoretischen und politischen Meinungsverschiedenheiten zwischen den russischen Sozialdemokraten.

Aus diesem Grunde bietet die Frage des Verhältnisses zwischen Zielbewusstheit und Spontaneität ein gewaltiges allgemeines Interesse, und es ist notwendig, diese Frage sehr eingehend zu behandeln.

a) Der Beginn des spontanen Aufschwungs

Wir haben bereits im vorhergehenden Kapitel die Begeisterung für die Theorie des Marxismus, die die gesamte gebildete russische Jugend um die Mitte der neunziger Jahre erfasst hatte, hervorgehoben. Einen ebenso allgemeinen Charakter hatten um dieselbe Zeit, nach dem berühmten Petersburger Industriekrieg von 1896, die Arbeiterstreiks angenommen. Ihre Ausdehnung über ganz Russland zeugte offensichtlich von der Tiefe der neu einsetzenden Volksbewegung, und wenn man schon vom ,.spontanen Element" reden will, so wird man natürlich eben diese Streikbewegung vor allem als eine spontane anerkennen müssen. Aber es gibt verschiedene Arten von Spontaneität. Streiks hat es in Russland auch in den siebziger und in den sechziger Jahren (und sogar schon in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts) gegeben, begleitet von einer „spontanen" Maschinenstürmerei usw. Verglichen mit diesen „Revolten" kann man die Streiks der neunziger Jahre sogar als „bewusste" bezeichnen – so sehr bedeutend ist der Schritt vorwärts, den die Arbeiterbewegung in dieser Zeit getan hat. Das zeigt uns, dass das „spontane Element" eigentlich nichts anderes darstellt als die Keimform der Zielbewusstheit. Auch die primitiven Revolten brachten ein gewisses Erwachen des Bewusstseins zum Ausdruck: die Arbeiter verloren den althergebrachten Glauben an die Unerschütterlichkeit des sie unterdrückenden Regimes, sie begannen die Notwendigkeit einer kollektiven Abwehr, wenn nicht zu verstehen, so doch zu fühlen, und brachen entschieden mit der sklavischen Unterwürfigkeit gegenüber der Obrigkeit. Aber das war viel eher ein Ausbruch der Verzweiflung und der Rache als ein Kampf. Die Streiks der neunziger Jahre zeigen schon viel mehr Anzeichen vom Erwachen des Bewusstseins: es werden bestimmte Forderungen aufgestellt, es wird vorher überlegt, welcher Moment der günstigere ist, die bekanntgewordenen Fälle und Beispiele an anderen Orten werden besprochen usw. Wenn die Revolten nur eine Auflehnung unterdrückter Menschen waren, so brachten die systematischen Streiks bereits die Keime des Klassenkampfes zum Ausdruck, aber eben erst die Keime. An und für sich waren diese Streiks ein trade-unionistischer und noch kein sozialdemokratischer Kampf; sie kennzeichneten das Erwachen des Antagonismus zwischen Arbeitern und Unternehmern, aber den Arbeitern fehlte noch – und musste noch fehlen – die Erkenntnis der unversöhnlichen Gegensätzlichkeit ihrer Interessen zu dem gesamten gegenwärtigen politischen und sozialen Regime, d. h. es fehlte ihnen das sozialdemokratische Bewusstsein. In diesem Sinne blieben die Streiks der neunziger Jahre, trotz ihres gewaltigen Fortschritts im Vergleich zu den „Revolten", eine rein spontane Bewegung.

Wir haben gesagt, dass die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewusstsein noch nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeigt, dass die Arbeiterklasse aus ihren eigenen Kräften einzig und allein ein trade-unionistisches Bewusstsein herauszuarbeiten vermag, d. h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich zu Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, von der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze zu fordern usw.B. Die Lehre des Sozialismus ist jedoch aus jenen philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien herausgewachsen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, geschaffen wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Lage nach der bürgerlichen Intelligenz an. Ebenso ist auch in Russland die theoretische Lehre der Sozialdemokratie entstanden ganz unabhängig von dem spontanen Anwachsen der Arbeiterbewegung, sie ist entstanden als natürliche und unvermeidliche Folge der Ideenentwicklung in der revolutionär-sozialistischen Intelligenz. Zu der Zeit, von der wir sprechen, d. h. um die Mitte der neunziger Jahre, war diese Lehre nicht nur zum vollkommen abgeschlossenen Programm der Gruppe „Befreiung der Arbeit" geworden, sondern sie hatte bereits die Mehrheit der revolutionären Jugend in Russland für sich gewonnen.

Auf diese Weise hatte man es zu tun sowohl mit der Tatsache des spontanen Erwachens der Arbeitermassen, des Erwachens zum bewussten Leben und bewussten Kampfe, als auch mit der Tatsache des Vorhandenseins einer mit einer sozialdemokratischen Theorie ausgerüsteten revolutionären Jugend, die es zu den Arbeitern hinzog. Dabei ist es besonders wichtig, jenen oft vernachlässigten (und verhältnismäßig wenig bekannten) Umstand festzustellen, dass die ersten Sozialdemokraten dieser Periode, die sich eifrig mit ökonomischer Agitation befassten (und in dieser Hinsicht den wahrhaft nützlichen Winken der damals als Manuskript vorhandenen Broschüre „Über Agitation" durchaus Rechnung trugen), diese nicht nur nicht für ihre einzige Aufgabe hielten, sondern im Gegenteil von Anfang an die weitestgehenden geschichtlichen Aufgaben der russischen Sozialdemokratie im Allgemeinen und die Aufgabe des Sturzes des Absolutismus im Besonderen in den Vordergrund stellten. So wurde z. B. von der Gruppe der Petersburger Sozialdemokraten, die den „Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse" gegründet hatte, schon Ende 1895 die erste Nummer der Zeitung hergestellt, die den Titel „Rabotscheje Djelo" trug. Die bereits druckreife Nummer wurde in der Nacht vom 8. zum 9. Dezember 1895 während einer Haussuchung bei einem der Mitglieder der Gruppe, A. A. WanejewC, von Gendarmen beschlagnahmt, und das „Rabotscheje Djelo" erster Fassung sollte nie das Licht der Welt erblicken. Der Leitartikel dieses Blattes (den in dreißig Jahren vielleicht irgendein Organ, wie die „Russkaja Starina", aus den Archiven des Polizeidepartements ausgraben wird) schilderte die historischen Aufgaben der Arbeiterklasse in Russland und stellte die Eroberung der politischen Freiheit an die Spitze dieser Aufgaben. Ferner standen in dieser Nummer ein Artikel: „Woran unsere Minister denken", der die polizeiliche Zerschlagung der „Komitees für Elementarwissen" behandelte, sowie eine Reihe von Korrespondenzen nicht nur aus Petersburg, sondern auch aus anderen Orten Russlands (z. B. über das Arbeitergemetzel im Gouvernement Jaroslawl'. Auf diese Weise stellte dieser, wenn wir nicht irren, „erste Versuch" der russischen Sozialdemokraten der neunziger Jahre ein Blatt dar, das keinen eng-lokalen und noch weniger einen „ökonomistischen" Charakter trug, sondern das bestrebt war, die Streikkämpfe mit der revolutionären Bewegung gegen den Absolutismus zu vereinigen und alle durch die Politik der reaktionären Dunkelmänner Unterdrückten für die Unterstützung der Sozialdemokratie zu gewinnen. Niemand, der den Zustand der Bewegung in jener Zeit einigermaßen kennt, wird daran zweifeln, dass ein solches Blatt die absolute Sympathie sowohl der Arbeiter der Hauptstadt als auch der revolutionären Intelligenz und weiteste Verbreitung gefunden hätte. Der Misserfolg des Unternehmens bewies nur, dass die damaligen Sozialdemokraten sich außerstande zeigten, den dringenden Erfordernissen des Momentes zu entsprechen, weil ihnen die revolutionäre Erfahrung und praktische Vorbereitung fehlte. Das gleiche ist zu sagen von dem Sankt Petersburger „Rabotschi Listok" und insbesondere von der „Rabotschaja Gazeta" und dem „Manifest" der im Frühjahr 1898 gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Selbstverständlich fällt es uns nicht ein, diese mangelnde Vorbereitung den damaligen Führern zum Vorwurf zu machen. Um aber die Erfahrungen der Bewegung auszunützen und aus dieser Erfahrung praktische Lehren zu ziehen, muss man sich über die Ursachen und die Bedeutung dieses oder jenes Mangels vollkommen im Klaren sein. Darum ist es außerordentlich wichtig, festzustellen, dass ein Teil (vielleicht sogar die Mehrheit) der in den Jahren 1895–1898 wirkenden Sozialdemokraten durchaus mit Recht schon damals, ganz zu Beginn der „spontanen" Bewegung, es für möglich hielt, mit dem weitestgehenden Programm und einer Kampftaktik hervorzutreten.D Die mangelnde Vorbereitung der meisten Revolutionäre konnte, da sie eine durchaus natürliche Erscheinung war, keine besonderen Befürchtungen erregen. Wenn die Aufgaben richtig gestellt waren, wenn die Energie vorhanden war, die Versuche der Verwirklichung dieser Aufgaben zu wiederholen, so konnten die vorübergehenden Misserfolge nur ein halbes Übel sein. Revolutionäre Erfahrung und organisatorische Geschicklichkeit sind Dinge, die man erwerben kann. Wenn nur der Wille vorhanden ist, sich die erforderlichen Eigenschaften anzueignen! Wenn man nur zu der Erkenntnis seiner Fehler gelangt, die in revolutionären Dingen schon mehr bedeutet als die halbe Besserung!

Aber das halbe Übel ist zu einem ganzen geworden, als dieses Bewusstsein zu erlöschen begann (und es war bei den Männern der oben genannten Gruppen sehr lebendig), als Leute auftauchten – und sogar sozialdemokratische Organe –, die bereit waren, aus der Not eine Tugend zu machen, die versuchten, ihre blinde Vergötterung und Anbetung der Spontaneität sogar theoretisch zu begründen. Es ist jetzt an der Zeit, absolute Klarheit zu schaffen über diese Richtung, deren Inhalt sehr ungenau mit dem für sie zu engen Begriff des „Ökonomismus" gekennzeichnet wird.

b) Die Anbetung der Spontaneität – „Rabotschaja Mysl"

Bevor wir zu den literarischen Äußerungen dieser Anbetung der Spontaneität übergehen, wollen wir folgende (aus oben genannter Quelle erhaltene) charakteristische Tatsache feststellen, die ein gewisses Licht darauf wirft, wie in den Kreisen der in Petersburg wirkenden Genossen der Zwiespalt zwischen den beiden Richtungen der russischen Sozialdemokratie entstanden ist und wie er sich weiter entwickelt hat. Anfang 1897 hatten A. A. Wanejew und einige seiner Genossen, bevor sie in die Verbannung geschickt wurden, Gelegenheit, an einer privaten Versammlung teilzunehmen, in der die „alten" und die „jungen" Mitglieder des „Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse" zusammengekommen waren. Es wurde hauptsächlich über die Organisation gesprochen, und insbesondere über dasselbe „Statut der Arbeiterkasse", das in seiner endgültigen Form in Nr. 9/10 des „Listok Rabotnika" (S. 46) veröffentlicht worden ist. Zwischen den „Alten" (den „Dekabristen", wie sie damals im Scherz von den Petersburger Sozialdemokraten genannt wurden) und einigen „Jungen" (die später an der „Rabotschaja Mysl" eng mitarbeiteten) zeigten sich sogleich scharfe Meinungsverschiedenheiten und es entbrannte eine heftige Polemik. Die „Jungen" verteidigten die Hauptgrundsätze des Statuts in der Form, in der es veröffentlicht worden ist. Die „Alten" sagten, dass wir in erster Linie gar nicht das brauchten, sondern die Konsolidierung des „Kampfbundes", seine Entwicklung zu einer Organisation der Revolutionäre, der die verschiedenen Arbeiterkassen, die Propagandazirkel der studierenden Jugend usw. mit untergeordnet sein müssten. Selbstverständlich waren die Streitenden weit entfernt von dem Gedanken, in dieser Meinungsverschiedenheit den Beginn eines Auseinandergehens zu sehen, sie betrachteten sie, im Gegenteil, als vereinzelt und zufällig. Aber diese Tatsache zeigt, dass die Entstehung und Verbreitung des „Ökonomismus" auch in Russland absolut nicht ohne Kampf gegen die „alten" Sozialdemokraten vor sich ging (das vergessen die heutigen Ökonomisten sehr oft). Und wenn dieser Kampf zum größten Teil keine „dokumentarischen" Spuren hinterlassen hat, so ist der einzige Grund hierfür der, dass die Zusammensetzung der tätigen Zirkel unglaublich oft wechselte, eine Kontinuität nicht zustande kam und darum auch die Meinungsverschiedenheiten durch keinerlei Dokumente festgelegt wurden.

Das Entstehen der „Rabotschaja Mysl" brachte den Ökonomismus ans Tageslicht, aber auch nicht auf einmal. Man muss sich die Arbeitsbedingungen und die kurze Lebensdauer der meisten russischen Zirkel konkret vorstehen (konkret vorstellen kann es sich aber nur der, der es selbst erlebt hat), um zu verstehen, wie viel Zufälliges im Erfolg oder Misserfolg der neuen Richtung in den verschiedenen Städten lag und wie lange weder die Anhänger noch die Gegner dieses „Neuen" feststellen konnten, ja buchstäblich keine Möglichkeit hatten, festzustellen, ob es sich tatsächlich um eine besondere Richtung oder nur um den Ausdruck der mangelnden Vorbereitung einzelner Personen handelte. Die ersten hektographierten Nummern der „Rabotschaja Mysl" sind zum Beispiel sogar der übergroßen Mehrheit der Sozialdemokraten gänzlich unbekannt geblieben, und wenn wir uns jetzt auf den Leitartikel der ersten Nummer berufen können1, dann nur dank seinem Abdruck im Artikel von W. I–n („Listok Rabotnika" Nr. 9/10, S. 47 u. f.2), der es natürlich nicht verabsäumt hat, der neuen Zeitung, die sich von den oben von uns erwähnten Zeitungen und Zeitungsprojekten so scharf unterschied, sehr eifrig – mehr eifrig als klug – viel Lob zu spendenE. Bei diesem Leitartikel aber lohnt es sich, zu verweilen, so plastisch ist in ihm der ganze Geist der „Rabotschaja Mysl" und des Ökonomismus überhaupt zum Ausdruck gebracht.

Nach dem Hinweis darauf, dass es der Polizeifaust nicht gelingen würde, die Entwicklung der Arbeiterbewegung aufzuhalten, fährt der Artikel fort: „… Eine solche Lebensfähigkeit verdankt die Arbeiterbewegung dem Umstand, dass der Arbeiter jetzt sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt, nachdem er es den Händen der Führer entrissen hat", und diese Grundthese wird dann weiter eingehend entwickelt. In Wirklichkeit sind die Führer (d. h. die Sozialdemokraten, die Organisatoren des „Kampfbundes") von der Polizei sozusagen den Händen der Arbeiter entrissen wordenF, die Sache wird aber so dargestellt, als hätten die Arbeiter gegen diese Führer einen Kampf geführt und sich von ihrem Joch befreit! Anstatt zum Vorwärtsgehen anzutreiben, zur Festigung der revolutionären Organisation und zur Erweiterung der politischen Tätigkeit, begann man zurück zu rufen, zum ausschließlich trade-unionistischen Kampf.

Es wurde verkündet, dass „die ökonomische Grundlage der Bewegung verdunkelt wird durch das ständige Bestreben, das politische Ideal nie zu vergessen", dass die Losung der Arbeiterbewegung sein müsse „der Kampf um die wirtschaftliche Lage" (!) oder, noch besser, „die Arbeiter für die Arbeiter"; es wurde verkündet, dass die Streikkassen „für die Bewegung wichtiger seien als hundert andere Organisationen" (man vergleiche diese Behauptung, die im Oktober 1897 aufgestellt worden ist, mit dem Streit zwischen den „Dekabristen" und den „Jungen" zu Beginn des Jahres 1897) usw. Aussprüche, wie z. B., dass man in den Vordergrund nicht die „Oberschicht" der Arbeiter stellen müsse, sondern den „Durchschnitts"-Arbeiter, den der Masse angehörenden Arbeiter, dass „die Politik stets gehorsam der Wirtschaft folge"G usw. usw., wurden zur Mode und übten einen unwiderstehlichen Einfluss auf die Masse der der Bewegung zuströmenden Jugend aus, die in den meisten Fällen den Marxismus nur bruchstückweise in seiner legalen Darstellung kannte.

Das bedeutete die vollständige Unterdrückung der Zielbewusstheit durch die Spontaneität – durch die Spontaneität jener „Sozialdemokraten", die die „Ideen" des Herrn W. W. wiederholten, durch die Spontaneität jener Arbeiter, die dem Argument zugänglich waren, dass die Kopeke auf den Rubel näherliegend und wertvoller sei ah aller Sozialismus und alle Politik und dass sie „den Kampf führen müssen im Bewusstsein, dass sie nicht für irgendwelche zukünftige Generation kämpfen, sondern für sich und ihre Kinder" (Leitartikel in Nr. 1 der „Rabotschaja Mysl"). Solche Phrasen waren stets eine beliebte Waffe der westeuropäischen Bourgeois, die, da sie den Sozialismus hassten, selbst damit beschäftigt waren (wie z. B. der deutsche „Sozial-Politiker" Hirsch), den englischen Trade-Unionismus auf den heimatlichen Boden zu verpflanzen, wobei sie die Arbeiter zu überzeugen suchten, dass der nur-gewerkschaftliche KampfH eben der Kampf für ihre eigenen Interessen und die Interessen ihrer Kinder sei, und nicht ein Kampf für irgendwelche zukünftigen Generationen oder irgendeinen zukünftigen Sozialismus, und jetzt haben „die W. W. der russischen Sozialdemokratie" begonnen, diese bürgerlichen Phrasen zu wiederholen. Es ist wichtig, hier auf drei Umstände hinzuweisen, die uns bei der weiteren Analyse der gegenwärtigen Meinungsverschiedenheiten von Nutzen sein werden.I

Erstens ist die Unterdrückung der Zielbewusstheit durch die Spontaneität, auf die wir hingewiesen haben, ebenfalls auf spontanem Wege vor sich gegangen. Das scheint ein Wortspiel zu sein, ist aber leider eine bittere Wahrheit. Sie geschah nicht auf dem Wege des offenen Kampfes zweier vollkommen entgegengesetzter Anschauungen und des Sieges der einen über die andere, sondern auf dem Wege des „Herausreißens" einer immer größeren Zahl „alter" Revolutionäre durch die Gendarmen und des immer stärkeren Hervortretens der „jungen" „W. W.s der russischen Sozialdemokratie". Jeder, der an der gegenwärtigen russischen Bewegung – ich will nicht einmal sagen – teilgenommen, sondern der auch nur ihre Luft geatmet hat, weiß sehr gut, dass es sich so und nicht anders verhält. Und wenn wir trotzdem besonders darauf bestehen, dass der Leser sich über diese allgemein bekannte Tatsache vollkommen klar wird, wenn wir uns der Anschaulichkeit halber auf Material aus dem „Rabotscheje Djelo" erster Fassung und auf die Meinungsverschiedenheiten zwischen den „Alten" und den „Jungen" zu Beginn des Jahres 1897 berufen, so tun wir es, weil Leute, die mit ihrem „Demokratismus" protzen, darauf spekulieren, dass das breite Publikum (oder die ganz junge Generation) diese Tatsache nicht kennt. Wir werden noch weiter unten darauf zurückkommen.

Zweitens können wir schon bei der ersten literarischen Äußerung des Ökonomismus die im höchsten Grade eigenartige und für das Verständnis aller Meinungsverschiedenheiten innerhalb der modernen Sozialdemokratie äußerst charakteristische Erscheinung beobachten, dass die Anhänger der „reinen Arbeiterbewegung", die Verfechter der engsten und „organischsten" (Ausdruck des „Rabotscheje Djelo") Verbindung mit dem proletarischen Kampf, die Gegner jeder nicht-proletarischen Intelligenz (selbst wenn es sich um die sozialistische Intelligenz handelt) gezwungen sind, zur Verteidigung ihrer Position zu den Argumenten der bürgerlichen „Nur-Gewerkschaftler" Zuflucht zu nehmen. Das zeigt uns, dass die „Rabotschaja Mysl" seit Beginn ihres Bestehens – ohne sich selber dessen bewusst zu sein – das Programm des „Credo" verwirklicht. Das beweist (was das „Rabotscheje Djelo" absolut nicht begreifen kann, dass jede Anbetung der Spontaneität der Arbeiterbewegung, jede Herabsetzung der Rolle des „bewussten Elementes", der Rolle der Sozialdemokratie, gleichzeitig – ganz unabhängig davon, ob, wer diese Rolle herabsetzt, es wünscht oder nicht die Stärkung des Einflusses der bürgerlichen Ideologie auf die Arbeiter bedeutet. Jeder, der von der „Überschätzung der Ideologie"J, von der Übertreibung der Rolle des bewussten ElementesK usw. spricht, glaubt, die reine Arbeiterbewegung könne und werde aus eigenen Kräften eine selbständige Ideologie herausarbeiten, sobald es den Arbeitern gelingt, „ihr Schicksal den Händen ihrer Führer zu entreißen". Aber das ist ein großer Irrtum. In Ergänzung des oben Gesagten wollen wir noch folgende, sehr treffenden und bedeutungsvollen Worte K. Kautskys über den Entwurf zu einem neuen Programm der österreichischen Sozialdemokratischen Partei anführenL:

Manche unserer revisionistischen Kritiker nehmen an, Marx hätte behauptet, die ökonomische Entwicklung und der Klassenkampf schüfen nicht bloß die Vorbedingungen sozialistischer Produktion, sondern auch direkt die Erkenntnis (von K. K. gesp.) ihrer Notwendigkeit, und da sind die Kritiker gleich fertig mit dem Einwand, dass das Land der höchsten kapitalistischen Entwicklung, England, von allen modernen Ländern am freiesten von dieser Erkenntnis sei.

Nach der neuen Fassung könnte man annehmen, dass auch die österreichische Programm-Kommission den auf diese Weise widerlegten angeblich ,orthodox-marxistischen' Standpunkt teile. Denn es heißt da: ,Je mehr die Entwicklung des Kapitalismus das Proletariat anschwellen macht, desto mehr wird es gezwungen und befähigt, den Kampf gegen ihn aufzunehmen. Es kommt zum Bewusstsein' der Möglichkeit und Notwendigkeit des Sozialismus usw.

In diesem Zusammenhang erscheint das sozialistische Bewusstsein als das notwendige direkte Ergebnis des proletarischen Klassenkampfes. Das ist aber falsch. Der Sozialismus als Lehre wurzelt allerdings ebenso in den heutigen ökonomischen Verhältnissen, wie der Klassenkampf des Proletariats, entspringt ebenso wie dieser aus dem Kampfe gegen die Massenarmut und das Massenelend, das der Kapitalismus erzeugt; aber beide entstehen nebeneinander, nicht auseinander, und unter verschiedenen Voraussetzungen. Das moderne sozialistische Bewusstsein kann nur erstehen auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht. In der Tat bildet die heutige ökonomische Wissenschaft ebenso eine Vorbedingung sozialistischer Produktion, wie etwa die heutige Technik, nur kann das Proletariat beim besten Willen die eine ebenso wenig schaffen wie die andere; sie entstehen beide aus dem heutigen gesellschaftlichen Prozess. Der Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz (von K. K. gesperrt); in einzelnen Mitgliedern dieser Schicht ist denn auch der moderne Sozialismus entstanden und durch sie erst geistig hervorragenden Proletariern mitgeteilt worden, die ihn dann in den Klassenkampf des Proletariats hinein tragen, wo die Verhältnisse es gestatten. Das sozialistische Bewusstsein ist also etwas in den Klassenkampf des Proletariats Hineingetragenes, nicht etwas aus ihm urwüchsig Entstandenes.

Dementsprechend sagt auch das alte Hainfelder Programm ganz richtig, dass es zu den Aufgaben der Sozialdemokratie gehöre, das Proletariat mit dem Bewusstsein (von K. K. gesperrt) seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen. Das wäre nicht notwendig, wenn dies Bewusstsein von selbst aus dem Klassenkampf entspränge. Die neue Fassung hat diesen Satz von dem alten Programm übernommen und dem eben besprochenen angehängt. Dadurch ist aber der Gedankengang völlig zerrissen worden…"

Wenn von der selbständigen, durch die Arbeitermassen selber im Verlaufe der Bewegung ausgearbeiteten Ideologie keine Rede sein kannM, so kann die Frage nur so stehen: bürgerliche oder sozialistische Ideologie. Ein Mittelding gibt es hier nicht (denn eine „dritte" Ideologie hat die Menschheit nicht ausgearbeitet, wie es überhaupt in der Gesellschaft, die von Klassengegensätzen zerrissen wird, keine außerhalb oder über den Klassen stehende Ideologie geben kann). Darum bedeutet jede Herabsetzung der sozialistischen Ideologie, jedes Sichentfernen von ihr gleichzeitig eine Stärkung der bürgerlichen Ideologie. Man spricht von Spontaneität. Aber die spontane Entwicklung der Arbeiterbewegung führt eben zu ihrer Unterordnung unter die bürgerliche Ideologie, sie verläuft eben nach dem Programm des „Credo", denn die spontane Arbeiterbewegung ist Trade-Unionismus, ist Nur-Gewerkschaftlerei, der Trade-Unionismus aber bedeutet eben gerade die ideologische Versklavung der Arbeiter durch die Bourgeoisie. Darum besteht unsere Aufgabe, die Aufgabe der Sozialdemokratie, in dem Kampf gegen die Spontaneität, sie besteht darin, die Arbeiterbewegung von dem spontanen Streben des Trade-Unionismus, sich unter die Fittiche der Bourgeoisie zu begeben, abzubringen und sie für die revolutionäre Sozialdemokratie zu gewinnen. Die Behauptung der Verfasser des „ökonomistischen" Briefes in Nummer 12 der „Iskra", dass keine noch so große Anstrengung von Seiten der begeisterten Ideologen die Arbeiterbewegung vom Weg abbringen könne, der durch die Wechselwirkung der materiellen Elemente und der materiellen Umgebung bestimmt werde, ist daher vollkommen gleichbedeutend mit dem Verzicht auf den Sozialismus, und wenn diese Verfasser fähig wären, das, was sie sagen, unerschrocken und konsequent bis zu Ende zu durchdenken, wie jeder seine Gedanken durchdenken muss, der die Arena der literarischen und öffentlichen Tätigkeit betritt, so würde ihnen nichts anderes übrig bleiben, als „auf der leeren Brust die untätigen Hände zu falten" und … und den Herren Struve und Prokopowitsch das Feld zu überlassen, die die Arbeiterbewegung den Weg des geringsten Widerstandes, d. h. den Weg des bürgerlichen Trade-Unionismus führen, oder den Herren Subatow, die sie auf den Weg der Popen- und Gendarmen-„Ideologie" ziehen.

Man denke an das Beispiel Deutschlands. Worin bestand das historische Verdienst Lassalles vor der deutschen Arbeiterbewegung? Darin, dass er diese Bewegung vom Weg des fortschrittlerischen Trade-Unionismus und Kooperativismus ablenkte, den sie spontan (unter gütiger Mitwirkung der Schulze-Delitzsch und ihnen ähnlicher) eingeschlagen hatte. Um diese Aufgabe zu erfüllen, war etwas ganz anderes notwendig als das Gerede von der Unterschätzung des spontanen Elementes, von der Taktik als Prozess, von der Wechselwirkung der Elemente und der Umgebung usw. Dazu war ein verzweifelter Kampf gegen die Spontaneität notwendig, und erst als Ergebnis dieses lange, lange Jahre geführten Kampfes ist z. B. erreicht worden, dass die Arbeiterbevölkerung Berlins aus einer Stütze der Fortschrittspartei zu einer der stärksten Hochburgen der Sozialdemokratie geworden ist. Und dieser Kampf ist auch heute noch nicht zu Ende (wie es Leuten erscheinen könnte, die die Geschichte der deutschen Bewegung nach Prokopowitsch3, und ihre Philosophie nach Struve4 studieren). Auch jetzt noch ist die deutsche Arbeiterklasse, wenn man so sagen kann, in mehrere Ideologien zersplittert: ein Teil der Arbeiter ist in den katholischen und den monarchistischen Arbeiterverbänden vereinigt, ein anderer Teil – in den Hirsch-Dunckerschen, die von den bürgerlichen Anhängern des englischen Trade-Unionismus gegründet worden sind, der dritte Teil – in sozialdemokratischen Verbänden. Dieser letzte Teil ist unermesslich viel größer als alle übrigen, eine solche Vorherrschaft aber konnte die sozialdemokratische Ideologie nur erreichen und wird sie nur aufrechterhalten können durch den unbeirrbaren Kampf gegen alle anderen Ideologien.

Warum aber – wird der Leser fragen – führt die spontane Bewegung, die Bewegung in der Richtung des geringsten Widerstandes, zur Herrschaft der bürgerlichen Ideologie? Aus dem einfachen Grunde, weil die bürgerliche Ideologie ihrer Herkunft nach viel älter ist als die sozialistische, weil sie vielseitiger ausgebaut ist, weil sie über unvergleichlich mehr Mittel der Verbreitung verfügt.N Und je jünger die sozialistische Bewegung in einem Lande ist, um so energischer muss darum der Kampf gegen alle Versuche, die nicht-sozialistische Ideologie zu festigen, geführt werden, um so entschlossener müssen die Arbeiter gewarnt werden vor den schlechten Beratern, die gegen die „Überschätzung des bewussten Elementes" usw. zetern. Die Verfasser des ökonomistischen Briefes wettern im Chor mit dem „Rabotscheje Djelo" gegen die der Kindheitsperiode der Bewegung eigene Intransigenz. Wir antworten darauf: ja, unsere Bewegung befindet sich tatsächlich im Kindesalter, und um rasch zu wachsen, muss sie in ihrem Verhältnis zu Leuten, die ihr Wachstum durch die Anbetung der Spontaneität aufzuhalten suchen, absolut intransigent sein. Es gibt nichts Lächerlicheres und Schädlicheres, als die Rolle von alten Leuten zu spielen, die bereits alle entscheidenden Episoden des Kampfes längst hinter sich haben!

Drittens zeigt die erste Nummer der „Rabotschaja Mysl", dass die Bezeichnung „Ökonomismus" (auf die wir natürlich nicht verzichten wollen, da dieses Wort sich bereits eingebürgert hat) das Wesen der neuen Richtung nicht genügend genau bezeichnet. Die „Rabotschaja Mysl" lehnt den politischen Kampf nicht ganz ab: in dem Kassenstatut, das in Nr. 1 der „Rabotschaja Mysl" veröffentlicht ist, ist vom Kampf gegen die Regierung die Rede. Die „Rabotschaja Mysl" ist nur der Ansicht, dass „die Politik immer gehorsam der Wirtschaft folge" (das „Rabotscheje Djelo" aber variiert diese These, indem es in seinem Programm versichert, „in Russland sei der ökonomische Kampf mehr als in irgendeinem anderen Lande untrennbar verbunden mit dem politischen"). Diese Behauptungen der „Rabotschaja Mysl" und des „Rabotscheje Djelo" sind vollkommen falsch, wenn man unter Politik die sozialdemokratische Politik versteht. Sehr oft ist der wirtschaftliche Kampf der Arbeiter mit der bürgerlichen, klerikalen usw. Politik (wenn auch nicht untrennbar) verbunden, wie wir bereits gesehen haben. Die Behauptungen des „Rabotscheje Djelo" sind richtig, wenn man unter Politik die trade-unionistische Politik versteht, d. h. das allgemeine Bestreben aller Arbeiter, diese oder jene Maßnahmen vom Staat zu erreichen, die den ihrer Lage eigentümlichen Nöten abhelfen sollen, aber diese Lage noch nicht beseitigen, d. h. die Unterordnung der Arbeit unter das Kapital nicht aufheben. Dieses Bestreben ist tatsächlich sowohl den englischen Trade-Unionisten, die dem Sozialismus feindlich gegenüberstehen, als auch den katholischen Arbeitern, den „Subatow"-Arbeiter usw., gemein. Es gibt Politik und Politik. So sehen wir, dass die „Rabotschaja Mysl" auch in Bezug auf den politischen Kampf nicht so sehr die Ablehnung dieses Kampfes zum Ausdruck bringt als die Anbetung seiner Spontaneität, seiner Unbewusstheit. Den aus der Arbeiterbewegung selber elementar entstehenden politischen Kampf (richtiger: die politischen Wünsche und Forderungen der Arbeiter) vollkommen anerkennend, verzichtet die „Rabotschaja Mysl" auf das selbständige Herausarbeiten einer spezifischen sozialdemokratischen Politik, die den allgemeinen Aufgaben des Sozialismus und den gegenwärtigen russischen Verhältnissen entspricht. Weiter unten werden wir zeigen, dass das „Rabotscheje Djelo" den gleichen Fehler begeht.

c) Die „Gruppe der Selbstbefreiung" und das „Rabotscheje Djelo"

Wir sind so ausführlich auf den wenig bekannten und jetzt fast vergessenen Leitartikel der ersten Nummer der „Rabotschaja Mysl" eingegangen, weil er früher und plastischer als alle anderen die allgemeine Strömung zum Ausdruck brachte, die später in zahllosen kleinen Strömungen ans Tageslicht trat. W. I–n hatte vollkommen recht, als er, der ersten Nummer und dem Leitartikel der „Rabotschaja Mysl" Lob spendend, sagte, er sei „scharf und herausfordernd" geschrieben („Listok Rabotnika" Nr. 9/10, S. 49). Jeder von seiner Meinung überzeugte Mensch, der glaubt, dass er etwas Neues gibt, schreibt „herausfordernd" und schreibt so, dass er seine Ansichten klar zum Ausdruck bringt. Nur Leute, die gewohnt sind, zwischen zwei Stühlen zu sitzen, haben keinen „herausfordernden" Ton, nur solche Leute sind fähig, nachdem sie gestern den herausfordernden Ton der „Rabotschaja Mysl" gelobt haben, heute über deren Gegner ihres „polemisch herausfordernden" Tones wegen herzufallen.

Ohne auf die „Sonderbeilage zur ,Rabotschaja Mysl'" näher einzugehen (wir werden weiter unten aus verschiedenen Anlässen gezwungen sein, uns auf diese Schrift zu berufen, die die Ideen der Ökonomisten am konsequentesten zum Ausdruck bringt), wollen wir nur kurz auf den „Aufruf der Gruppe der Selbstbefreiung der Arbeiter" hinweisen (März 1899, abgedruckt im Londoner „Nakanunje" Nr. 7, Juni 1899). Die Verfasser dieses Aufrufes sagen sehr richtig, dass „das arbeitende Russland eben erst zum Leben erwacht, eben erst beginnt, sich umzuschauen, und instinktiv nach den ersten besten Kampfmitteln greift", aber sie ziehen daraus dieselbe falsche Schlussfolgerung, wie die „Rabotschaja Mysl", denn sie vergessen, dass das Instinktive eben das Unbewusste (das Spontane) ist, dem die Sozialisten zu Hilfe kommen müssen, dass die „ersten besten" Kampfmittel in der modernen Gesellschaft stets die trade-unionistischen Kampfmittel sein werden, die „erste beste" Ideologie aber – die bürgerliche (trade-unionistische) Ideologie. Ebenso wird von diesen Verfassern auch die Politik nicht „abgelehnt", sie sagen nur (nur!), ebenso wie Herr W. W., dass die Politik ein Überbau sei und dass darum „die politische Agitation ein Überbau über der Agitation zugunsten des ökonomischen Kampfes sein müsse, dass sie sich auf dem Boden dieses Kampfes zu entwickeln und ihm zu folgen habe".

Was das „Rabotscheje Djelo" betrifft, so hat es seine Tätigkeit direkt begonnen mit der „Verteidigung" der Ökonomisten. Nachdem es in seiner ersten Nummer (Nr. 1, S. 141 u. 1425) die direkte Unwahrheit behauptete, dass es nicht wisse, „von welchen jungen Genossen Axelrod gesprochen habe", als er in seiner bekannten BroschüreO die Ökonomisten warnte, musste das „Rabotscheje Djelo" in der aus Anlass dieser Unwahrheit entbrannten Polemik mit Axelrod und Plechanow zugeben, dass es „durch sein Staunen alle jüngeren ausländischen Sozialdemokraten gegen diese ungerechte Beschuldigung in Schutz nehmen wollte" (die von Axelrod gegen die Ökonomisten erhobene Beschuldigung der Engherzigkeit). In Wirklichkeit war dieser Vorwurf vollkommen berechtigt und das „Rabotscheje Djelo" wusste sehr gut, dass er sich unter anderem auch gegen sein Redaktionsmitglied W. I–n richtete. Nebenbei sei bemerkt, dass in dieser Polemik Axelrod in der Auslegung meiner Broschüre: „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten" vollkommen recht hatte und „Rabotscheje Djelo" vollkommen unrecht. Diese Broschüre ist im Jahre 1897, noch vor Erscheinen der „Rabotschaja Mysl", geschrieben worden, als ich der Ansicht war und das Recht hatte, der Ansicht zu sein, dass die von mir oben charakterisierte ursprüngliche Richtung des Petersburger Kampfbundes die vorherrschende sei. Und mindestens bis Mitte 1898 war diese Richtung tatsächlich die vorherrschende6. Darum hatte das „Rabotscheje Djelo" nicht das geringste Recht, als es das Bestehen und die Gefährlichkeit des Ökonomismus widerlegen wollte, sich auf die Broschüre zu berufen, in der Ansichten vertreten wurden, die in Petersburg in den Jahren 1897 und 1898 durch die „ökonomistischen" Ansichten verdrängt worden sindP.

Aber „Rabotscheje Djelo" hat die Ökonomisten nicht nur „verteidigt", sondern ist auch selber in die gleichen grundlegenden Irrtümer verfallen. Die Ursache hierfür ist zu suchen in der doppelsinnigen Auffassung von folgender These des Programms des „Rabotscheje Djelo": „Die wichtigste Erscheinung des russischen Lebens, die die Aufgaben (von uns gesperrt) und den Charakter der literarischen Tätigkeit des Kampfbundes in erster Linie bestimmen wird, ist unseres Erachtens die in den letzten Jahren entstandene Massenbewegung der Arbeiter (gesperrt vom „Rabotscheje Djelo"). Dass die Massenbewegung eine höchst wichtige Erscheinung ist, darüber kann kein Zweifel bestehen. Aber die ganze Frage ist hier, wie die „Bestimmung der Aufgaben" durch diese Massenbewegung aufzufassen ist. Das kann in zweierlei Weise verstanden werden: entweder im Sinne der Anbetung der Spontaneität dieser Bewegung, d. h. der Reduzierung der Rolle der Sozialdemokratie auf die einer einfachen Dienerin der Arbeiterbewegung als solcher (Auffassung der „Rabotschaja Mysl", der „Gruppe der Selbstbefreiung" und der übrigen Ökonomisten); oder in dem Sinne, dass die Massenbewegung uns vor neue theoretische, politische, organisatorische Aufgaben stellt, die viel komplizierter sind als diejenigen, mit denen man sich in der Periode vor der Entstehung der Massenbewegung begnügen konnte. „Rabotscheje Djelo" neigte und neigt zu der ersten Auffassung, denn es hat nichts Bestimmtes von irgendwelchen neuen Aufgaben gesagt, sondern immer nur so gesprochen, als würde uns diese „Massenbewegung" von der Notwendigkeit befreien, die durch sie gestellten Aufgaben klar zu erkennen und zu lösen. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass das „Rabotscheje Djelo" es für unmöglich hielt, als erste Aufgabe der Massenbewegung der Arbeiter den Sturz des Absolutismus anzuerkennen, diese Aufgabe degradierte es (im Namen der Massenbewegung) zu einer Aufgabe des Kampfes für die nächsten politischen Forderungen ( Antwort" S. 25).

Ohne beim Artikel des Redakteurs des „Rabotscheje Djelo", B. Kritschewski, in Nr. 7 – „Der wirtschaftliche und der politische Kampf in der russischen Bewegung" –, einem Artikel, der dieselben Fehler wiederholtQ, zu verweilen, wollen wir direkt zu Nr. 10 des „Rabotscheje Djelo" übergehen. Wir wollen natürlich nicht auf die Analyse der einzelnen Einwände B. Kritschewskis und Martynows gegen die „Sarja" und die „Iskra" eingehen. Uns interessiert hier nur die prinzipielle Position, die das „Rabotscheje Djelo" in Nr. 10 eingenommen hat. Wir wollen uns z. B. nicht mit dem Kuriosum befassen, dass das „Rabotscheje Djelo" einen „diametralen Gegensatz" gefunden hat zwischen dem Satz:

Die Sozialdemokratie bindet sich nicht die Hände, lässt ihre Tätigkeit nicht durch irgendeinen von vornherein festgelegten Plan oder eine von vornherein festgelegte Methode des politischen Kampfes beschränken, sie erkennt alle Mittel des Kampfes an, wenn sie nur den vorhandenen Kräften der Partei entsprechen" usw. (Nr. 1 der „Iskra"),

und dem Satz:

Wenn keine straffe, im politischen Kampf unter allen Verhältnissen und in allen Perioden erprobte Organisation vorhanden ist, dann kann auch keine Rede sein von jenem systematischen, durch feste Prinzipien beleuchteten und unbeirrt durchgeführten Tätigkeitsplan, der einzig und allein die Bezeichnung Taktik verdient" (Nr. 4 der „Iskra").

Die prinzipielle Anerkennung aller Kampfmittel, aller Pläne und Methoden, wenn sie nur zweckmäßig sind, verwechseln mit der Forderung, sich im gegebenen politischen Moment von einem unbeirrt durchgeführten Plan leiten zu lassen, wenn man von Taktik sprechen will, – das würde ungefähr das gleiche bedeuten, als wollte man die Anerkennung verschiedener Heilmethoden durch die Medizin verwechseln mit der Forderung, sich bei der Heilung einer bestimmten Krankheit an ein bestimmtes System zu halten. Aber das ist es eben, „Rabotscheje Djelo", das selber an der Krankheit leidet, die wir die Anbetung der Spontaneität genannt haben, will kein einziges „Heilsystem" für diese Krankheit anerkennen. Es hat darum die bemerkenswerte Entdeckung gemacht, dass die „Taktik als Plan" dem grundlegenden Geiste des Marxismus widerspreche (Nr. 10, S. 18), dass die Taktik „der Prozess des Wachstums der Parteiaufgaben, die zusammen mit der Partei wachsen", sei (S. 11, gesperrt vom „Rabotscheje Djelo"). Dieser letzte Ausspruch hat alle Aussichten, ein berühmter Ausspruch, ein unzerstörbares Denkmal der „Richtung" des „Rabotscheje Djelo" zu werden. Auf die Frage: „Wohin gehen?" gibt das führende Organ die Antwort: die Bewegung ist der Prozess der Änderung des Abstandes zwischen dem Ausgangspunkt und den folgenden Bewegungspunkten. Dieser unvergleichliche Scharfsinn ist aber nicht nur ein Kuriosum (dann würde es sich nicht lohnen, besonders darauf einzugehen), sondern auch das Programm einer ganzen Richtung, und zwar dasselbe Programm, das R. M. (in der „Sonderbeilage zur Rabotschaja Mysl") mit folgenden Worten zum Ausdruck brachte: wünschenswert ist der Kampf, der möglich ist, und möglich ist der Kampf, der im gegebenen Moment vor sich geht. Das ist gerade die Richtung des grenzenlosen Opportunismus, der sich der Spontaneität passiv anpasst.

Die ,Taktik als Plan' widerspricht dem grundlegenden Geiste des Marxismus!" Das ist doch eine Verleumdung des Marxismus, seine Verwandlung in eine ebensolche Karikatur, wie die Volkstümler sie uns entgegenstellten in dem Kampf, den sie gegen uns führten. Das ist eine Degradierung der Initiative und der Energie der zielbewussten Führer, während der Marxismus, im Gegenteil, der Initiative und der Energie des Sozialdemokraten einen gewaltigen Anstoß gibt, ihm die weitesten Perspektiven eröffnet, ihm die machtvollen Kräfte von Millionen und aber Millionen „spontan" zum Kampf erwachter Arbeiter (wenn man so sagen kann) zur Verfügung stellt! Die ganze Geschichte der internationalen Sozialdemokratie ist voll von Plänen, die bald von einem, bald von einem anderen politischen Führer entworfen und die Weitsichtigkeit und Richtigkeit der politischen und organisatorischen Ansichten des einen, die Kurzsichtigkeit und die politischen Fehler des anderen aufzeigten. Als in Deutschland ein so gewaltiger historischer Umschwung sich vollzog, wie die Gründung des Reiches, die Eröffnung des Reichstages, die Einführung des allgemeinen Wahlrechtes, – da besaß Liebknecht einen Plan der sozialdemokratischen Politik und der Arbeit überhaupt, Schweitzer hatte einen anderen. Als gegen die deutschen Sozialisten das Ausnahmegesetz erlassen wurde, da hatten Most und Hasselmann, die einfach zu Gewalttaten und zum Terror aufrufen wollten, einen Plan, einen anderen hatten Höchberg, Schramm und (zum Teil) Bernstein, die den Sozialdemokraten zu predigen begannen, dass sie durch ihre unvernünftige Schärfe und ihren Radikalismus das Gesetz hervorgerufen hätten und sich darum jetzt durch musterhaftes Verhalten Verzeihung verdienen müssten; einen dritten Plan hatten jene, die das Erscheinen eines illegalen Organs vorbereiteten und durchführten. Wenn man viele Jahre nach Beendigung des Kampfes um die Wahl des Weges und nachdem die Geschichte über die Tauglichkeit des gewählten Weges ihr letztes Urteil gefällt hat, zurückblickt, ist es natürlich nicht schwer, scharfsinnige Aussprüche zu tun über das Wachstum der Parteiaufgaben, die zusammen mit der Partei wachsen. Aber im Moment der VerwirrungR, wo die russischen Kritiker'' und Ökonomisten die Sozialdemokratie zum Trade-Unionismus degradieren wollen, die Terroristen aber mit großem Eifer den „Plan einer Taktik" verfechten, der die alten Fehler wiederholt, in diesem Moment sich auf einen solchen Scharfsinn beschränken, heißt – sich ein „Armutszeugnis" ausstellen. In einem Augenblick, wo für viele russische Sozialdemokraten eben gerade der Mangel an Initiative und Energie, der Mangel „an einer genügend umfassenden politischen Propaganda, Agitation und Organisation"S, der Mangel an „Plänen" für eine weitverzweigte revolutionäre Arbeit charakteristisch ist, in einem solchen Moment sagen: die „Taktik als Plan" widerspricht dem grundlegenden Geiste des Marxismus, heißt nicht nur theoretisch den Marxismus verflachen, sondern auch praktisch die Partei zurück zerren.

Der revolutionäre Sozialdemokrat hat die Aufgabe“ – belehrt uns weiter „Rabotscheje Djelo" –, „durch seine zielbewusste Arbeit die objektive Entwicklung nur zu beschleunigen, nicht aber sie aufzuheben oder durch subjektive Pläne zu ersetzen. In der Theorie weiß die ,Iskra' das alles. Aber die ungeheure Bedeutung, die der Marxismus der zielbewussten revolutionären Arbeit mit Recht gibt, verführt sie, infolge ihrer doktrinären Ansicht über die Taktik, in der Praxis dazu, die Bedeutung des objektiven oder spontanen Elementes der Entwicklung zu unterschätzen." (S. 18.)

Wiederum eine gewaltige theoretische Verwirrung, die des Herrn W. W. und Konsorten würdig ist. Wir möchten unseren Philosophen fragen: worin kann die „Unterschätzung" der objektiven Entwicklung durch den Verfasser subjektiver Pläne zum Ausdruck kommen? Offenbar darin, dass er außer Acht lässt, dass diese objektive Entwicklung bestimmte Klassen, Schichten, Gruppen, bestimmte Nationen, Nationengruppen usw. schafft oder festigt, schwächt oder zugrunde richtet, wodurch diese oder jene internationale und politische Kräftegruppierung, diese oder jene Position der revolutionären Parteien usw. bedingt wird. Aber die Schuld eines solchen Verfassers wird dann nicht in der Unterschätzung des spontanen Elementes, sondern, im Gegenteil, in der Unterschätzung des bewussten Elementes bestehen, denn seine Erkenntnisfähigkeit wird für das richtige Verstehen der objektiven Entwicklung nicht ausreichen. Darum zeigt schon allein das Gerede von der „Beurteilung der relativen (gesperrt vom ,Rabotscheje Djelo') Bedeutung" der Spontaneität und der Zielbewusstheit den absoluten Mangel an „Zielbewusstheit". Wenn gewisse „spontane Elemente der Entwicklung" dem menschlichen Bewusstsein überhaupt zugänglich sind, so wird ihre falsche Beurteilung gleichbedeutend sein mit einer „Unterschätzung des bewussten Elementes". Wenn sie aber dem Bewusstsein nicht zugänglich sind, so kennen wir sie nicht und können von ihnen nicht sprechen. Wovon redet also B. Kritschewski? Wenn er die „subjektiven Pläne" der „Iskra" für irrig hält (und er erklärt sie eben für irrig), so müsste er nachweisen, welche objektiven Tatsachen es sind, die diese Pläne ignorieren, und der „Iskra" wegen dieser Ignorierung Mangel an Zielbewusstheit, „Unterschätzung des bewussten Elementes" (um mit seinen eigenen Worten zu sprechen) vorwerfen. Wenn er jedoch, mit den subjektiven Plänen unzufrieden, keine anderen Argumente hat, als nur den Hinweis auf die „Unterschätzung des spontanen Elementes" (!!), so beweist er damit nur, dass er erstens den Marxismus theoretisch versteht à la Karejew und Michailowski, die von Beltow genügend verspottet worden sind, und zweitens praktisch vollkommen zufrieden ist mit jenen „spontanen Elementen der Entwicklung", die unsere legalen Marxisten in das Bernsteinianertum und unsere Sozialdemokraten in den Ökonomismus hineingezogen haben, und dass er sehr böse ist auf die Leute, die sich entschlossen haben, die russische Sozialdemokratie um jeden Preis vom Weg der „spontanen" Entwicklung abzubringen.

Weiter kommen dann schon gar lustige Dinge. „Ebenso, wie die Menschen, trotz aller Fortschritte der Naturwissenschaften, sich in derselben Weise vermehren werden, wie es die Großväter taten, wird die Entstehung einer neuen Gesellschaftsordnung, trotz aller Fortschritte der Sozialwissenschaften und trotz des Heranwachsens zielbewusster Kämpfer, auch fernerhin das Resultat vorwiegend spontaner Ausbrüche sein" (S. 19). Ebenso wie die altgroßväterliche Weisheit lautet: wem fehlt es an Verstand, um Kinder zu haben? – lautet die Weisheit der „neuesten" Sozialisten (à la Narziss Tuporylow7): um an der spontanen Entstehung der neuen Gesellschaftsordnung teilzunehmen, wird es niemanden an Verstand mangeln. Auch wir meinen, dass es niemanden daran mangeln wird. Für eine solche Teilnahme genügt es, sich dem Ökonomismus zu unterwerfen – wenn der Ökonomismus herrscht, dem Terrorismus – wenn der Terrorismus entstanden ist. So stand „Rabotscheje Djelo" im Frühjahr dieses Jahres, als es so wichtig war, zu warnen vor der Begeisterung für den Terror, unentschlossen vor der für sie „neuen" Frage. Jetzt aber, ein halbes Jahr später, wo die Frage aufgehört hat, aktuell zu sein, tischt uns die Zeitung gleichzeitig sowohl die Behauptung auf: „Wir denken, dass es nicht Aufgabe der Sozialdemokratie sein kann und sein darf, dem Aufschwung der terroristischen Stimmungen entgegenzuwirken" („Rabotscheje Djelo" Nr. 10, S. 23), als auch die Konferenzresolution: „Einen systematischen offensiven Terror hält die Konferenz für unzeitgemäß" („Zwei Konferenzen", S. 18). Wie wunderbar klar und konsequent ist das! Wir wollen nicht entgegenwirken, aber wir erklären für unzeitgemäß, und zwar erklären wir das so, dass der unsystematische und defensive Terror von der „Resolution" nicht erfasst wird. Es muss zugegeben werden, dass eine solche Resolution sehr ungefährlich und vor Fehlern gesichert ist – wie ein Mensch vor Fehlern sicher ist, der gesprochen hat, um nichts zu sagen! Und um eine solche Resolution zu verfassen, ist nur eins notwendig: im Schwanze der Bewegung zu trotten. Wenn die „Iskra" sich darüber lustig machte, dass „Rabotscheje Djelo" die Terrorfrage für eine neue Frage erklärt hat, so hat „Rabotscheje Djelo" ärgerlich die „Iskra" des „direkt unglaublichen Anspruches" beschuldigt, „der Parteiorganisation die Lösung der taktischen Fragen aufzuzwingen, die vor über fünfzehn Jahren von einer Gruppe in der Emigration lebender Schriftsteller gegeben wurde" (S. 24). In der Tat, wie anspruchsvoll und welche Überschätzung des bewussten Elementes: Fragen vorher theoretisch zu lösen, um dann von der Richtigkeit dieser Lösung sowohl die Organisation als auch die Partei und die Masse überzeugen zu wollenT! Viel einfacher ist es, das Gelernte zu wiederholen und, ohne irgend jemanden etwas „aufzuzwingen", sich jeder „Schwenkung", sowohl zum Ökonomismus als auch zum Terrorismus, unterzuordnen. „Rabotscheje Djelo" verallgemeinert sogar dieses große Vermächtnis der Lebensweisheit, indem es die „Iskra" und die „Sarja" beschuldigt, „der Bewegung ihr Programm als Geist, der über dem formlosen Chaos schwebt, entgegengestellt zu haben" (S. 29). Worin besteht denn die Rolle der Sozialdemokratie, wenn nicht darin, ein „Geist" zu sein, der nicht nur über der spontanen Bewegung schwebt, sondern der außerdem diese Bewegung auf die Höhe „seines Programms" emporhebt? Ihre Rolle besteht doch nicht darin, im Schwanze der Bewegung einher zu trotten: im besten Falle wäre das für die Bewegung nutzlos, im schlimmsten Falle – sehr schädlich. „Rabotscheje Djelo" aber folgt nicht nur dieser „Taktik als Prozess", sondern es erhebt sie zum Prinzip, so dass es richtiger wäre, ihre Richtung nicht mit Opportunismus, sondern mit Chwostismus (vom Wort „cwost8) zu bezeichnen. Und es muss zugegeben werden, dass Leute, die beschlossen haben, immer hinter der Bewegung als ihr Schwanz einher zu trotten, vor der „Unterschätzung des spontanen Elementes der Entwicklung" stets und absolut gesichert sein werden.

Wir haben uns also davon überzeugt, dass der grundlegende Fehler der „neuen Richtung" in der russischen Sozialdemokratie in der Anbetung der Spontaneität besteht, im Nichtbegreifen der Tatsache, dass die Spontaneität der Masse von uns Sozialdemokraten ein großes Maß an Zielbewusstheit erfordert. Je stärker die spontane Erhebung der Massen ist, um so breiter wird die Bewegung sein und um so mehr Zielbewusstheit erfordert sowohl die theoretische als auch die politische und die organisatorische Arbeit der Sozialdemokratie.

Die spontane Erhebung der Massen in Russland ist mit einer solchen Geschwindigkeit vor sich gegangen (und geht auch jetzt noch so rasch vor sich), dass die sozialdemokratische Jugend sich als unvorbereitet für die Erfüllung ihrer gewaltigen Aufgaben erwiesen hat. Diese mangelnde Vorbereitung ist unser allgemeines Übel, das Übel aller russischen Sozialdemokraten. Der Aufschwung der Massen ist unaufhörlich und stetig vorwärts und in die Breite gegangen, er hat nicht nur nicht dort aufgehört, wo er begonnen hat, sondern immer neue Ortschaften und neue Bevölkerungsschichten erfasst (unter dem Einfluss der Arbeiterbewegung ist die Gärung in der studierenden Jugend, in der Intelligenz im Allgemeinen, und sogar in der Bauernschaft sehr lebhaft geworden). Die Revolutionäre aber sind hinter diesem Aufschwung zurückgeblieben, und weder in ihren „Theorien" noch in ihrer Tätigkeit ist es ihnen gelungen, eine stetige und kontinuierliche Organisation zu schaffen, die fähig wäre, die ganze Bewegung zu leiten.

Im ersten Kapitel haben wir die Degradierung unserer theoretischen Aufgaben und die „spontane" Wiederholung der zur Mode gewordenen Parole der „Freiheit der Kritik" von Seiten des „Rabotscheje Djelo" festgestellt: der Zeitung fehlte es an „Zielbewusstheit", um das diametral Entgegengesetzte in der Stellungnahme der opportunistischen „Kritiker" und der der Revolutionäre in Deutschland und Russland zu begreifen.

In den weiteren Kapiteln werden wir sehen, wie diese Anbetung der Spontaneität auf dem Gebiet der politischen Aufgaben und in der Organisationsarbeit der Sozialdemokratie zum Ausdruck gekommen ist.

A „Rabotscheje Djelo" Nr. 10, September 1901. Gesperrt vom „Rabotscheje Djelo".

B Der Trade-Unionismus schließt keineswegs jede „Politik" aus, wie manche glauben. Die Trade Unions haben stets eine gewisse (aber nicht sozialdemokratische) politische Agitation und einen gewissen politischen Kampf geführt. Auf den Unterschied zwischen trade-unionistischer und sozialdemokratischer Politik werden wir im nächsten Kapitel eingehen.

C A. A. Wanejew starb im Jahre 1899 in Ost-Sibirien an der Schwindsucht, die er sich in der Einzelhaft im Untersuchungsgefängnis geholt hatte. Darum hielten wir es für möglich, die hier angeführten Tatsachen zu veröffentlichen, für deren Richtigkeit wir garantieren, weil sie von Personen ausgehen, die A. A. Wanejew direkt und sehr nah gekannt haben. {d. h. vor allem Lenin selber, der zusammen mit Wanejew, Martow, Krschischanowski und anderen dem Petersburger „Kampfbund" angehörte.}

D „Die ,Iskra', die der Tätigkeit der Sozialdemokraten am Ausgang der neunziger Jahre ablehnend gegenübersteht, ignoriert die Tatsache, dass damals die Bedingungen für jede andere Tätigkeit als den Kampf um kleine Forderungen fehlten" – erklären die Ökonomisten in ihrem „Brief an die russischen sozialdemokratischen Organe" („Iskra" Nr. 12). Die im Text angeführten Tatsachen beweisen, dass diese Behauptung von den „fehlenden Bedingungen" im diametralen Gegensatz zur Wahrheit steht. Nicht nur am Ende, sondern auch um die Mitte der neunziger Jahre waren alle Bedingungen für eine andere Tätigkeit als den Kampf um kleine Forderungen vorhanden, waren alle Bedingungen vorhanden, mit Ausnahme der ausreichenden Vorbereitung der Führer. Aber anstatt nun diesen Mangel an Vorbereitung bei uns, den Ideologen, den Führern, offen einzugestehen, suchen die „Ökonomisten" alles auf die „fehlenden Bedingungen" abzuwälzen, auf den Einfluss der materiellen Verhältnisse, die den Weg bestimmen, von dem kein Ideologe die Bewegung ablenken könne. Was ist das anderes als ein Kriechen vor der Spontaneität, als Verliebtheit der „Ideologen" in ihre Mängel?

1 Der Leitartikel der Nr. 1 der „Rabotschaja Mysl" (Oktober 1897), der in Nr. 9/10 des „Listok Rabotnika" (November 1898) abgedruckt wurde, ist im Anhang des II. Bandes der [sämtlichen] Werke Lenins [nicht auf deutsch erschienen] enthalten.

2 In der bibliographischen Notiz „Die ,Rabotschaja Mysl', das Organ der Petersburger Arbeiter", Nr. 1–3, die in Nr. 9/10 des „Listok Rabotnika" (November 1898) erschienen ist, äußerte sich W. Iwanjschin, später einer der Redakteure des „Rabotscheje Djelo", in wohlwollendem Tone über die drei erschienenen Nummern der „Rabotschaja Mysl"; er fand, dass die Herausgeber der „Rabotschaja Mysl" „bisher mit ihrer Aufgabe gut fertig geworden sind", und erklärte sich einverstanden gerade mit den Gedanken im Leitartikel der ersten Nummer, die von Lenin in „Was tun?" besonders scharf verurteilt wurden. Die Veröffentlichung der Notiz W. Iwanjschins überzeugte die Gruppe „Befreiung der Arbeit" endgültig von der Richtigkeit ihres Beschlusses, die Redaktion der Publikationen des „Auslandsbundes der russischen Sozialdemokraten" abzulehnen.

E Übrigens, dieses Lob der „Rabotschaja Mysl" im November 1898, als der Ökonomismus, besonders im Auslande, vollkommen klar in Erscheinung getreten war, ging von demselben W. I–n aus, der sehr bald einer der Redakteure des „Rabotscheje Djelo" wurde. Und das „Rabotscheje Djelo" leugnete noch das Vorhandensein zweier Richtungen in der russischen Sozialdemokratie, wie es auch heute noch fortfährt, es zu leugnen!

F Dass dieser Vergleich richtig ist, geht aus folgender charakteristischen Tatsache hervor. Als nach der Verhaftung der „Dekabristen" unter den Arbeitern des Schlüsselburger Bezirks die Mitteilung verbreitet wurde, dass an der Verhaftung der Agent provocateur N. N. Michailow (ein Zahnarzt) mitbeteiligt war, der einer Gruppe nahestand, die mit den „Dekabristen" Verbindung hatte, da waren diese Arbeiter so empört, dass sie beschlossen, Michailow zu töten.

G Aus demselben Leitartikel der ersten Nummer der „Rabotschaja Mysl". Danach kann man urteilen, wie die theoretische Schulung dieser „W. W. der russischen Sozialdemokratie" war, die die grobe Verflachung des „ökonomischen Materialismus" wiederholten, während zu gleicher Zeit die Marxisten in der Literatur einen Krieg gegen den wirklichen Herrn W. W. führten, dem schon seit langem wegen ähnlicher Auffassungen über die Beziehung zwischen Politik und Wirtschaft der Spitzname „Spezialist für reaktionäre Angelegenheiten" angehängt war! {W. W. war W. P. Woronszow (1847–1917) einer der hervorragendsten Vertreter der Volkstümlerrichtung der achtziger Jahre, der die am meisten veralteten Ideen der Volkstümler vertrat und in den neunziger Jahren in seiner reaktionären Einstellung soweit ging, dass er den politischen Massenkampf ablehnte. Der Ausdruck „die W. W. der russischen Sozialdemokratie" wird hier angewandt auf die Anhänger der „Rabotschaja Mysl", um sie als rechts-opportunistischen Flügel der Sozialdemokratie zu kennzeichnen, der den politischen Kampf der Arbeiterklasse in den Hintergrund zu schieben suchte, primitive und beschränkte Kampfmethoden und Kampfformen und sehr armselige Kampfziele in der Arbeiterklasse propagierte und darum eine reaktionäre Rolle in der Arbeiterbewegung spielte.}

H Die Deutschen haben sogar einen besonderen Ausdruck: „Nur-Gewerkschaftler", mit dem die Anhänger des „nur-gewerkschaftlichen" Kampfes bezeichnet werden.

I Wir unterstreichen das Wort gegenwärtig im Hinblick auf diejenigen, die pharisäisch die Achseln zucken und sagen werden: jetzt ist es leicht, auf die „Rabotschaja Mysl" zu schimpfen, das ist doch aber Archaismus! Mutato nomine de te fabula narratur (unter anderem Namen wird von dir die Fabel erzählt. Die Red.), antworten wir solchen modernen Pharisäern, deren vollkommene Versklavung durch die Ideen der „Rabotschaja Mysl" weiter unten nachgewiesen werden soll.

J Brief der „Ökonomisten" in Nr. 12 der „Iskra".

K „Rabotscheje Djelo" Nr. 10.

M Das bedeutet natürlich nicht, dass die Arbeiter an dieser Ausarbeitung nicht teilnehmen. Aber sie nehmen nicht als Arbeiter teil, sondern als Theoretiker des Sozialismus, als die Proudhon und Weitling, mit anderen Worten, sie nehmen nur dann und soweit teil, als es ihnen in höherem oder geringerem Maße gelingt, sich das Wissen ihres Jahrhunderts anzueignen und dieses Wissen voranzutreiben. Damit dieses aber den Arbeitern öfters gelingt, muss alles getan werden, um das Niveau des Bewusstseins der Arbeiter im Allgemeinen zu heben; es ist notwendig, dass die Arbeiter sich nicht einschließen in den künstlich eingeengten Rahmen der „Literatur für Arbeiter", sondern dass sie es in immer höherem Maße lernen, die allgemeine Literatur zu beherrschen. Es wäre richtiger, anstatt „sich nicht einschließen" zu sagen: nicht eingeschlossen werden, da die Arbeiter selbst alles lesen und lesen wollen, was auch für die Intelligenz geschrieben wird, und nur einige (schlechte) Intellektuelle denken, „für die Arbeiter" genüge es, wenn man ihnen von der Fabrikordnung erzählt und „längst Bekanntes" wiederkäut.

3 Lenin meint hier das vom Geiste des Reformismus und Liberalismus durchdrungene Buch S. N. Prokopowitschs: „Die Arbeiterbewegung im Westen. Versuch einer kritischen Untersuchung. Bd. I. Deutschland, Belgien". St. Petersburg 1899. (Russisch.)

Was die theoretischen Voraussetzungen anbelangt, die der Verfasser seiner Untersuchung zugrunde gelegt hat“ – schrieb Prokopowitsch im Vorwort, das vom 3. (15.) Februar 1899 datiert ist –, „so muss er zugeben, dass ihm gut die Hälfte von ihnen im Verlaufe der Untersuchung abhanden gekommen ist. Die Tatsachen haben ihm unwiderleglich bewiesen, dass viele Ideen, mit denen er an die Untersuchung herangegangen ist, dem wirklichen Gang der Ereignisse nicht entsprechen." Nachdem sich der „kritisch" gestimmte Verfasser auf diese Weise vom Einfluss der marxistischen „Doktrin" befreit hat, deren Anhänger und Verteidiger Prokopowitsch in Wirklichkeit nie gewesen ist, stellte er sich die Aufgabe, nachzuweisen, dass die Arbeiterbewegung in den fortgeschrittenen westeuropäischen Ländern sich „nach Bernstein" entwickelt habe, und dass in der Arbeiterbewegung die Bedingungen und Voraussetzungen für den revolutionären Kampf und die revolutionäre Politik der Sozialdemokratie fehlen. Das Buch ist von offener Feindseligkeit gegen den wissenschaftlichen Sozialismus und die Tätigkeit des orthodoxen Flügels der deutschen Sozialdemokratie durchdrungen.

Die „Sarja" unterzog die revisionistische Arbeit S. Prokopowitschs einer kritischen Analyse, in einem Artikel von P. Molotow (Parvus): „Die europäischen Arbeiter und ihr russischer Historiker" („Sarja", Nr. 1, April 1901 S. 187–230).

4 Lenin meint den 1899 in „Brauns Archiv", Bd. XIV, Heft 5 u. 6, veröffentlichten Artikel P. Struves „Die Marxsche Theorie der sozialen Entwicklung", seine Besprechung des Bernsteinschen Buches „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie" und des Buches Kautskys „Bernstein und das sozialdemokratische Programm". Struve kritisierte die allgemeine Theorie des Marxismus und insbesondere ihre philosophischen Voraussetzungen, er versuchte, die wachsende „Abstumpfung" der sozialen Widersprüche nachzuweisen, leugnete die Unvermeidlichkeit und die Notwendigkeit der sozialen Revolution und der Diktatur des Proletariats. Eine Kritik der revisionistischen Ansichten Struves ist in Plechanows „Kritik unserer Kritiker" enthalten („Sarja" Nr. 1, 2 3 4)

N Man sagt oft: die Arbeiterklasse fühlt sich spontan zum Sozialismus hingezogen. Das ist insofern richtig, als die sozialistische Theorie tiefer und richtiger als irgendeine andere die Ursachen des Elends der Arbeiterklasse erforscht; darum wird sie von den Arbeitern so leicht erfasst, wenn nur diese Theorie selber nicht vor der Spontaneität kapituliert, wenn sie es versteht, sich die Spontaneität unterzuordnen. Gewöhnlich versteht sich das von selbst, aber „Rabotscheje Djelo" vergisst und entstellt diese selbstverständliche Tatsache. Die Arbeiterklasse fühlt sich spontan zum Sozialismus hingezogen, aber die meist verbreitete (und in den mannigfaltigsten Formen wieder auferstehende) bürgerliche Ideologie wird trotzdem meist ebenso spontan dem Arbeiter aufgezwungen.

5 Zum Verständnis der literarischen Polemik, die zwischen der Gruppe „Befreiung der Arbeit" und dem „Rabotscheje Djelo" entstand und die Lenin kurz kennzeichnet, ist es erforderlich, die aufeinander folgenden Etappen dieses Kampfes zu schildern.

In seinem „Zweiten Brief" an die „Rabotschaja Gazeta", der im Dezember 1897 geschrieben wurde (der Brief bildete einen Teil der Broschüre „Zur Frage der gegenwärtigen Aufgaben und der Taktik der russischen Sozialdemokraten", deren Vorwort das Datum vom März 1898 trägt), schilderte Axelrod zwei mögliche Perspektiven der weiteren Entwicklung der russischen Arbeiterbewegung: die Perspektive eines rein ökonomischen Kampfes und die Perspektive eines politischen Kampfes, in dessen Verlauf das Proletariat die führende Rolle in der allgemein-demokratischen Bewegung spielt. Er stellte fest, dass im gegenwärtigen Stadium der Entwicklung in der russischen Sozialdemokratie die Tendenz vorherrscht, das Tätigkeitsgebiet der Sozialdemokratie enger zu begrenzen, es zu beschränken auf die Organisierung der Arbeiter für den Kampf gegen die Unternehmer und auf die Beteiligung an der Streikbewegung. Axelrod unterstrich die Gefahr, die eine rein ökonomische Taktik mit sich bringt, und sah die nächste Aufgabe der Sozialdemokratie darin, „den Rahmen auszudehnen und den Inhalt unserer propagandistisch-agitatorischen und organisatorischen Tätigkeit zu erweitern." Ende desselben Jahres 1897 schrieb Lenin in der Verbannung die Broschüre „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten", die das Programm und die Kampfmethoden der Arbeiterklasse im Geiste des revolutionären Marxismus darlegt, der die den Ökonomisten eigene Einseitigkeit ausschließt und dem Proletariat die Pflichten des „Vorkämpfers der russischen Demokratie" auferlegt. Lenins Broschüre stand ihrem Inhalte nach in schroffem Widerspruch zu der Stimmung, die in den Kreisen der russischen „Praktiker" zu überwiegen begann, und deckte sich im wesentlichen mit dem Standpunkt der Gruppe „Befreiung der Arbeit", wie er in dem obengenannten Brief Axelrods zum Ausdruck kam. In der zweiten Hälfte des Jahres 1898 erschien die Broschüre Lenins mit einem Vorwort Axelrods, das vom Herbst 1898 datiert war. Axelrod erklärte sich einverstanden mit den Anschauungen Lenins, machte jedoch den Vorbehalt, dass die sozialdemokratische Tätigkeit in Russland, soweit man sie aus der Ferne der Emigration beurteilen könne, noch nicht die Stufe erreicht habe, die Lenin ihr zuschreibt. „Im Allgemeinen ist unsere Bewegung, wie es scheint, erst im Begriff, der Entwicklungsstufe zuzustreben, die dem Standpunkt des Verfassers vollkommen entsprechen würde." „Wir leben zu lange außerhalb Russlands – schrieb Axelrod weiter von sich und seinen Genossen aus der Gruppe „Befreiung der Arbeit" – und sind zu weit entfernt vom Kampfschauplatz, als dass wir mit völliger Sicherheit über den tatsächlichen Zustand unserer Bewegung urteilen könnten. Wir können darüber hauptsächlich auf Grund von Mitteilungen jüngerer Genossen urteilen, die vor verhältnismäßig kurzer Zeit ins Ausland gekommen sind. Diese Genossen aber sind mit seltenen Ausnahmen noch ziemlich weit von den praktischen Anschauungen entfernt, auf deren Boden der Verfasser der vorliegenden Broschüre steht, und sie behaupten, dass die Mehrheit der aktiven Gruppen die Tätigkeit der russischen Sozialdemokratie ebenso wie sie beurteile." Mit den „jungen Genossen", die die Gruppe „Befreiung der Arbeit" über die Lage der Dinge in Russland informierten, waren die Sozialdemokraten gemeint, die zum Ökonomismus abzuschwenken und im „Auslandsbund der russischen Sozialdemokraten" die führende Rolle zu spielen begannen und dann das „Rabotscheje Djelo" herausgaben. Axelrod hatte, als er von den Jungen sprach, insbesondere W. Iwanjschin im Auge, ein Mitglied des „Rabotscheje Djelo", der gleichzeitig auch der „Rabotschaja Mysl" nahestand; zu den „Jungen" zählten auch die „Credisten" Prokopowitsch und Kuskowa, die erst vor kurzem aus dem Auslandsbund ausgeschieden waren und während der ganzen Zeit vom Sekretär des Auslandsbundes Grischin (Kopelson), von B. Kritschewski u. a. unterstützt worden waren. Als Lenins Broschüre mit dem Vorwort Axelrods erschien, beeilten sich die „Rabotscheje-Djelo"-Leute, in Nr. 1 ihrer Zeitschrift (April 1899) eine anonyme Besprechung der „Aufgaben" zu veröffentlichen, in der sie ihre wirklichen Tendenzen zu maskieren versuchten und im Widerspruch zur Wirklichkeit behaupteten, dass sie erstens „nicht wüssten, von welchen ,jungen' Genossen Axelrod spricht"; zweitens dass „die jüngere russische Sozialdemokratie, die auf dem Boden der neuesten Massenbewegung entstanden ist und wirkt, im Allgemeinen bereits in der Praxis den Standpunkt des Verfassers anwendet"; drittens dass „der dargelegte Inhalt der Broschüre vollkommen übereinstimmt mit dem Redaktionsprogramm des ,Rabotscheje Djelo'".

Auf die bibliographische Notiz der „Rabotscheje-Djelo"-Leute antwortete Axelrod mit einem „Brief an die Redaktion des ,Rabotscheje Djelo'", der im August 1899 geschrieben wurde und im Dezember des gleichen Jahres als Sonderausgabe erschien (das „Rabotscheje Djelo" hat diesen Brief nicht veröffentlicht). In diesem Brief betonte Axelrod die Tatsache, dass in der russischen Sozialdemokratie eine Strömung entstanden sei (die „Jungen"), die „bestrebt ist, die russische Sozialdemokratie künstlich auf einer primitiven Entwicklungsstufe festzuhalten", und er wies nach, wie unhaltbar der Versuch des „Rabotscheje Djelo" war, sich mit den Leninschen „Aufgaben der russischen Sozialdemokraten" einverstanden zu erklären. Als der im Sommer 1899 von Lenin geschriebene „Protest der russischen Sozialdemokraten" im Auslande eintraf, wurde er im „Rabotscheje Djelo" Nr. 4/5 (Dezember 1899) veröffentlicht, das sich wiederum mit diesem Dokument diplomatisch solidarisierte, jedoch gleichzeitig erklärte, die Bedeutung des Credo sei nur gering und die Angst Axelrods vor einem möglichen Anwachsen und einer Entwicklung des Ökonomismus sei unbegründet. Auf diese Notiz des „Rabotscheje Djelo", das den Versuch machte, den Ökonomismus zu maskieren und den Ansturm der revolutionären Marxisten gegen den Ökonomismus zu schwächen, folgte im Februar 1900 Plechanows „Vademecum", das die Diplomatie der „Jungen" schonungslos entlarvte und durch Veröffentlichung einer Reihe von Dokumenten, darunter auch von „privaten" Briefen politischen Inhalts Prokopowitschs, Grischin-Kopelsons und der Kuskowa (diese Briefe zirkulierten in den führenden Kreisen der ausländischen Sozialdemokratie) unwiderlegbar nachwies, dass seit 1898 in dem Teil der Sozialdemokratie, der sich um den „Auslandsbund der russischen Sozialdemokraten" und das „Rabotscheje Djelo" gruppierte, ökonomistisohe Ideen vorhanden waren. Der „Brief" Axelrods und das „Vademecum" Plechanows riefen die von B. Kritschewski (im März 1900) geschriebene „Antwort der Redaktion des ,Rabotscheje Djelo'" hervor, die mit aller Klarheit den Opportunismus des „Rabotscheje Djelo" und sein Abweichen vom Wege des revolutionären Marxismus aufzeigte. Im Weiteren wurde, abgesehen von zwei Flugblättern Plechanows („Aus dem Notizbuch eines Sozialdemokraten"), der literarische Kampf gegen das „Rabotscheje Djelo" in der „Iskra" und der „Sarja" ausgefochten.

O „Zur Frage der gegenwärtigen Aufgaben und der Taktik der russischen Sozialdemokraten." Genf 1898. Zwei Briefe an die „Rabotschaja Gazeta", geschrieben im Jahre 1897.

6 Es ist schwer, mit absoluter Bestimmtheit festzustellen, welche Tatsache aus der Geschichte der Petersburger sozialdemokratischen Organisationen im Jahre 1898 Lenin als Grenze zwischen der „alten" und der „neuen" Richtung im Petersburger „Kampfbund" betrachtet; wahrscheinlich meint er die Verschmelzung der „Rabotschaja Mysl" mit dem Petersburger „Kampfbund" (Komitee). Bis Mitte 1898 erschien die „Rabotschaja Mysl" (Nr. 1 erschien im Oktober 1897) als Blatt einer selbständigen literarischen Gruppe. Im Herbst begannen Verhandlungen zwischen der „Rabotschaja Mysl" und dem „Kampfbund", die im Dezember zur Vereinigung beider Organisationen und zu einem entschiedenen Abschwenken des Petersburger „Kampfbundes" zum Ökonomismus führten.

P Seine erste Unwahrheit („wir wissen nicht, von welchen jungen Genossen P. B. Axelrod spricht") ergänzte „Rabotscheje Djelo" bei seiner Verteidigung durch eine zweite, als es in der „Antwort" schrieb: „Seitdem die Rezension der ,Aufgaben' erschienen ist, sind bei verschiedenen russischen Sozialdemokraten Tendenzen zur ökonomistischen Einseitigkeit entstanden und mehr oder weniger klar hervorgetreten, die im Vergleich zu dem Zustand unserer Bewegung, wie er in den ,Aufgaben' (S. 9) geschildert ist, einen Schritt rückwärts bedeuten". So heißt es in der im Jahre 1900 erschienenen „Antwort". Die erste Nummer des „Rabotscheje Djelo" (mit der Rezension) aber erschien im April 1899. Ist denn der Ökonomismus erst im Jahre 1899 entstanden? Nein, im Jahre 1899 ertönte zum ersten Mal der Protest der russischen Sozialdemokraten gegen den Ökonomismus (der Protest gegen das „Credo"). Der Ökonomismus aber entstand, wie „Rabotscheje Djelo" sehr gut weiß, im Jahre 1897, denn schon im November 1898 hatte W. I–n („Listok Rabotnika" Nr. 9/10) das Lob der „Rabotschaja Mysl" gesungen. (Diese Anmerkung hat der Autor in der Auflage vom Jahre 1908 weggelassen. Die Red.)

Q Die „Stadientheorie" oder die Theorie „des schüchternen Zickzackkurses" im politischen Kampf kommt z. B. in diesem Artikel so zum Ausdruck: „Die politischen Forderungen, die ihrem Charakter nach für ganz Russland gelten, müssen jedoch in der ersten Zeit" (das ist im August 1900 geschrieben!) ,,der Erfahrung entsprechen, die die betreffende Arbeiterschicht (sic!) aus dem ökonomischen Kampf gewonnen hat. Nur (!) auf dem Boden dieser Erfahrung kann und muss man an die politische Agitation herangehen" usw. (S. 11). Auf S. 4 ruft der Verfasser, der sich gegen die seiner Meinung nach vollkommen unbegründeten Vorwürfe der ökonomistischen Ketzerei wendet, pathetisch aus: „Welcher Sozialdemokrat weiß nicht, dass nach der Lehre von Marx und Engels die wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Klassen die entscheidende Rolle in der Geschichte spielen und dass folglich insbesondere auch der Kampf des Proletariats für seine wirtschaftlichen Interessen von erstwichtiger Bedeutung für seine Klassenentwicklung und den Befreiungskampf sein muss?" (Von uns gesperrt.) Dieses „folglich" ist absolut nicht am Platze. Aus dem Umstand, dass die wirtschaftlichen Interessen eine entscheidende Rolle spielen, folgt absolut nicht die erstwichtige Bedeutung des wirtschaftlichen (= gewerkschaftlichen) Kampfes, denn die wesentlichsten, „entscheidenden" Klasseninteressen können nur befriedigt werden durch eine radikale politische Umgestaltung im Allgemeinen; insbesondere kann das grundlegende wirtschaftliche Interesse des Proletariats nur befriedigt werden durch die politische Revolution, die die Diktatur der Bourgeoisie durch die Diktatur des Proletariats ersetzt. B. Kritschewski wiederholt die Argumentation des ,,W. W. der russischen Sozialdemokratie" (die Politik folgt der Wirtschaft usw.) und der Bernsteinianer der deutschen Sozialdemokratie (Woltmann z. B.) hat gerade mit solchen Argumenten nachzuweisen versucht, dass die Arbeiter, bevor sie an eine politische Revolution denken können, zunächst „wirtschaftliche Kraft" gewinnen müssen. {Es ließ sich nicht feststellen, welche Arbeit von L. Woltmann Lenin hier im Auge hat. Zu der Zeit, als „Was tun?" geschrieben wurde, waren in russischer Sprache zwei Arbeiten Woltmanns bekannt, „Die Darwinsche Theorie und der Sozialismus" (1900) und „Der historische Materialismus" (1901).}

R Ein Jahr der Verwirrung – so nannte Mehring das Kapitel seiner „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie", in dem er die Schwankungen und die Unentschlossenheit schildert, die die Sozialisten bei der Wahl des Planes für ihre den neuen Verhältnissen angepasste Taktik an den Tag legten.

7 „Narziss Tuporylow" war ein scherzhaftes Pseudonym J. Martow, mit dem er seine „Hymne des neuesten russischen Sozialisten" („Sarja" Nr. 1) gezeichnet hat. In dieser „Hymne" verspottete Martow in Versform die „Ökonomisten" und ihr „nüchternes" Programm. Die einzelnen Strophen der Hymne schlossen mit dem Refrain: „Mit zögernden Schritten, in schüchternem Zickzack, langsam voran, du Arbeiterheer …" usw.

T Man darf auch nicht vergessen, dass die Gruppe „Befreiung der Arbeit" bei der „theoretischen" Lösung der Terrorfrage die Erfahrung der vorhergegangenen revolutionären Bewegung verallgemeinerte.

8 Chwost = Schwanz; Chwostismus – Schwanzpolitik. Die Red.

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