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Wladimir I. Lenin 19051017 Das letzte Wort der „iskristischen" Taktik oder eine Wahlkomödie als neuer anspornender Beweggrund für den Aufstand

Wladimir I. Lenin: Das letzte Wort der „iskristischen" Taktik

oder eine Wahlkomödie als neuer anspornender Beweggrund für den Aufstand

[Proletarij“. Nr. 21, 4./17. Oktober 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, S. 399-419]

Wir haben schon wiederholt von der Unzulänglichkeit der iskristischen Taktik in der „Duma"-Kampagne gesprochen. Unzulänglich sind die beiden Grundzüge dieser Taktik: sowohl das Bestreben, die in die Duma gehenden Oswoboschdjenije-Leute auf Grund der bekannten revolutionären Verpflichtungen zu unterstützen, als auch die Parole „revolutionäre Selbstverwaltung der Bürger", Aufforderung zu allgemeinen Wahlen in die konstituierende Versammlung unter dem Absolutismus. Jetzt haben wir endlich in der Resolution der menschewistischen „Konstituierenden (?) Konferenz des Südens", einen Versuch, die iskristische Taktik genau und offiziell zu formulieren. Auf dieser Konferenz waren die besten Kräfte der Neu-Iskristen in Russland vertreten. Die Resolution gibt uns den Versuch einer sachlichen Darlegung der rein praktischen Ratschläge, die dem Proletariat erteilt werden. Eben deshalb ist eine aufmerksame Kritik dieser Resolution sowohl vom Gesichtspunkte der Herausbildung einer bestimmten Praxis als auch für die Bewertung der gesamten taktischen Position der „Iskra" als Ganzes dringend notwendig.

Hier der volle Text der Resolution:

Resolution der konstituierenden Konferenz der südlichen Organisationen über die Reichsduma

Da wir den einzigen, den Interessen des ganzen Volkes entsprechenden Ausweg aus der heutigen drückenden Lage in der Einberufung einer konstituierenden Versammlung auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Stimmrechts zur Liquidierung des absolutistischen Regimes und zur Errichtung einer demokratischen Republik sehen, die vor allem das Proletariat im Interesse seines Kampfes gegen alle Grundlagen der bürgerlichen Ordnung und zur Verwirklichung des Sozialismus braucht, und in Anbetracht dessen,

1. dass das Wahlsystem der Reichsduma nicht dem ganzen Volke die Möglichkeit bietet, an den Wahlen teilzunehmen, wobei das Proletariat durch den hohen Vermögenszensus für die Stadtbewohner von den Wahlen vollständig ausgeschlossen ist, während die Bauernschaft, und zwar nur ein Teil von ihr, auf Grund eines Vierstufenwahlsystems stimmen wird, das dem administrativen Druck auf die Bauern breiten Raum gibt;

2 dass ganz Russland nach wie vor alle notwendigen bürgerlichen Freiheiten entbehrt, ohne die eine Wahlagitation und folglich auch eine auch nur einigermaßen richtig durchgeführte Wahl unmöglich ist, und dass, im Gegenteil, die administrative Willkür jetzt überall mehr denn je herrscht und ein großes Gebiet nach dem anderen unter Kriegszustand gestellt wird; und schließlich .

3. dass für alle Randgebiete eine noch schlimmere Karikatur eines Vertretungssystems ausgearbeitet wird – .

schlägt die Konferenz allen Organisationen vor, die energischste Agitation zu entfalten, die den ganzen Karikaturcharakter dieser Vertretung aufdeckt, mit der die autokratische Regierung das Volk zu betrugen gedenkt. Sie erklärt jeden für einen bewussten Verräter des Volkes, der bereit ist, sich mit der Reichsduma zufrieden zu geben, und sich nicht die Aufgabe stellt, im gegenwärtigen entscheidenden Moment durch sein Vorgehen und seine Taktik die Forderungen des revolutionären Volkes nach Einberufung einer konstituierenden Versammlung auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Stimmrechts zu unterstützen.

Zum Zweck der schnellsten Verwirklichung der erwähnten Forderungen empfiehlt die Konferenz des Südens den Parteiorganisationen folgende Taktik:

1. Unter dem arbeitenden Proletariat und der Bauernmasse eine energische Agitation einzuleiten für die Schaffung breiter demokratischer Organisationen und ihre Vereinigung zu einer allrussischen Organisation zum energischen Kampfe gegen die Reichsduma und für die Verwirklichung einer allgemeinen konstituierenden Versammlung bei ungesäumter Einführung der Rede-, Presse-, Versammlungs-, Koalitions- und Streikfreiheit. Die Schaffung dieser allrussischen Volksorganisation hat zu erfolgen auf dem Weg der Bildung von Agitationskomitees, die von den Arbeitern einzelner Fabriken und Unternehmungen gewählt werden, der Vereinigung dieser Agitationskomitees; der Gründung entsprechender Agitationskomitees unter der Bauernschaft, der Herstellung einer engeren Verbindung zwischen den städtischen und den bäuerlichen Komitees; der Bildung von Gouvernementskomitees und der Schaffung von Verbindungen zwischen ihnen.

2 Wenn diese Organisation genügend stark und in der Arbeitermasse die entsprechende Stimmung vorhanden ist, unter Eröffnung der Wahlkampagne an die Organisation der allgemeinen Wahlen in die konstituierende Versammlung heranzutreten, wobei zu beachten ist, dass die auf die Verwirklichung dieser Wahlen gerichtete organisierte Volksbewegung als natürlicher Übergang zum Volksaufstand gegen den Zarismus dienen kann, da dessen unvermeidlicher Widerstand und der Zusammenstoß mit ihm auf dem Boden der Durchführung der Wahlen für den Aufstand neue anspornende Beweggründe schaffen und die vorangegangene Organisation des Volkes ihm allgemeine Verbreitung und Einheit sichern wird.

3. Zugleich schlägt die Konferenz vor, die Erkämpfung der Versammlungsfreiheit für die Wahlen durchzusetzen, empfiehlt ein energisches Eingreifen in die Wahlkampagne, das Eingreifen des Volkes in die Wählerversammlungen und die Erörterung der vor den Dumaabgeordneten stehenden Aufgaben durch die Wähler in großen Volksversammlungen. Dabei muss die sozialdemokratische Partei danach trachten, die wahlberechtigten Bevölkerungsschichten auf den revolutionären Weg zu bringen, was zum Ausdruck kommen kann entweder in ihrem Anschluss zu dem von der demokratischen Volksorganisation geleiteten Aufstand, oder, beim Fehlen eines solchen, in dem Bestreben, die sich formierende Reichsduma in eine revolutionäre Versammlung zur Einberufung einer allgemeinen konstituierenden Versammlung umzugestalten, oder aber bei ihrer Einberufung durch die demokratische Volksorganisation mitzuwirken.

4. Bereit zu sein, in derselben Richtung auf die Reichsduma einen Druck auszuüben, wenn bis zu ihrer endgültigen Einberufung die Volksbewegung nicht zum Sturze des Absolutismus und zur Organisierung einer konstituierenden Versammlung führen sollte. Sich darauf vorzubereiten, der Reichsduma ein Ultimatum zu stellen, dass sie die konstituierende Versammlung einberufe und sofort die Rede-, Presse-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit sowie die Volksbewaffnung einführe. Sich auf die Unterstützung dieses Ultimatums durch politische Streiks und andere breite Volksaktionen vorzubereiten.

5. Diese ganze Taktik muss von großen Volksversammlungen angenommen werden, die vor und während der Wahlkampagne unter dem Proletariat und der Bauernschaft zu organisieren sind.“

Wir wollen uns nicht bei den redaktionellen Mängeln der Resolution, die an Weitschweifigkeit leidet, aufhalten. Wenden wir uns direkt den fundamentalen Fehlern zu.

1. Im einleitenden Teil wird vom einzigen Ausweg aus der gegenwärtigen Lage gesprochen. Dabei wird das ganze Schwergewicht auf den Begriff der konstituierenden Versammlung konzentriert und kein Wort darüber verloren, von wem diese einberufen werden soll, um diesen „Ausweg" nicht nur in Worten, sondern in der Tat zu einem Ausweg werden zu lassen. Dieses Verschweigen bedeutet die Kapitulation der Sozialdemokraten vor den Oswoboschdjenije-Leuten. Wir haben schon wiederholt darauf hingewiesen, dass gerade die Interessen der monarchistischen liberalen Bourgeoisie die Oswoboschdjenije-Leute zwingen, sich auf die Forderung der Einberufung einer allgemeinen konstituierenden Versammlung zu beschränken und dabei zu verschweigen, von wem sie einberufen werden soll. Wir haben wiederholt gezeigt, dass gerade diese Frage von der sich entwickelnden Revolution bereits in den Vordergrund gerückt worden ist und dass gerade hier der fundamentale Unterschied zwischen der opportunistischen („Verständigungs"-) Taktik der Bourgeoisie und der revolutionären Taktik des Proletariats liegt. Die Neu-Iskristen haben mit ihrer Resolution den dokumentarischen Beweis geliefert, dass sie in den grundlegenden Fragen der Taktik an einer unheilbaren Blindheit leiden und so auf das Niveau der Losungen der Oswoboschdjenije-Leute herabsinken.

Im weiteren Inhalt der Resolution wird die Frage der Einberufung einer konstituierenden Versammlung noch mehr verwirrt. Die Predigt, die in dieser Hinsicht ihre Hoffnungen in die Reichsduma setzt, ist direkt eine reaktionäre Predigt, und die Einberufung der konstituierenden Versammlung durch eine „demokratische Volksorganisation" hat die gleiche Bedeutung, wie wenn wir beantragten, die konstituierende Versammlung durch das Komitee der Volksfreunde, die auf dem Mars wohnen, einzuberufen. Die Neu-Iskristen haben auf ihrer allrussischen Konferenz den unverzeihlichen Fehler begangen, die Einberufung der allgemeinen konstituierenden Versammlung durch eine Revolutionsregierung auf die gleiche Stufe zu stellen mit ihrer Einberufung durch irgendeinen Vertretungskörper. Jetzt haben die Neu-Iskristen noch einen Schritt mehr zurück gemacht: sie haben sich über die provisorische revolutionäre Regierung überhaupt ausgeschwiegen. Warum? Aus welchem Grunde? Worin haben sich ihre Ansichten geändert? All das bleibt ein Geheimnis. Anstatt ihre taktischen Direktiven zu entwickeln, liefern die Menschewiki auf ihren Konferenzen nur Beispiele des Springens und Schwankens bald nach rechts, bald nach links.

2. „Jeden für einen bewussten Verräter des Volkes erklären, der bereit ist, sich mit der Reichsduma zufrieden zu geben" usw. – das ist eben so ein scheinbarer Sprung nach links und dabei ein Sprung nicht auf den wirklich revolutionären Weg, sondern zur revolutionären Phrase. Erstens, wozu das starke Wörtchen vom „bewussten" (Verräter)? War Johann Jacoby ein bewusster Volksverräter. der im Jahre 1847 als bürgerlicher Liberaler in die Reichsduma, beziehungsweise in den Vereinigten Landtag ging und nach dem Kriege von 1870/71 zu den Sozialdemokraten überging? Wird jeder Bauer ein bewusster Verräter sein, der in die Duma gehen und „bereit" sein wird, sich mit sehr, sehr wenigem zufrieden zu geben? Zweitens, ist das hier aufgestellte Kriterium des Verrats: wer bereit ist, sich zufrieden zu geben, wer sich nicht die Aufgaben stellt usw., vernünftig? Wodurch wird die „Bereitwilligkeit" und das „Stellen von Aufgaben" bewiesen, durch Worte oder durch Handlungen? Wenn durch Worte, dann muss man von dem in die Reichsduma entsandten KD („Konstitutionaldemokraten", wie sich die Oswoboschdjenije-Leute jetzt nannten) eine Unterschrift oder eine revolutionäre Verpflichtung verlangen (Parvus, Tscherewanin, Martow). In diesem Falle muss die Resolution diesen Gedanken klar zum Ausdruck bringen und darf nicht Sand in die Augen streuen. Wenn aber die „Bereitwilligkeit" durch Handlungen bewiesen wird, warum sagt dann die Resolution nicht offen und direkt, was für „Handlungen" in ihren Augen die Bereitwilligkeit beweisen? Weil sich in der Resolution der Grundfehler der neuen Iskra" widerspiegelt, die es nicht versteht, die Grenze zwischen der revolutionären Demokratie und der monarchistisch-liberalen Demokratie zu ziehen. Drittens, ist es von einer kämpfenden Partei vernünftig, allgemein von Personen („jeder, der") und nicht konkret von Richtungen oder Parteien zu sprechen? Für uns ist es jetzt besonders wichtig, gerade die Richtung, gerade die Partei der KD, die uns bereits durch ihre „Handlungen" gezeigt hat, welche Forderungen und wie sie sie unterstützt, vor dem Proletariat bloßzustellen. Sich im Namen der sozialdemokratischen Organisationen an die Arbeiter wenden, ihnen von denen, die in die Duma gehen, von den Dumawahlen erzählen u.a.m. und sich dabei über die Partei der KD (die Oswoboschdjenije-Leute, was dasselbe ist) ausschweigen, heißt entweder in unwürdiger Weise Winkelzüge und Kniffe anwenden (während man hinter den Kulissen mit den Oswoboschdjenije-Leuten Kompromisse über ihre Unterstützung unter den von Parvus oder Tscherewanin aufgestellten Bedingungen abschließt), oder unvernünftigerweise in die Reihen der Arbeiter Demoralisation hinein tragen und auf den Kampf gegen die KD verzichten.

Außer den historischen Tatsachen über die Tätigkeit des „Oswoboschdjenije", der Oswoboschdjenije-Leute, der Semstwo-Männer und anderer KD besitzen wir gar kein ernsthaftes Material zur Einschätzung der „Bereitwilligkeit" der Demokraten aus der Bourgeoisie, gemeinsam mit dem Volke zu kämpfen. Die Neu-Iskristen übergehen dieses Material und ziehen sich mit inhaltslosen Phrasen aus der Affäre. Und da will uns Plechanow noch versichern, dass die organisatorische Verschwommenheit in den Ansichten der „Iskra" nicht durch taktische Verschwommenheit ergänzt wird!

Die Neu-Iskristen haben ja nicht nur die Augen zugedrückt vor der „Bereitwilligkeit" der KD, Verrat zu begehen, die sie durch ihre von allen vermerkte Wendung nach rechts vom Julikongress bis zum Septemberkongress der Semstwos deutlich bewiesen haben. Die Neu-Iskristen haben diesen KD durch ihren Kampf gegen den Boykott sogar geholfen! Den hypothetischen Oswoboschdjenije-Leuten („jeder, der bereit ist" usw.) drohen die Iskristen mit „furchtbar schrecklichen" Worten, den realen Oswoboschdjenije-Leuten helfen sie mit ihrer Taktik. Das ist vollkommen im Geiste des Herrn Roditschew, eines der Führer der KD, der donnert: „Wir nehmen die Freiheit nicht aus Händen, die mit dem Blute des Volkes besudelt sind!" (diese Phrase des Herrn Roditschew in geschlossener Versammlung gegen Herrn W. Stead macht jetzt die Runde durch alle ausländischen Zeitungen) – zu derselben Zeit aber die Einberufung der allgemeinen konstituierenden Versammlung gerade durch diese Hände fordert.

3. Der nächste fundamentale Fehler der Resolution liegt in der Parole: „Schaffung breiter demokratischer Organisationen und ihre Vereinigung zu einer allrussischen Organisation." Der Leichtsinn von Sozialdemokraten, die eine solche Losung aufstellen, ist geradezu erstaunlich. Was bedeutet das: Schaffung von breiten demokratischen Organisationen? Das kann nur bedeuten: entweder das Untertauchen der Organisation der Sozialsten (SDAPR) in einer Organisation der Demokraten (dies können die Neu-Iskristen bewusst nicht durchführen, weil das vollständiger Verrat am Proletariat wäre) oder die provisorische Vereinigung der Sozialdemokraten mit bestimmten Schichten der bürgerlichen Demokraten. Wenn die Neu-Iskristen solche Vereinigung predigen wollen, warum sagen sie es dann nicht direkt und offen? Warum verstecken sie sich hinter dem Wörtchen „Schaffung"? Warum zeigen sie nicht genau, mit welchen Richtungen oder Gruppen innerhalb der bürgerlichen Demokratie sich zu vereinigen sie die Sozialdemokraten auffordern? Ist das nicht ein neues Muster der unverzeihlichen taktischen Verschwommenheit, die in Wirklichkeit die Arbeiterklasse unvermeidlich in ein Anhängsel der bürgerlichen Demokratie verwandelt?

Die einzige Bestimmung des Charakters dieser „breiten demokratischen Organisationen" durch die Resolution besteht im Hinweis auf ihre beiden Ziele: den Kampf 1. gegen die Reichsduma und 2. für die allgemeine konstituierende Versammlung. Das zweite Ziel haben die KD in der lendenlahmen iskristischen Formulierung, d.h. ohne den Hinweis darauf, wer die allgemeine konstituierende Versammlung einberufen soll, vollkommen anerkannt. Das bedeutet, dass die Iskristen die Einigung der SD mit den KD predigen, sich aber schämen, es offen zu sagen?? Das erste Ziel ist mit jener Unklarheit formuliert, die wir nur bei den russischen Gesetzen gewöhnt sind, die das Publikum absichtlich betrügen. Was ist das: der Kampf gegen die Reichsduma? Wenn man das buchstäblich verstehen soll, in der Voraussetzung, dass sich die Verfasser der Resolution ohne Zweideutigkeiten ausdrücken wollen, so bedeutet das den Dumaboykott; denn gegen eine Einrichtung kämpfen, die noch nicht besteht, heißt sich ihrem Entstehen widersetzen. Wir wissen aber, dass die Iskristen gegen den Boykott sind, wir ersehen aus der Resolution, dass sie weiter schon nicht mehr vom Kampf gegen die Reichsduma sprechen, sondern von einem Druck auf die Reichsduma, von dem Bestreben, sie in eine revolutionäre Versammlung zu verwandeln, und anderes mehr.

Das bedeutet, dass die Worte „Kampf gegen die Reichsduma" nicht buchstäblich, nicht im engeren Sinne zu verstehen sind. Wenn aber dem so ist, in welchem Sinne sind sie dann zu verstehen? Vielleicht im Sinne des Herrn M. Kowalewski, der Referate mit einer Kritik an der Reichsduma hält? Was soll man also als Kampf gegen die Reichsduma bezeichnen?? Das bleibt ein Geheimnis. Unsere Wirrköpfe haben rein nichts Bestimmtes darüber gesagt. Da sie wissen, dass die klassenbewussten Arbeiter gegen die Taktik der Kompromisse mit den KD, gegen die Taktik der Unterstützung der Reichsduma unter bestimmten Bedingungen unbedingt feindlich gestimmt sind, haben unsere Neu-Iskristen feige den mittleren Weg gewählt: einerseits die im Proletariat populäre Losung „Kampf gegen die Reichsduma" zu wiederholen, anderseits dieser Losung jeden genauen Sinn zu nehmen, Sand in die Augen zu streuen, den Kampf gegen die Reichsduma im Sinne eines Druckes auf die Duma auszulegen und anderes mehr. Und dieser jämmerliche Wirrwarr wird von den einflussreichsten Iskra-Organisationen in einem Moment propagiert, wo die Oswoboschdjenije-Leute, sich in die Brust werfend, ganz Europa mit ihrem Geschrei erfüllen, dass sie nur um des Kampfes willen, ausschließlich um des Kampfes willen, in die Reichsduma gehen und zum vollständigen Bruch mit der Regierung „bereit" sind!

Wir fragen die Leser: wurde schon irgendwo eine schmählichere Wankelmütigkeit in der Taktik der Sozialdemokratie gesehen? Kann man sich etwas für die Sozialdemokratie Verderblicheres vorstellen als diese Predigt der „Schaffung breiter demokratischer Organisationen" gemeinsam mit den Oswoboschdjenije-Leuten (denn die KD sind mit den von den Iskristen dargelegten Zielen einverstanden), ohne die Oswoboschdjenije-Leute dabei direkt zu nennen??

Und Plechanow, der sich mit seiner fast zweijährigen Verteidigung der iskristischen „organisatorischen Verschwommenheit" in den Augen aller russischen revolutionären Sozialdemokraten blamiert hat, wird jetzt beginnen, uns davon zu überzeugen, dass die neu-iskristische Taktik gut sei! …

4. Ferner ist es äußerst unvernünftig, die Vereinigung von breiten (und verschwommenen) demokratischen Organisationen als „allrussische Volksorganisation" oder „demokratische Organisation des Volkes" zu bezeichnen. Vor allem ist es theoretisch unrichtig. Die Ökonomisten sündigten bekanntlich darin, dass sie Partei und Klasse verwechselten. Die Iskristen lassen die alten Fehler auferstehen und verwechseln jetzt die Summe der demokratischen Parteien oder Organisationen mit der Organisation des Volkes. Das ist eine leere, verlogene, schädliche Phrase. Sie ist leer, weil sie ohne Hinweis auf bestimmte demokratische Parteien oder Richtungen keinen bestimmten Sinn enthält. Sie ist verlogen, weil in der kapitalistischen Gesellschaft selbst die fortgeschrittenste Klasse, das Proletariat, nicht imstande ist, eine Partei zu schaffen, die die ganze Klasse umfasst, vom ganzen Volk gar nicht zu reden. Sie ist schädlich, weil sie die Köpfe mit einem tönenden Wörtchen erfüllt, ohne die reale Arbeit zur Klarstellung der wirklichen Bedeutung der wirklich demokratischen Parteien, ihrer Klassengrundlage, des Grades ihrer Annäherung an das Proletariat usw. in den Vordergrund zu stellen. Gerade jetzt, in der Epoche der demokratischen Revolution, die in ihrem sozial-ökonomischen Inhalt bürgerlich ist, zeigt sich eine besonders starke Neigung der bürgerlichen Demokraten, aller dieser KD usw., einschließlich der Sozialrevolutionäre, „breite demokratische Organisationen" überhaupt zu predigen, direkt oder indirekt, offen oder geheim die Parteilosigkeit, d.h. das Nichtvorhandensein strenger Teilungen unter den Demokraten zu begünstigen. Die zielbewussten Vertreter des Proletariats müssen entschieden und rücksichtslos gegen diese Tendenz ankämpfen, denn sie ist ihrem Wesen nach durch und durch bürgerlich. Wir müssen die genauen Parteiunterschiede in den Vordergrund rücken, jeden Wirrwarr bloßlegen und die Verlogenheit der Phrasen von einem angeblich einheitlichen, solidarischen, breiten Demokratismus aufdecken, von denen es in unserer liberalen Presse wimmelt. Wenn wir die Einigung mit bestimmten Schichten der Demokratie für bestimmte Aufgaben vorschlagen, dürfen wir, besonders in einer Zeit, wie es die gegenwärtige ist, nur die revolutionäre Demokratie herausnehmen, und wir müssen die Merkmale zeigen, nach denen man jene, die „bereit" sind zu kämpfen (jetzt in den Reihen der revolutionären Armee), am klarsten von jenen unterscheiden kann, die „bereit" sind, mit dem Absolutismus zu feilschen.

Um den Iskristen ihren Fehler anschaulicher aufzuzeigen, wollen wir ein einfacheres Beispiel nehmen. Unser Programm spricht von Bauernkomitees. Die Resolution des 3. Parteitages der SDAPR beschreibt ihre Bedeutung genauer und bezeichnet sie als revolutionäre Bauernkomitees. (In dieser Hinsicht stimmte eigentlich auch die neu-iskristische Konferenz mit dem 3. Parteitag überein.) Als Aufgabe dieser Komitees bezeichneten wir die Verwirklichung der demokratischen Umgestaltung im Allgemeinen und der agrarischen im Besonderen auf revolutionärem Wege, einschließlich der Konfiskation des Großgrundbesitzes. Jetzt empfehlen die Iskristen in der Resolution noch neue „Agitationskomitees unter der Bauernschaft". Das ist ein Rat, der nicht sozialistischer Arbeiter, sondern liberaler Bourgeois würdig ist. Solche „bäuerliche Agitationskomitees" würden, wenn sie entstünden, ganz und gar den Oswoboschdjenije-Leuten zustatten kommen, denn ihr revolutionärer Charakter würde durch einen liberalen ersetzt werden. Wir haben ja schon wiederholt darauf hingewiesen, dass der von der „Iskra" bestimmte Inhalt der Agitation dieser Agitationskomitees (der Kampf „gegen" die Reichsduma und für die allgemeine konstituierende Versammlung) nicht über den Rahmen des Programms der Oswoboschdjenije-Leute hinausgeht. Ist es jetzt den Neu-Iskristen klar, dass sie, wenn sie die Losung der revolutionären Bauernkomitees durch die Losung der „bäuerlichen Agitationskomitees" ergänzen, die sozialdemokratischen Losungen in Oswoboschdjenije-Losungen verwandeln?

5. Endlich kommen wir zur Hauptaufgabe dieser „allrussischen Volksorganisation", der Organisierung der allgemeinen Wahlen zur konstituierenden Versammlung. Allgemeine Wahlen unter Beibehaltung des Absolutismus! Und die „Zusammenstöße" mit dem Absolutismus bieten „neue anspornende Beweggründe für den Aufstand" … Das ist wahrlich schon eine Wahlkomödie als neuer anspornender Beweggrund für den Aufstand!

Die Losung der „revolutionären Selbstverwaltung", die Theorie von der „Selbstentstehung" der konstituierenden Versammlung haben unvermeidlich zu diesem Unsinn geführt, dem es bestimmt ist, klassisch zu werden. Von allgemeinen Wahlen unter der Herrschaft der Trepow, d.h. vor dem Sieg des Aufstandes. vor dem faktischen Sturz der zaristischen Regierungsmacht sprechen, ist die schlimmste Manilowerei, die nur geeignet ist. in den Köpfen der Arbeiter eine unglaubliche politische Demoralisierung zu erzeugen. Nur Leute, die die neue „Iskra" an die Herrschaft der Phrase gewöhnt hat, können solche Losungen annehmen, die bei der ersten Berührung mit einer nüchternen Kritik in Nichts zerfallen. Es genügt, nur ein wenig darüber nachzudenken, was allgemeine Volkswahlen in der ernsten Bedeutung dieses Wortes sind, es genügt, daran zu erinnern, dass sie sowohl die Agitationsfreiheit als auch die Informierung der gesamten Bevölkerung und die Anerkennung durch die gesamte Bevölkerung einer solchen Zentralstelle oder solcher lokaler Zentren erfordern, die Listen der ganzen Bevölkerung zusammenstellen und wirklich über alle Bewohner ohne Ausnahme die Erhebungen durchführen – es genügt, nur ein klein wenig darüber nachzudenken, um in den von der „Iskra" projektierten „allgemeinen Volkswahlen" eine Volksbelustigung und eine allgemeine Scharlatanerie zu sehen. Nicht ein einziger Abgeordneter, der mehr oder weniger den Namen eines „vom gesamten Volke Gewählten" verdient, d.h. der 50.000 bis 100.000 wirklich frei und bewusst abgegebene Stimmen auf sich vereinigt, kann in ganz Russland „bei Eröffnung der Wahlkampagne" gewählt werden.

Die iskristische Resolution rät dem Proletariat, eine Komödie aufzuführen, und keine Klausel und keine Ausreden ändern die Bedeutung dieser komödiantenhaften Resolution. Uns sagt man, dass man die Wahlen nur „bei genügender Kraft der Organisation" und nur dann durchführen werde, wenn „die vorbereitende Organisation ihm" (dem Aufstand) „allgemeine Verbreitung und Einheitlichkeit sichern wird". Wir antworten: Kraft wird durch Taten und nicht durch Worte bewiesen. Bis zum Sieg des Aufstandes ist es lächerlich, auch nur zu sprechen von einer Kraft, die imstande wäre, ohne sich lächerlich zu machen, „allgemeine Volkswahlen" auch nur zu verkünden, von ihrer Durchführung schon gar nicht zu reden. Der Sieg des Aufstandes kann durch keinerlei allgemeine Verbreitung und Einheitlichkeit einer Organisation „gesichert" werden, wenn 1. diese Organisation nicht aus Leuten besteht, die wirklich zu einem Aufstand fähig sind (wir haben aber gesehen, dass die Resolution einfach „breite", d.h. in Wirklichkeit Organisationen im Sinne des Oswoboschdjenije predigt, die den Aufstand, wenn er zustande käme, unbedingt verraten würden); 2. wenn die Kraft für den Sieg des Aufstandes nicht ausreicht (und für den Sieg ist außer der moralischen Kraft der öffentlichen Meinung, des Volkswohls u.a.m. die materielle Kraft einer revolutionären Armee erforderlich). Die moralische Kraft, diese lauten Worte von den „Das-ganze-Volk-Umfassen" in den Vordergrund rücken und im Kampfaufruf von der materiellen Kraft schweigen, heißt die revolutionären Losungen des Proletariats auf das Niveau der bürgerlich-demokratischen Phrase herabdrücken.

Eine solche Wahlkomödie bildet eben nicht einen „natürlichen", sondern einen künstlichen Übergang zum Aufstand, einen Übergang, der von einer Handvoll Intellektueller ersonnen ist. Solche künstliche Übergänge auszudenken, ist eine Beschäftigung, die völlig der alten Beschäftigung Nadjeschdins gleicht: dem Austüfteln des „exzitierenden" Terrors. Die Neu-Iskristen wollen auch das Volk künstlich zum Aufstand „exzitieren", anspornen, eine Idee, die grundfalsch ist. Eine wirkliche Organisation des ganzen Volkes schaffen, das können wir nicht; die Wahlen, die unter dem Absolutismus anzusetzen uns einfallen würde, müssten unweigerlich eine Komödie bleiben, und einen solchen ausgedachten Anlass zu einem Aufstand ausnützen, ist das gleiche, als wenn man den Aufstand in einem Moment dekretiert, wo es im Volke keine wirkliche Erregung gibt. Nur Leute, die nicht an die revolutionäre Aktivität des Proletariats glauben, nur Intellektuelle, die starken Worten nachlaufen, konnten im September 1905 „neue anspornende Beweggründe für den Aufstand" ersinnen. Als gäbe es bei uns in Russland wenig wirkliche und nicht komödiantenhafte Beweggründe für einen Aufstand, als gäbe es wenig Fälle wirklicher und nicht inszenierter, nicht verfälschter Erregung der Massen! Eine Wahlkomödie wird die Massen nie erregen: aber ein Streik oder eine Demonstration, eine Militärrevolte oder ernste Studentenunruhen, eine Hungersnot oder Mobilisierung, ein Konflikt mit der Reichsduma usw. u.a.m. – das alles kann stets, stündlich die Massen wirklich erregen. Nicht nur der Gedanke, „neue anspornende Beweggründe für den Aufstand" zu erfinden, ist die allergrößte Dummheit; schon der Gedanke, im Vorhinein vorzuschreiben, dass nur dieser und nicht auch jener Anlass die Massen erregen wird, wäre unvernünftig. Leute mit nur ein wenig Selbstachtung, die ihre eigenen Worte auch nur irgendwie ernst nehmen, werden sich nie erlauben, „neue anspornende Beweggründe für den Aufstand" zu ersinnen.

Nicht in den „neuen Beweggründen" liegt die Unzulänglichkeit, verehrteste Illusionspolitiker, sondern in der Militärmacht, in der Militärmacht des revolutionären Volkes (nicht aber des Volkes im Allgemeinen); und diese besteht 1. aus dem bewaffneten Proletariat und Bauerntum, 2. aus den organisierten Vortrupps der Vertreter dieser Klassen, 3. aus den Truppenteilen, die bereit sind, auf die Seite des Volkes überzugehen. Sie alle zusammen machen die revolutionäre Armee aus. Vom Aufstand, von seiner Macht, vom natürlichen Übergang zu ihm zu sprechen und die revolutionäre Armee nicht zu erwähnen, ist Unsinn und Konfusion, und zwar um so mehr, je besser mobilisiert die konterrevolutionäre Armee ist. In der Zeit der Aufstände im Kaukasus, in der Schwarzmeerflotte, in Polen und Riga „neue anspornende Beweggründe für den Aufstand" ausdenken, heißt sich absichtlich abkapseln und von der Bewegung entfernen. Wir sind Zeugen der mächtigsten Gärung bei den Arbeitern und Bauern. Wir sind Zeugen einer Reihe von auflodernden Aufständen, die seit dem 9./22. Januar unablässig und mit Riesenschnelligkeit an Breite, Kraft und Hartnäckigkeit zunehmen. Niemand kann sich dafür verbürgen, dass sich diese Ausbrüche nicht morgen in einer beliebigen Großstadt oder in einem beliebigen Militärlager, in einem beliebigen Dorf wiederholen werden. Im Gegenteil, alle Anzeichen sprechen dafür, dass solche Ausbrüche wahrscheinlich nahe und unvermeidlich sind. Ihr Erfolg ist bedingt erstens durch die Erfolge der revolutionären Agitation und Organisation – wohlgemerkt: der revolutionären und nicht der „breiten demokratischen", von der die „Iskra" schwatzt, denn unter den Demokraten gibt es eine Masse von Nichtrevolutionären. Zweitens hängt der Erfolg von der Kraft und der Bereitwilligkeit der revolutionären Armee ab. Die erstgenannte Bedingung ist längst allgemein anerkannt und wird in ganz Russland von allen Revolutionären buchstäblich in jeder Versammlung von Zirkeln, Gruppen, in jeder improvisierten, in jeder Massenversammlung verwirklicht. Die zweite Bedingung hat noch äußerst wenig Anerkennung gefunden. Die liberale Bourgeoisie will und kann sie kraft ihrer Klassenlage nicht anerkennen. Von den Revolutionären ignorieren sie nur jene, die hoffnungslos im Schlepptau der monarchistischen Bourgeoisie trotten.

Aufstand – das ist ein sehr großes Wort. Die Aufforderung zum Aufstand ist die ernsteste Aufforderung. Je komplizierter die gesellschaftliche Ordnung, je höher die Organisation der Staatsmacht, je vollkommener die Militärtechnik ist, desto unzulässiger ist die leichtsinnige Aufstellung einer solchen Losung. Und wir haben mehr als einmal gesagt, dass die revolutionären Sozialdemokraten die Aufstellung dieser Losung seit langem vorbereitet, aber als direkte Aufforderung erst dann herausgegeben haben, als es keinen Zweifel mehr geben konnte über den Ernst, die Breite und die Tiefe der revolutionären Bewegung, keinen Zweifel darüber, dass die Sache im wirklichen Sinne dieses Wortes ihrer Lösung entgegengeht. Mit großen Worten muss man behutsam umgehen. Die Schwierigkeiten, solche große Worte in große Taten umzusetzen, sind riesengroß. Ebendeshalb wäre es unverzeihlich, wollte man über diese Schwierigkeiten mit Phrasen hinweggehen, vor ernsten Aufgaben ins Reich leerer Phantasien flüchten und sich die Scheuklappen holder Träume von angeblichen „natürlichen Übergängen" zu diesen schwierigen Aufgaben aufsetzen.

Revolutionäre Armee das ist auch ein sehr großes Wort. Sie zu schaffen ist ein schwieriger, komplizierter und langer Prozess. Wenn wir aber sehen, dass dieser Prozess schon begonnen hat und abschnittweise, stückweise und überall vor sich geht, wenn wir wissen, dass ohne eine solche Armee ein wirklicher Sieg der Revolution unmöglich ist, dann müssen wir eine entschiedene und direkte Parole aufstellen, sie propagieren und zum Prüfstein der brennenden Tagesfragen der Politik machen. Es wäre ein Irrtum, zu denken, dass die revolutionären Klassen immer über genügende Kräfte verfügen, um einen Umsturz zu bewerkstelligen, wenn dieser kraft der gesellschaftlichen, ökonomischen Entwicklung reif geworden ist. Nein, die menschliche Gesellschaft ist für die fortgeschrittenen Elemente nicht so vernünftig und nicht so „bequem" eingerichtet. Der Umsturz kann heranreifen, allein die Kräfte der revolutionär schöpferischen Elemente können zur Vollziehung des Umsturzes ungenügend sein – dann fault die Gesellschaft, und diese Fäulnis kann ganze Jahrzehnte andauern. Dass der demokratische Umsturz in Russland herangereift ist, steht außer Zweifel. Es ist aber noch nicht bekannt, ob bei den revolutionären Klassen jetzt schon die Kraft ausreicht, ihn zu vollziehen. Das wird der Kampf entscheiden, dessen kritischer Augenblick, wenn nicht eine ganze Reihe direkter und indirekter Anzeichen trügt, mit riesiger Schnelligkeit herannaht. Das moralische Übergewicht ist unzweifelhaft, die moralische Kraft ist schon überwältigend groß; ohne sie könnte natürlich von keinerlei Umsturz auch nur die Rede sein. Sie ist eine notwendige Bedingung, aber sie reicht noch nicht aus. Ob sie sich aber in eine materielle Kraft umwandeln wird, die genügt, um den sehr, sehr ernsten (wir wollen davor die Augen nicht schließen) Widerstand des Absolutismus zu brechen – das wird der Ausgang des Kampfes zeigen. Die Losung des Aufstandes ist die Losung der Entscheidung der Frage durch die materielle Macht – eine solche ist aber in der modernen europäischen Kultur nur die Militärmacht. Diese Losung darf nicht ausgegeben werden, solange die allgemeinen Bedingungen des Umsturzes nicht herangereift sind, solange die Erregung und die Bereitschaft der Massen zur Tat nicht zum Vorschein gekommen ist und solange die äußeren Umstände nicht eine offenkundige Krise herbeigeführt haben. Wenn aber eine solche Losung einmal aufgestellt ist, dann wäre es direkt schmachvoll, vor ihr wieder zurückzuweichen, sich wieder auf die moralische Kraft, auf die Bedingungen des Heranwachsens der Grundlage des Aufstandes, auf die „möglichen Übergänge" usw. usw. zurückzuziehen. Nein, sind die Würfel einmal gefallen, so muss man alle Ausflüchte beiseite lassen, so muss man den breitesten Massen direkt und offen erklären, welches jetzt die praktischen Bedingungen des erfolgreichen Umsturzes sind.

Wir haben noch lange nicht alle Fehler der iskristischen Resolution erschöpft, die für denkende Menschen, die nicht „dem flüchtigen Augenblick nachjagen", auf lange Zeit ein trauriges Denkmal der Vulgarisierung der sozialdemokratischen Aufgaben bedeuten wird. Für uns ist es wichtiger, der Grundquelle der Irrtümer nachzugehen, als alle, sogar die relativ geringen Erscheinungen des grundlegenden Fehlers aufzuzählen. Deshalb erwähnen wir nur nebenbei das Unsinnige und Reaktionäre der Idee, der Duma „Ultimaten" (ein kriegerisches Wort, das ohne militärische Macht nach abgeschmackter Prahlerei riecht) zu stellen, sowie das Bestreben, diese Duma in eine revolutionäre Versammlung zu verwandeln* – und gehen zur allgemeinen Bedeutung der Losung „revolutionäre Selbstverwaltung des Volkes" über.

In dieser Losung, oder richtiger in ihrer Verwandlung in die zentrale Losung, liegt die Wurzel aller Schwankungen der Iskra". Die „Iskra" versuchte diese Losung durch die Berufung auf die „Dialektik" zu rechtfertigen, auf dieselbe Plechanowsche Dialektik, dank der die „organisatorische Nebelhaftigkeit" der „Iskra" von Plechanow zuerst in Schutz genommen und nachher bloßgestellt wurde.

Die revolutionäre Selbstverwaltung des Volkes ist, wie wir sagten, nicht der Prolog des Aufstandes, nicht der „natürliche Übergang" zum Aufstand, sondern sein Epilog. Ohne den Sieg des Aufstandes kann man nicht im Ernst von einer wirklichen und vollen Selbstverwaltung des Volkes sprechen. Und wir fügten hinzu, dass schon der Gedanke der Verlegung des Schwergewichtes auf die staatliche Verwaltung und nicht auf die Staatsform reaktionär, dass die Identifizierung der revolutionären Selbstverwaltung mit der revolutionären Armee der größte Unsinn ist und dass der Sieg der revolutionären Armee unbedingt von der Schaffung einer revolutionären Selbstverwaltung begleitet ist, während die revolutionäre Selbstverwaltung noch nicht unbedingt eine revolutionäre Armee einschließt.

Die „Iskra" versuchte den Wirrwarr ihrer bewussten Losungen mit dem Hinweis auf die „Dialektik" des unbewussten, elementaren Prozesses zu rechtfertigen.1 Das Leben kennt nämlich keine scharfen Grenzen. Arbeitsbörsen existieren auch jetzt („Sozialdemokrat", Nr. 122), da habt ihr die Elemente der Selbstverwaltung. Prolog und Epilog sind im dialektischen Entwicklungsprozess oft mit einander verflochten.

Das letztere ist durchaus richtig. Ja, der Prozess der wirklichen Entwicklung geht immer kompliziert vor sich, drängt ein Stückchen des Epilogs vor den eigentlichen Prolog. Bedeutet das aber, dass es dem Führer einer zielbewussten Partei gestattet ist, die Aufgaben des Kampfes durcheinanderzubringen, den Prolog mit dem Epilog zu verwechseln? Kann die Dialektik des verwickelten elementaren Prozesses eine Verwirrung in der Logik klassenbewusster Sozialdemokraten rechtfertigen? Bedeutet das nicht, die Dialektik im Sinne von Marx durch die Dialektik im Sinne Plechanows zu ersetzen?

Um unseren Gedanken anschaulicher zu machen, nehmen wir ein Beispiel. Nehmen wir an, dass nicht von einer demokratischen, sondern von einer sozialistischen Umwälzung die Rede ist. Die Krise reift, die Epoche der Diktatur des Proletariats naht. Und nun stellen die Opportunisten die Losung: Konsumgenossenschaften, die Revolutionäre die Losung: Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat in den Vordergrund. Die Opportunisten argumentieren: die Konsumgenossenschaften sind eine reale Kraft der Proletarier, die Eroberung einer realen ökonomischen Position, ein wirkliches Stückchen Sozialismus; ihr Revolutionäre versteht nicht die dialektische Entwicklung, dieses Hineinwachsen des Kapitalismus in den Sozialismus, dieses Eindringen der sozialistischen Zellen in das Innere des Kapitalismus selbst, dieses Aushöhlen und Füllen des Kapitalismus mit neuem, sozialistischem Inhalt.

Ja, antworten die Revolutionäre, wir sind damit einverstanden, dass die Konsumgenossenschaften in einem gewissen Sinne ein Stückchen Sozialismus sind. Erstens ist die sozialistische Gesellschaft eine einzige Konsumgenossenschaft mit einer planmäßig organisierten Produktion für den Konsum; zweitens kann man den Sozialismus ohne eine mächtige, vielseitige Arbeiterbewegung nicht verwirklichen, und eine dieser vielen Seiten bilden unbedingt die Konsumgenossenschaften. Aber darum geht es hier nicht. Solange die Macht in den Händen der Bourgeoisie bleibt, bleiben die Konsumgenossenschaften ein jämmerliches Stückchen, das keine ernste Änderungen sichert, keine entschiedenen Änderungen hineinbringt und zuweilen sogar vom ernsten Kampfe für den Umsturz ablenkt. Die Erfahrungen, die die Arbeiter in den Konsumgenossenschaften gewinnen, sind sehr nützlich – darüber gibt es nichts zu streiten. Aber ein Arbeitsfeld für eine ernste Verwertung dieser Erfahrungen kann nur der Übergang der Macht in die Hände des Proletariats schaffen. Dann wird das System der Konsumgenossenschaften auch über den Mehrwert selbst verfügen. Jetzt ist das Gebiet der Verwendung dieser nützlichen Einrichtung durch das kärgliche Maß des Arbeitslohnes bis zur Dürftigkeit eingeengt. Nachher wird es wirklich ein Konsumverband freier Arbeiter sein; jetzt ist es ein Verband von Lohnsklaven, die vom Kapital niedergehalten und erdrückt werden. Und doch sind die Konsumgenossenschaften ein Stückchen Sozialismus. Der dialektische Prozess der Entwicklung schiebt wirklich in den Rahmen des Kapitalismus Elemente der neuen Gesellschaft hinein, sowohl materielle als auch geistige Elemente. Allein die Sozialisten müssen es verstehen, das Stückchen vom Ganzen zu unterscheiden, müssen das Ganze und nicht ein Stückchen als Losung aufstellen. Sie müssen jener Flickarbeit, die nicht selten die Kämpfer vom wahrhaft revolutionären Weg abbringt, die fundamentalen Bedingungen des wirklichen Umsturzes entgegenstellen.

Wer hat, nach der Meinung der „Iskra", in diesem Streite recht?

So ist es auch mit der Losung „revolutionäre Selbstverwaltung" in der Epoche der demokratischen Umwälzung. Wir sind nicht gegen eine revolutionäre Selbstverwaltung, wir haben ihr schon längst einen bestimmten bescheidenen Platz in unserem Minimalprogramm eingeräumt (siehe den Paragraph über die breite lokale Selbstverwaltung). Wir sind damit einverstanden, dass sie ein Stückchen demokratischer Umwälzung ist, wie schon in Nr. 15 des „Proletarij" unter Hinweis auf die Duma in Smolensk betont wurde. Die demokratische Umwälzung wäre unmöglich ohne eine mächtige, vielseitige demokratische Bewegung, und eine dieser vielen Seiten ist die Bewegung auf dem Gebiete der Selbstverwaltung. Die demokratische Umwälzung wäre aber z.B. auch ohne die revolutionäre Schule unmöglich, die in ebensolchem Maße einen unzweifelhaften Beweis für die faktische Zersetzung des Zarismus bildet wie die gegen den Willen der Polizei gebildeten Arbeitsbörsen, wie die Gärung unter der Geistlichkeit, wie die gesetzwidrige lokale Selbstverwaltung und anderes mehr. Welcher Schluss folgt daraus? Überlegt euch das, Genossen von der „Iskra"! Etwa jener, dass man alle diese Stückchen der Zersetzung zur Gesamtlosung des Aufstandes zusammenfassen muss? Oder der, dass man die Losung des Aufstandes verkrüppeln muss, indem man sie mit einem dieser Stückchen der Selbstverwaltung verbindet?

Organisation einer revolutionären Selbstverwaltung oder, was dasselbe ist, Organisation der Volkskräfte für den Aufstand" – schrieb die tapfere „Iskra" (Nr. 109, S. 2, Artikel 1). Das ist dasselbe, als wenn man sagen wollte: die Organisation der revolutionären Schule ist die Organisation der Kräfte zum Aufstand; die Organisation der Gärung unter der Geistlichkeit ist die Organisation der Kräfte zum Aufstand; die Organisation von Konsumgenossenschaften ist die Organisation der Kräfte für die sozialistische Umwälzung. Nein, ihr seid schlechte Dialektiker, Genossen von der „Iskra". Ihr könnt nicht dialektisch überlegen, obwohl ihr euch ausgezeichnet drehen und winden könnt, so wie Plechanow in der Frage der organisatorischen und taktischen Nebelhaftigkeiten in euren Ansichten. Ihr habt übersehen, dass im Falle des Sieges des Aufstandes alle diese Stückchen der Umwälzung unvermeidlich zu einem ungeteilten, abgeschlossenen „Epilog" des Aufstandes verschmelzen werden, während ohne den Sieg des Aufstandes die Stückchen eben Stückchen, jämmerliche Stückchen bleiben, die nichts ändern und nur die Philister befriedigen.

Die Moral des Ganzen: 1. Die Opportunisten der Sozialdemokratie haben sowohl am Vorabend der sozialistischen als auch am Vorabend der demokratischen Umwälzung die üble Gewohnheit, sich mit einem der kleinen Stückchen des großen Prozesses wie mit einem Paradestück zu brüsten, es in den Rang des Ganzen zu erheben, ihm das Ganze unterzuordnen und damit dieses zu verkrüppeln, wobei sie sich selbst in Nachbeter der inkonsequenten und feigen Reformisten verwandeln. 2. Die Dialektik des elementaren Prozesses, der immer und unbedingt verwickelt ist, rechtfertigt nicht die Verwirrung der logischen Schlussfolgerungen und politischen Losungen, die oft genug (aber nicht unbedingt) verwickelt sind.

P. S. Der Artikel war schon umbrochen, als wir eine ausländische „Iskra'-Ausgabe der Resolutionen der „Konstituierenden Konferenz des Südens" erhielten. Der Text der Resolution über die Reichsduma unterscheidet sich etwas von dem in Russland herausgegebenen, den wir oben abgedruckt haben. Diese Unterschiede sind aber nicht wesentlich und berühren unsere Kritik nicht im geringsten.

* Wenn wir uns im bevorstehenden Kampf gegen den Zarismus stark zeigen, wird die Reichsduma unausweichlich nach links abschwenken (wenigstens ihr liberaler Teil, vom reaktionären sprechen wir nicht), aber den Versuch machen, die Duma ernsthaft zu beeinflussen, ohne die zaristische Macht zu zerstören, ist ebenso dumm, als wenn Japan China „Ultimaten" stellen oder der Hilfe Chinas eine ernste Bedeutung beimessen wollte, ohne die Militärmacht Russlands zu zerstören. Nach dem 18. März 1848 hat die preußische Duma (der Vereinigte Landtag) augenblicklich ein Dekret über die Einberufung einer konstituierenden Versammlung unterzeichnet; bis dahin blieben alle „Ultimaten" der Revolutionäre, alle ihre Bestrebungen, auf die Duma einzuwirken, alle ihre Drohungen in den Augen der in der Duma sitzenden Petrunkjewitsch, Roditschew, Miljukow usw. leere Worte.

1 Gemeint ist das Feuilleton Martows (unterschrieben „L. M.". „An der Reihe. Der Dumaboykott und die revolutionäre Selbstverwaltung des Volkes" in Nr. 109 der „Iskra" vom 29. August/11. September 1905. Derselbe Artikel ist auch weiter unten erwähnt.

2 Im vorliegenden Falle hatte Lenin den in Nr. 12. vom 18./31. August veröffentlichten Artikel „Die revolutionäre Selbstverwaltung der Bürger" von Martow im Auge.

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