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Wladimir I. Lenin 19050905 Im Schlepptau der monarchistischen Bourgeoisie oder an der Spitze des revolutionären Proletariats und Bauerntums

Wladimir I. Lenin: Im Schlepptau der monarchistischen Bourgeoisie

oder an der Spitze des revolutionären Proletariats und Bauerntums1

[Proletarij", Nr. 15, 23. August/5. September 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 221-235]

Die Taktik der Sozialdemokratie in der Frage der Reichsduma nimmt unter allen Fragen des revolutionären Kampfes, die auf der Tagesordnung stehen, auch weiterhin die erste Stelle ein. Die Meinungsverschiedenheiten, die über diese Taktik zwischen dem opportunistischen („Iskra") und dem revolutionären („Proletarij") Flügel der SDAPR aufgetaucht sind, müssen mit aller Sorgfalt untersucht werden, und zwar nicht zum Zwecke einer streitsüchtigen Polemik (die zuweilen zu einem Gezänk ausartet), sondern im Interesse der völligen Klärung der Frage und um den lokalen Funktionären bei der Ausarbeitung möglichst präziser, bestimmter und einheitlicher Losungen behilflich zu sein.

Zunächst ein paar Worte über die Entstehung dieser Meinungsverschiedenheiten. In Nr. 12 des „Proletarij", noch vor der Herausgabe des Gesetzes über die Reichsduma, setzten wir die Grundlagen unserer Taktik und unserer Differenzen mit der „Iskra" auseinander. Wir forderten: 1. die Unterstützung der Boykottidee im Sinne der Verstärkung der Agitation und des Appells an das Volk, im Sinne der Unterstützung des linken Flügels der bürgerlichen Demokratie durch das Proletariat und der unnachgiebigen Entlarvung des Verrats ihres rechten Flügels; 2. auf jeden Fall einen aktiven Boykott und keine „passive Enthaltung", d.h. die „Verzehnfachung der Agitation" bis zum „gewaltsamen Eindringen in die Wählerversammlungen", und schließlich 3. eine „klare, genaue und offene Agitationslosung", nämlich: bewaffneter Aufstand, revolutionäre Armee, provisorische revolutionäre Regierung. Die Losung der „Iskra" (Nr. 106): „Organisation der revolutionären Selbstverwaltung" lehnten wir als konfus und weil sie den Oswoboschdjenije-Leuten, d.h. der monarchistischen Bourgeoisie, das Wasser auf die Mühlen treibt, entschieden ab. Wir vermerkten dabei gleich – wie vorausahnend, dass die „Iskra" die Differenzen wieder „vermehren" wird – unsere Zustimmung zur Beurteilung der Idee des passiven Boykotts durch die „Iskra".

Wenn daher die „Iskra" jetzt in ihrer Nummer 1082 irgendwelche Anspielungen auf eine Theorie der „Nichteinmischung", des „Absentismus", der „Enthaltung", der „verschränkten Arme" u.a.m. macht, so weisen wir vor allem solche „Einwände" zurück, denn das ist keine Polemik, sondern nur ein Versuch, den Gegner zu „sticheln". Durch derartige „polemische" Methoden, die durch die Unterstellung gekrönt werden, als wenn einige Führer in die provisorische Regierung gelangen möchten, hat die neue „Iskra" schon längst in breitesten Kreisen der Sozialdemokratie eine ganz bestimmte Stimmung gegen sich hervorgerufen.

Jedenfalls läuft das Wesen der Meinungsverschiedenheiten darauf hinaus, dass die „Iskra" unsere Agitationslosung, die nach unserer Meinung im Mittelpunkt stehen soll (bewaffneter Aufstand, revolutionäre Armee, provisorische Revolutionsregierung), nicht annimmt. Der „Proletarij" hält es jedoch für unbedingt unzulässig, „die Losung des Aufstandes durch die Losung der Organisierung einer revolutionären Selbstverwaltung zu eskamotieren oder auch nur hinauszuschieben" (Nr. 12 des „Proletarij"). Alle übrigen Meinungsverschiedenheiten sind von verhältnismäßig geringerer Bedeutung. Dagegen ist weiterhin besonders wichtig der Umstand, dass die „Iskra" in ihrer Nr. 108 schon beginnt (wie das schon einige Mal bei ihr der Fall war), zurückzuweichen, sich hin und her zu drehen und herauszuwinden: die Losung der Organisation einer revolutionären Selbstverwaltung ergänzt sie durch die Losung der „aktiven Kampfaktionen der Volksmassen" (Allah weiß, worin sich das vom bewaffneten Aufstand unterscheidet). Die „Iskra" versteigt sich sogar so weit, zu schreiben, dass „die Organisation der revolutionären Selbstverwaltung die einzige Art wirklicher ,Organisation' des allgemeinen Volksaufstandes ist". Nr. 108 der „Iskra“ traf am 15./28. August ein und am 24. August n. St. erschien in der Wiener „Arbeiter-Zeitung" ein Artikel des Gen. Martow, der den „Plan" der „Iskra" ganz und gar im Geiste der Nr. 106 und nicht im Geiste der „Verbesserungen" in Nr. 108 auseinandersetzt Diesen wertvollen Artikel des Gen. Martow übersetzen wir weiter unten in seinem hauptsächlichsten Teil als Muster „sozialdemokratischer Manilowerei".

Wir wollen versuchen, uns in dem Wirrwarr zurechtzufinden.

Um die Sache klarzustellen, müssen wir uns vor allem darüber Rechenschaft geben, welche Kräfte – und auf welche Weise – im gegenwärtigen Augenblick in der russischen Revolution „Geschichte machen". Der Absolutismus hat die Theorie der „Beratung" des Zaren mit dem Volke angenommen. Während er sich mit dem unter Polizeiaufsicht gesiebten Häuflein Erwählter der Grundherren und Händler zu beraten wünscht, schickt er sich an, die Revolution mit verzweifelter Grausamkeit zu unterdrücken. Die breitesten Kreise der monarchistischen Bourgeoisie (die Oswoboschdjenije-Leute bzw. die konstitutionell-„demokratische" Partei) stehen hinter der Theorie der Verständigung des Zaren mit dem Volke. Die Bourgeoisie bringt mit dieser Theorie ihren Verrat an der Revolution, ihre Bereitschaft, sie anfangs zu unterstützen und sich dann mit der Reaktion gegen sie zu verbinden, zum Ausdruck. Das revolutionäre Proletariat, soweit es von der Sozialdemokratie geführt wird, fordert die Volkssouveränität, d.h. die vollständige Vernichtung der Kräfte der Reaktion und vor allem den tatsächlichen Sturz der zaristischen Regierung und seine Ersetzung durch eine provisorische Revolutionsregierung. Das Proletariat strebt (oft unbewusst, aber unbeugsam und energisch) danach, die Bauernschaft zu sich heranzuziehen und mit ihrer Hilfe die Revolution trotz der Wankelmütigkeit und des Verrats der Bourgeoisie zum vollen Siege zu führen.

Die Reichsduma ist zweifellos ein Zugeständnis an die Revolution, aber ein Zugeständnis, das zu dem Zwecke gemacht wurde (und das ist noch weniger zweifelhaft), um die Revolution zu unterdrücken, nicht um eine Konstitution zu geben. Die bürgerlichen „Verständigungsfreunde" wollen eine Konstitution erlangen, um die Revolution zu unterdrücken; Herr Winogradow hat (in den „Russkije Wjedomosti") dieses Bestreben der liberalen Bourgeoisie, das sich aus ihrer Klassenlage unausweichlich ergibt, mit besonderer Klarheit zum Ausdruck gebracht.3

Es fragt sich nun, welche Bedeutung der vom „Verband der Verbände" (siehe Nr. 14 des „Proletarij"), also von der breitesten Organisation der bürgerlichen Intelligenz4 gefasste Beschluss, die Duma zu boykottieren, angesichts dieser Lage hat. Die bürgerliche Intelligenz will im großen Ganzen auch die „Verständigung". Sie schwankt daher, wie der „Proletarij" schon oftmals dargelegt hat, ebenfalls zwischen Reaktion und Revolution, zwischen Schacher und Kampf, zwischen dem Kompromiss mit dem Zaren und dem Aufstand gegen den Zaren hin und her. Das kann bei der Klassenlage der bürgerlichen Intelligenz auch gar nicht anders sein. Es wäre aber ein Fehler, zu vergessen, dass diese Intelligenz mehr geeignet ist, die in einem breiteren Sinne verstandenen hauptsächlichen Interessen der ganzen bürgerlichen Klassen zum Ausdruck zu bringen, zum Unterschied von den zeitweiligen und engeren Interessen nur der „Spitzen" der Bourgeoisie. Die Intelligenz ist besser geeignet, die Interessen der breiten Masse des Kleinbürgertums und der Bauernschaft zum Ausdruck zu bringen. Sie ist deshalb, bei all ihrer Wankelmütigkeit, zum revolutionären Kampf gegen den Absolutismus besser geeignet, und unter der Voraussetzung einer Annäherung an das Volk kann sie in diesem Kampfe zu einem starken Kraftfaktor werden. Auf sich allein angewiesen ohnmächtig, könnte sie bedeutenden Schichten der Kleinbürger und Bauern gerade das geben, was diesen mangelt: Wissen, Programm, Führung, Organisation.

Das Wesen der „Boykott"-Idee, wie sie beim „Verband der Verbände" entstanden ist, besteht folglich darin, dass der erste Schritt der Großbourgeoisie zur Beratung und Verständigung mit dem Zaren unvermeidlich den ersten Schritt der kleinbürgerlichen Intelligenz zur Annäherung an das revolutionäre Volk hervorgerufen hat. Die Grundherren und Kapitalisten sind nach rechts gerutscht, die bürgerliche Intelligenz, die Vertreterin des Kleinbürgertums, ist nach links gerutscht. Jene gehen zum Zaren, ohne im Entferntesten darauf zu verzichten, ihm immer wieder mit der Macht des Volkes zu drohen. Die Intelligenz überlegt, ob sie zum Volke gehen soll, ohne noch mit der Theorie der „Verständigung" endgültig zu brechen, ohne noch ganz den revolutionären Weg zu beschreiten.

Darin liegt das Wesen der Boykottidee, die, wie wir schon in Nr. 12 des „Proletarij" gezeigt haben, innerhalb der bürgerlichen Demokratie entstanden ist. Nur sehr kurzsichtige und oberflächliche Leute können in dieser Idee Nichteinmischung, Fernbleiben, Enthaltung u. ä. erblicken. Die bürgerliche Intelligenz braucht sich gar nicht zu enthalten, denn sie wird durch den hohen Wahlzensus an und für sich von der Reichsduma ferngehalten. Die bürgerliche Intelligenz stellt in ihrer Resolution über den Boykott die „Mobilisierung aller demokratischen Elemente des Landes" an die erste Stelle. Die bürgerliche Intelligenz ist das tätigste, entschiedenste und kampflustigste Element der Oswoboschdjenije-Leute, der konstitutionell-„demokratischen" Partei. Diese Intelligenz wegen der Boykottidee der Enthaltung u. ä. zu beschuldigen oder ihr sogar die Unterstützung ihrer Idee sowie ihrer Entwicklung zu versagen, heißt aus Kurzsichtigkeit der monarchistischen Großbourgeoisie in die Hände arbeiten, deren Organ „Oswoboschdjenije" nicht umsonst gegen die Boykottidee kämpft.

Die Richtigkeit der auseinandergesetzten Ansicht wird, abgesehen von allgemeinen und grundlegenden Erwägungen, durch wertvolle Eingeständnisse des Herrn –ss– in Nr. 75 des „Oswoboschdjenije"5 bestätigt. In höchstem Grade bemerkenswert ist der Umstand, dass Herr –ss– die Anhänger der Boykottidee zur „radikalen", ihre Gegner aber zur „gemäßigten" Gruppe rechnet. Jene beschuldigt er einer „Narodnaja Wolja"-Taktik, weil sie die Fehler der „aktiven revolutionären Gruppen" nachahmen (eine ehrenvolle Beschuldigung für jeden, gegen den sie vom „Oswoboschdjenije" erhoben wird); von diesen zweiten sagt er direkt, dass sie zwischen zwei Feuern stehen: zwischen dem Absolutismus und der „sozialen (sic!) Revolution", wobei der arme Herr –ss– aus Angst um ein Haar die demokratische Republik mit der sozialen Revolution verwechselt hätte! Das wertvollste Eingeständnis des Herrn –ss– ist das folgende: für die Radikalen – sagt er, indem er den Kongress des Verbandes der Verbände mit dem Kongress der Semstwo-Männer vergleicht – „lag der Schwerpunkt unzweifelhaft (hört! hört!) in der Forderung nach Änderung der Wahlordnung, während für die mehr gemäßigte Gruppe das Hauptinteresse in der Erweiterung der Rechte der Duma bestand".

Damit ist alles gesagt! Herr –ss– hat die geheimsten „Gedanken" der Grundherren und Kapitalisten ausgeplaudert, die wir schon hunderte Mal aufgedeckt haben. Ihr „Hauptinteresse" besteht nicht in der Heranziehung des Volkes zu den Wahlen (davor fürchten sie sich), sondern in der Erweiterung der Rechte der Duma, d.h. in der Verwandlung dieser Versammlung der Großbourgeoisie aus einer die Gesetze beratenden in eine gesetzgebende Versammlung. Hier liegt der Hund begraben. Die Großbourgeoisie kann sich mit einer „die Gesetze beratenden" Duma niemals zufrieden geben. Das wird unausweichlich zu Verfassungskonflikten in der Duma führen. Aber die Großbourgeoisie kann niemals eine verlässliche und treue Anhängerin der Volkssouveränität sein. Sie wird immer mit einer Hand die Verfassung (für sich) entgegennehmen und mit der anderen Hand dem Volke die Rechte wegnehmen oder der Erweiterung der Volksrechte Widerstand entgegensetzen. Die Großbourgeoisie kann nicht umhin, nach einer Verfassung zu streben, die ihre Vorrechte sichert. Die radikale Intelligenz kann nicht umhin, danach zu streben, die Interessen der breitesten Massen des Kleinbürgertums und der Bauernschaft zum Ausdruck zu bringen. Der rechte Flügel der bürgerlichen Demokratie, der wenigstens den Sperling in die Hand bekommen hat, beginnt mit einem Male „klug zu werden" und spricht sich schon, wie wir gesehen haben, gegen „illegale Kongresse" aus. Der linke Flügel musste sehen, dass er nicht einmal diesen Sperling in die Hand bekommen hat und dass die Gutsherren und Kapitalisten unter Ausnützung der Dienste des „dritten Elements" (der Agitation, Propaganda, Organisation der Presse usw.) bereit sind, sie zu verraten, indem sie in der Reichsduma ihre Anstrengungen nicht auf die Rechte des Volkes, sondern auf ihre gegen das Volk gerichteten Rechte verwenden. Und nun, wo sie den Beginn des Verrats spürt, verflucht die bürgerliche Intelligenz die Reichsduma als „freche Herausforderung" der Regierung an alle Völker Russlands, proklamiert den Boykott und rät zur „Mobilisierung der demokratischen Elemente".

Angesichts einer solchen Lage der Dinge über die Idee In Boykotts herfallen, hieße für die Sozialdemokraten die Rolle politischer Dummköpfe spielen. Der richtige Klasseninstinkt des revolutionären Proletariats gab der Mehrheit der russischen Genossen die Idee des aktiven Boykotts ein. Das bedeutet: den linken Flügel unterstützen und ihn zu sich heranziehen, für die Herauskristallisierung der Elemente der revolutionären Demokratie sorgen, um mit ihnen gemeinsam den Absolutismus zu schlagen. Die radikale Intelligenz reicht uns einen Finger – ergreifen wir die ganze Hand! Wenn der Boykott keine Prahlerei, wenn die Mobilisierung keine Phrase und die Empörung über die freche Herausforderung keine Pose ist, dann müsst ihr mit den „Verständigungsfreunden" brechen, müsst ihr euch auf die Seite der Theorie der Volkssouveränität stellen und die einzig folgerichtigen und einheitlichen Losungen der Demokratie: bewaffneter Aufstand, revolutionäre Armee, provisorische revolutionäre Regierung, annehmen, durch die Tat annehmen. Sich jene angliedern, die die Losung wirklich annehmen, und vor allem Volke jene in die Mistgrube werfen, die auf der Seite der „Verständigungsfreunde" verbleiben – das ist die einzig richtige Taktik des revolutionären Proletariats.

Unsere Neu-Iskristen haben sowohl die klassenmäßige Herkunft als auch die reale politische Bedeutung der Boykottidee verschlafen und Löcher in die Luft geschossen. Genosse Tscherewanin schreibt in Nr. 108:

Wie aus den Flugblättern des Komitees des Dongebietes und der St. Petersburger Gruppe zu ersehen ist, sprechen sich diese beiden Organisationen" (wohlgemerkt: menschewistische. Anm. d. Red. d. „Proletarij") „für den Boykott aus. Die Teilnahme an den Wahlen zu einer solchen Duma halten sie für schändlich, für einen Verrat an der Sache der Revolution, und sie brandmarken im Voraus jene Liberalen, die an den Wahlen teilnehmen werden. Auf diese Weise wird die Möglichkeit ausgeschlossen, die Reichsduma zu einem Instrument der demokratischen Revolution zu machen, und die darauf gerichtete Agitation wird, wie sich zeigt, zurückgewiesen."

Die von uns unterstrichenen Worte zeigen gerade den skizzierten Fehler. Denn jene, die gegen die „Nichteinmischung" deklamieren, verdunkeln doch nur die wirklich ernste Frage der Arten der Einmischung. Es gibt zwei Arten der Einmischung, zwei Typen von Losungen. Die erste Art: „Verzehnfachung der Agitation, Veranstaltung von Versammlungen allüberall, Ausnützung der Wählerversammlungen, sei es auch auf dem Wege des gewaltsamen Eindringens, Veranstaltung von Demonstrationen, politischen Streiks usw. usw." („Proletarij", Nr. 12). Die Losungen dieser agitatorischen Kampagne haben wir schon erläutert. Die andere Art: Übernahme der „revolutionären Verpflichtung, in die Reichsduma zu gehen, um ihre Umwandlung in eine revolutionäre Versammlung durchzusetzen, die den Absolutismus stürzt und die konstituierende Versammlung einberuft" (Gen. Tscherewanin in der Nr. 108 der „Iskra"), oder: „Auf die Wahlmänner in dem Sinne einen Druck auszuüben, dass in die Duma nur entschiedene Anhänger der demokratischen und freien Volksvertretung gewählt werden" (Gen. Martow in der Wiener „Arbeiter-Zeitung").

Diese verschiedenen Arten spiegeln auch die „zwei Taktiken" der Sozialdemokratie wider. Der opportunistische Flügel der Sozialdemokratie ist immer geneigt, auf die bürgerliche Demokratie in der Weise einen „Druck auszuüben", dass sie ihr Verpflichtungen abverlangt. Der revolutionäre Flügel der Sozialdemokratie „drückt" auf die bürgerliche Demokratie und stößt sie nach links dadurch, dass er sie wegen ihrer Rechtsschwankungen brandmarkt, dass er in der Masse die Losungen der entschiedenen Revolution verbreitet. Die Theorie des „Abverlangens von Verpflichtungen", diese berühmte Theorie der Lackmuspapiere Starowjers, ist die höchste Naivität und nur geeignet, im Proletariat Verwirrung zu stiften und es zu demoralisieren. Wem will Gen. Tscherewanin die übernommene „Verpflichtung" zur Einlösung präsentieren? Am Ende dem lieben Gott? Weiß denn Gen. Tscherewanin nicht, dass unter dem Druck der materiellen Klasseninteressen alle und jedwede Verpflichtungen zum Teufel gehen? Ist denn der Gedanke desselben Gen. Tscherewanin, die bürgerlichen Abgeordneten der Reichsduma dem revolutionären Proletariat durch „imperative Mandate" zu verpflichten, nicht eine Kinderei? Müsste doch Gen. Martow, wollte er seinen Plan in der Tat ausführen, vor der Arbeiterklasse erklären, dass die Herren X oder Y aus der Versammlung der Grundherren „entschiedene Anhänger einer freien und demokratischen Volksvertretung" seien! Solche Erklärungen abgeben, hieße aber, im höchsten Maße politische Demoralisation säen!

Und noch eines beachte man: alle diese „revolutionären Verpflichtungen" der Herren Petrunkjewitsch, Roditschew und tutti quanti6, alle diese „imperativen Mandate", alle diese Reverse für „entschiedene Unterstützung einer demokratischen und freien Volksvertretung" (kann man einen allgemeineren, unklareren, nebelhafteren Ausdruck finden?) würden im Namen der Sozialdemokratie hinter dem Rücken des Proletariats genommen und gegeben. Denn offen kann das nicht gemacht werden. Ja sogar bei offener Agitation in freien Ländern werden die Politiker nicht so sehr durch private Vereinbarungen, sondern vielmehr durch die Programme der Parteien verpflichtet. Bei uns aber gibt es bei den Wahlen zur Reichsduma keine bestimmten und formierten politischen Parteien und wird es auch keine geben! Da seht ihr nun, Genossen von der neuen „Iskra", wie ihr wieder in den Sumpf geraten seid: in Worten gibt es bei euch nichts als „die Masse", „vor der Masse", „unter Teilnahme der Masse", „Selbsttätigkeit der Masse", in der Tat aber läuft euer „Plan" auf geheime Abmachungen über die Verpflichtung des Herrn Petrunkjewitsch hinaus, nicht ein Verräter der Revolution, sondern ihr „entschiedener" Anhänger zu sein!

Die Neu-Iskristen haben sich selbst ad absurdum geführt. In Russland denkt man nirgends und denkt niemand, sogar nicht einmal von ihren Anhängern, auch nur daran, sich auf derartige alberne „revolutionäre Verpflichtungen" einzulassen. Nein. Nicht so muss man eingreifen. Man muss in der Weise eingreifen, dass man die Theorie der Verständigung und die bürgerlichen Verständigungsfreunde, alle diese Petrunkjewitsch u.a.m. schonungslos anprangert. Ihren bürgerlichen Verrat an der Revolution enthüllen, gegen den Absolutismus (und auf jeden Fall auch gegen die Duma) die revolutionären Kräfte zum Aufstand vereinigen – das ist die einzig verlässliche Art, auf die Duma wirklich „einen Druck auszuüben" und den Sieg der Revolution wirklich vorzubereiten. Nur unter dieser Losung dürfen wir in die Wahlagitation eingreifen, nicht zum Zwecke von Wahlmanövern, Kompromissen und Verpflichtungen, sondern zur Propaganda des Aufstandes. Und nur die reale Kraft des bewaffneten Volkes wird die Möglichkeit geben, die möglichen und wahrscheinlichen künftigen Konflikte innerhalb der Reichsduma oder zwischen der Reichsduma und dem Zaren für die Revolution (und nicht für eine beschränkt bürgerliche Verfassung) auszunützen. Weniger Vertrauen zur Reichsduma und mehr Vertrauen zu den Kräften des sich bewaffnenden Proletariats, Herrschaften!

Damit sind wir auch bei der Losung angelangt: Organisierung der revolutionären Selbstverwaltung. Wir wollen sie einmal aufmerksam untersuchen.

Erstens ist es rein theoretisch unrichtig, anstelle der Losung der Volkssouveränität die der revolutionären Selbstverwaltung in erster Linie aufzustellen. Diese bezieht sich auf die Verwaltung, jene auf die staatliche Ordnung. Die Losung der revolutionären Selbstverwaltung ist infolgedessen vereinbar mit der verräterischen bürgerlichen Theorie der „Verständigung" (das sich selbst verwaltende Volk mit dem Zaren an der Spitze, der nicht verwaltet, sondern herrscht"); die Losung der Volks-Souveränität ist mit dieser Theorie unbedingt unvereinbar, Jene Losung ist für die Oswoboschdjenije-Leute annehmbar, diese aber unannehmbar.

Zweitens ist es höchst unsinnig, die Organisierung der revolutionären Selbstverwaltung und die Organisierung des allgemeinen Volksaufstandes miteinander zu identifizieren. Der Aufstand ist der Bürgerkrieg und der Krieg erfordert eine Armee. Dagegen erfordert die Selbstverwaltung an und für sich keine Armee. Es gibt Länder, wo eine Selbstverwaltung, aber keine Armee besteht. Und die revolutionäre Selbstverwaltung bedarf keiner revolutionären Armee, wenn die Revolution auf norwegische Art vor sich geht: dort wurde dem König „gekündigt" und das Volk befragt. Aber wenn das Volk von einem Despotismus unterdrückt wird, der sich auf die Armee stützt und den Bürgerkrieg eröffnet, dann ist die Identifizierung der revolutionären Selbstverwaltung mit der revolutionären Armee bei Hervorhebung jener und Verschweigen dieser eine geradezu unsagbare Abgeschmacktheit, die entweder einen Verrat an der Revolution oder eine krasse Beschränktheit zum Ausdruck bringt.

Drittens bestätigt auch die Geschichte die übrigens auch sonst handgreifliche Wahrheit, dass nur ein voller und entscheidender Sieg des Aufstandes die Möglichkeit der Organisierung einer wirklichen Selbstverwaltung völlig sichert. Wäre in Frankreich die Revolution in der Gemeindeverwaltung im Juli 1789 möglich gewesen, wenn nicht am 14. Juli das sich erhebende und bewaffnete Paris die königlichen Truppen besiegt, die Bastille erstürmt und so den Widerstand des Absolutismus an seiner stärksten Stelle gebrochen hätte? Oder berufen sich vielleicht die Neu-Iskristen dabei auf das Beispiel der Stadt Montpellier, wo die Revolution in der Gemeindeverwaltung, die Organisierung der revolutionären Selbstverwaltung, friedlich vor sich ging, wo sogar dem königlichen Kommissar für die Liebenswürdigkeit, mit der er bei seiner eigenen Absetzung mitwirkte, der Dank ausgesprochen wurde? Erwartet nicht vielleicht die neue „Iskra", dass wir in der Zeit unserer agitatorischen Kampagne anlässlich der Dumawahlen den Gouverneuren für ihre Selbstabsetzung vor der Einnahme der russischen Bastillen werden den Dank aussprechen können? Ist es denn nicht bezeichnend, dass im Frankreich des Jahres 1789 die Zeit der Revolution in der Gemeindeverwaltung mit der beginnenden Emigration der Reaktionäre zusammenfällt, während bei uns die Losung der revolutionären Selbstverwaltung anstatt der Losung des Aufstandes zu einer Zeit erhoben wird, wo die Revolutionäre noch in der Emigration sind? Als man einen hohen russischen Würdenträger fragte, warum am 6./19. Aug. nicht eine Amnestie gewährt wurde, antwortete er: „Aus welchem Grunde sollen wir 10.000 Menschen freilassen, die wir mit nicht geringer Mühe festgenommen haben und die schon morgen den verzweifelten Kampf gegen uns beginnen würden?" Dieser Würdenträger urteilte klug, aber jene, die von der „revolutionären Selbstverwaltung" reden, bevor diese 10.000 befreit sind, urteilen unklug.

Viertens beweist die heutige russische Wirklichkeit anschaulich die Unzulänglichkeit der Losung der „revolutionären Selbstverwaltung" und die Notwendigkeit der direkten und bestimmten Losung des Aufstandes. Man sehe doch, was am 2. August a. St. in Smolensk geschehen ist. Die Stadtvertretung erklärte die Einquartierung der Kosaken für ungesetzlich, stellte die Auszahlung von Geld an sie ein, organisierte zur Verteidigung der Bevölkerung eine städtische Miliz und wandte sich mit einem Aufruf an die Soldaten, keine Gewalttätigkeiten gegen die Bevölkerung zu verüben. Wir möchten wissen, ob unsere guten Neu-Iskristen das für genügend halten. Ist diese Miliz nicht als revolutionäre Armee, als Organ nicht nur der Verteidigung, sondern auch des Angriffes zu betrachten? Und zwar des Angriffes nicht nur gegen die Smolensker Kosakenhundertschaften, sondern gegen die absolutistische Regierung überhaupt? Sollte man diese Idee der Proklamierung einer revolutionären Armee und ihrer Aufgaben nicht propagieren? Kann man die Selbstverwaltung der Stadt Smolensk tatsächlich durch das Volk als gesichert betrachten, solange die revolutionäre Armee noch keinen entscheidenden Sieg über die zaristische Armee davongetragen hat?

Fünftens wird durch die Tatsachen unwiderleglich bewiesen, dass die Losung der revolutionären Selbstverwaltung anstelle der Losung des Aufstandes oder im Sinne (?) der Losung des Aufstandes für die Oswoboschdjenije-Leute nicht nur „annehmbar" ist, sondern dass sie sie schon angenommen haben. Man nehme Nr. 74 des „Oswoboschdjenije". Dort findet man eine entschiedene Verurteilung des „wahnsinnigen und verbrecherischen Predigens des bewaffneten Aufstandes" und zur gleichen Zeit eine Verteidigung der Stadtmilizen und der Organisierung von Organen der örtlichen Verwaltung als Elemente der künftigen provisorischen Regierung (vgl. Nr. 12 des „Proletarij").

Von welcher Seite man auch an die Frage herantritt – unabänderlich zeigt sich, dass die neue Losung der neuen „Iskra" eine Losung im Geiste der Oswoboschdjenije-Leute ist. Sozialdemokraten, die die Losung des bewaffneten Aufstandes, der revolutionären Armee und der provisorischen Regierung durch die Losung der Organisation der revolutionären Selbstverwaltung verdunkeln oder verdrängen, schwimmen im Schlepptau der monarchistischen Bourgeoisie, anstatt an der Spitze des revolutionären Proletariats und Bauerntums zu marschieren.

Man wirft uns vor, dass wir hartnäckig ein und dieselben Losungen „einhämmern". Wir rechnen uns diesen Vorwurf als Kompliment an. Unsere Aufgabe besteht ja auch darin, zugleich mit den allgemeinen Wahrheiten des sozialdemokratischen Programms unablässig die politischen Tageslosungen einzuhämmern. Wir haben die weiteste Verbreitung des den Liberalen verhassten „Viergespanns" (allgemeines, direktes, gleiches, geheimes Stimmrecht) erreicht. Wir haben die Arbeitermassen mit dem „Sechsgespann" der politischen Freiheiten bekanntgemacht (Wort-, Gewissens-, Presse-, Versammlungs-, Koalitions-, Streikfreiheit). Wir müssen jetzt Millionen und Milliarden Mal das „Dreigespann" der nächsten revolutionären Aufgaben (bewaffneter Aufstand, revolutionäre Armee, provisorische revolutionäre Regierung) wiederholen. Die Volkskräfte zur Erfüllung dieser Aufgaben wachsen elementar, nicht nur von Tag zu Tag, sondern von Stunde zu Stunde. Die Aufstandsversuche mehren sich, die Organisation des Aufstands wächst, die Bewaffnung schreitet vorwärts. Aus den Reihen der Arbeiter und Bauern, der Männer im Bauernkittel, in der Arbeiterbluse und im Soldatenrock, treten namenlose Helden hervor, die mit der Menge unzertrennlich verbunden sind und immer tiefer durchdrungen werden von dem edlen Fanatismus der Volksbefreiung. Unsere Sache ist es, dafür Sorge zu tragen, dass sich alle diese Flüsschen zu einem mächtigen Strom vereinigen und dass das Licht des zielbewussten, offenen, klaren und bestimmten revolutionären Programms unserer nächsten Aufgaben die elementare Bewegung durchleuchte und ihre Kraft verzehnfache.

Das Fazit. Unsere Taktik gegenüber der Reichsduma kann in fünf Punkten zusammengefasst werden: 1. Verstärkte Agitation aus Anlass des Gesetzes über die Reichsduma und der Wahlen, Veranstaltung von Versammlungen, Ausnützung der Wahlagitation, Demonstrationen u.a.m. usw.; 2. Konzentrierung dieser ganzen Agitationskampagne um die Losungen: bewaffneter Aufstand, revolutionäre Armee, provisorische revolutionäre Regierung; Verbreitung des Programms dieser provisorischen Regierung; 3. Heranziehung aller Elemente der revolutionären Demokratie und nur dieser, d.h. nur jener, die die oben angeführten Losungen annehmen, zu dieser Agitation und zum bewaffneten Kampfe; 4. Unterstützung der beim linken Flügel der bürgerlichen Demokratie entstandenen Idee des Boykotts, der ein aktiver Boykott im Sinne der oben skizzierten breitesten Agitation sein muss; Gewinnung der linken Vertreter der bürgerlichen Demokratie für das revolutionär-demokratische Programm und für eine Betätigung, die sie dem Kleinbürgertum und der Bauernschaft näher bringt; 5. rücksichtslose Enthüllung und Brandmarkung der bürgerlichen „Verständigungstheorie" und der bürgerlichen „Verständigungsfreunde" vor den breitesten Massen der Arbeiter und Bauern; Bekanntgabe und Aufhellung jedes verräterischen und nicht festen Schrittes dieser Bürgerlichen Verständigungsfreunde sowohl vor dem Zusammentritt der Duma als auch in der Duma; Warnung der Arbeiterklasse vor diesen bürgerlichen Verrätern an der Revolution.

1 Den unmittelbaren Anlass zu diesem Artikel bildete das Auftreten Martows in der Wiener „Arbeiter-Zeitung" vom 11./24. August und im Berliner „Vorwärts" vom 13./26. August; ferner der Leitartikel der Nr. 108 der „Iskra" vom 15./28. August „Unsere Taktik und die Reichsduma" (von Th. Dan) mit einem Brief von Tscherewanin, der sich mit derselben Frage beschäftigt. Lenin veröffentlichte im „Proletarij" eine Übersetzung des Artikels Martows mit einigen ihn ins Lächerliche ziehenden Bemerkungen (siehe den folgenden Artikel: „Die klarste Darlegung des konfusesten Planes").

2 Die hier zitierten Worte vom „Absentismus" sind dem von Dan verfassten Leitartikel „Unsere Taktik und die Reichsduma" entnommen. Die weiter folgenden Bemerkungen über den „Artikel" Tscherewanins beziehen sich auf seinen in jenem Leitartikel kommentierten Brief

3 Gemeint ist der von Paul Winogradow gezeichnete Artikel „Politische Briefe" in Nr. 210 der „Russkije Wjedomosti" vom 5./18. August. Der Kritik dieser „Politischen Briefe" ist auch der Artikel Lenins „Was wollen und was fürchten unsere liberalen Bourgeois" gewidmet.

4 Die Resolution des „Verbandes der Verbände" wurde in Nr. 14 des „Proletarij" vom 16./29. August 1905 abgedruckt.

5 Der hier erwähnte Artikel: „Soll man in die Reichsduma gehen oder nicht?" in Nr. 75 des „Oswoboschdjenije" vom 6./19. August 1905 war von Miljukow.

6 Alle ähnliche. D. Red.

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