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Wladimir I. Lenin 19050506 Rede über eine Verständigung mit den Sozialrevolutionären

Wladimir I. Lenin: Rede über eine Verständigung mit den Sozialrevolutionären

auf dem III. Parteitag der SDAPR, 12./25. April–27. April/10. Mai 1905

23. April/6. Mai 1905

[Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 388-393]

Ich muss dem Parteitag über einen misslungenen Versuch einer Verständigung mit den Sozialrevolutionären berichten. Ins Ausland kam Genosse Gapon. Er sprach mit den Sozialrevolutionären, später mit der „Iskra", dann auch mit mir. Er sagte mir, er stehe auf dem Standpunkt der Sozialdemokraten, halte es aber aus gewissen Erwägungen nicht für möglich, dies öffentlich zu erklären. Ich sagte ihm, dass Diplomatie eine sehr schöne Sache sei, aber nicht unter Revolutionären. Ich will hier unser Gespräch nicht wiedergeben – sein Inhalt ist im „Wperjod" dargelegt worden1. Auf mich machte Gapon den Eindruck eines der Revolution unbedingt ergebenen Menschen, voll Initiative und klug, wenn auch bedauerlicherweise ohne eine feste revolutionäre Weltanschauung.

Nach einiger Zeit erhielt ich vom Genossen Gapon eine schriftliche Einladung zu einer Konferenz der sozialistischen Organisationen, die nach Gapons Absicht den Zweck hatte, ihre Tätigkeit in Einklang miteinander zu bringen. Hier die Liste jener 18 Organisationen, die nach diesem Schreiben zur Konferenz des Genossen Gapon eingeladen wurden: 1. Partei der Sozialrevolutionäre, 2. SDAPR, Richtung „Wperjod", 3. SDAPR, Richtung „Iskra", 4. Polnische Sozialistische Partei (PPS), 5. Sozialdemokratie Polens und Litauens, 6. Polnische Sozialistische Partei „Proletariat", 7. Lettische Sozialdemokratische Arbeiterpartei, 8. Bund, 9. Armenische Sozialdemokratische Arbeiterorganisation, 10. Armenische Revolutionäre Föderation (Droschak), 11. Weißrussische Sozialistische Hromada, 12. Lettischer Sozialdemokratischer Verband, 13. Finnländische Partei des aktiven Widerstandes, 14. Finnländische Arbeiterpartei, 15. Georgische Partei der sozialistisch-föderalistischen Revolutionäre, 16. Ukrainische Revolutionäre Partei, 17. Sozialdemokratische Partei Litauens, 18. Ukrainische Sozialistische Partei2.

Ich wies sowohl den Genossen Gapon als auch einen angesehenen Sozialrevolutionär darauf hin, dass die bedenkliche Zusammensetzung der Konferenz die Sache erschweren könne. Auf der Konferenz bilde sich eine dominierende Mehrheit der Sozialrevolutionäre. Die Einberufung der Konferenz zog sich in die Länge. Die „Iskra" antwortete, wie aus den mir vom Genossen Gapon vorgelegten Dokumenten zu ersehen ist, dass sie direkte Vereinbarungen mit organisierten Parteien vorziehe. Eine „feine" Anspielung auf den „Wperjod", der sozusagen ein Desorganisator sei usw. Zu guter Letzt erschien die „Iskra" auf der Konferenz nicht. Wir, Vertreter der Redaktion des „Wperjod" sowohl wie des Büros der Komitees der Mehrheit, waren zur Konferenz erschienen. Hier sahen wir, dass die Konferenz eine sozialrevolutionäre Konferenz war. Es stellte sich heraus, dass die Arbeiterparteien entweder gar nicht eingeladen worden waren, oder es waren keine Belege vorhanden, dass sie eingeladen worden seien. So war die Finnländische Partei des aktiven Widerstandes vertreten, nicht aber die Finnländische Arbeiterpartei. Auf unsere Frage, warum? wurde uns geantwortet, dass man der Finnländischen Arbeiterpartei die Einladung durch die Partei des aktiven Widerstandes übermittelt habe, da man nach den Aussagen des Sozialrevolutionärs, der dies mitteilte, nicht gewusst habe, wie man sie direkt erreichen könne. Indessen ist jedem, der im Auslande einigermaßen Bescheid weiß, bekannt, dass man mit der Finnländischen Arbeiterpartei zumindest durch den Führer der Schwedischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, Branting, in Verbindung treten kann. Auf der Konferenz waren Vertreter der PPS, aber es war kein Vertreter der Sozialdemokratie Polens und Litauens da, und man konnte keine Auskunft erhalten, ob sie eingeladen worden sei. Von der Litauischen Sozialdemokratie und der Revolutionären Ukrainischen Partei war, wie uns derselbe Sozialrevolutionär mitteilte,keine Antwort erfolgt.

Von Anfang an wurde die nationale Frage in den Vordergrund gestellt. Die PPS warf die Frage mehrerer konstituierender Versammlungen auf. Und das veranlasst mich, zu sagen, dass es künftig notwendig sein wird, entweder ganz auf die Teilnahme an diesen Konferenzen zu verzichten oder eine Konferenz aus Arbeiterparteien einer Nationalität einzuberufen, oder Vertreter der örtlichen Parteikomitees aus den Bezirken mit nichtrussischer Bevölkerung einzuladen. Daraus folgere ich aber keineswegs, dass Konferenzen wegen prinzipieller Differenzen unmöglich seien. Notwendig ist nur, dass rein praktische Fragen erörtert werden.

Wir können vom Ausland aus die Zusammensetzung der Konferenzen usw. nicht kontrollieren. Es ist notwendig, eine Vertretung des russischen Zentrums und dazu unbedingt die Teilnahme von Vertretern der Lokalkomitees. Die Frage, deretwegen wir die Konferenz verließen, betraf die Letten. Beim Verlassen der Konferenz überreichten wir folgende Erklärung:

Der wichtige historische Moment, den Russland jetzt durchlebt, stellt die im Lande wirkenden Sozialdemokraten und die revolutionär-demokratischen Parteien und Organisationen vor die Aufgabe einer praktischen Verständigung, um mit größerem Erfolg das absolutistische Regime angreifen zu können.

Indem wir deshalb der zu diesem Zweck einberufenen Konferenz eine außerordentlich ernste Bedeutung beimessen, müssen wir natürlich der Frage ihrer Zusammensetzung sehr streng gegenüberstehen.

In der vom Genossen Gapon einberufenen Konferenz ist leider diese notwendige Vorbedingung für eine fruchtbare Arbeit nicht in genügendem Maße beachtet worden, und wir waren infolgedessen gezwungen, schon bei Beginn ihrer Konstituierung Maßnahmen zu ergreifen, die den realen Erfolg der Beratung sichern sollten.

Der rein praktische Charakter der Konferenz erforderte z. B. vor allem, dass der Zutritt nur solchen Organisationen gewährt wird, die in Russland eine wirklich reale Kraft darstellen.

Indessen erwies sich die Zusammensetzung der Konferenz, was die Realität einiger Organisationen betrifft, als überaus unbefriedigend. Da war sogar eine Organisation vertreten, deren Bestehen zweifellos eine Fiktion ist. Wir sprechen vom Lettischen Sozialdemokratischen Verband.

Der Vertreter der Lettischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei forderte die Abweisung dieses Verbandes und gab dieser Forderung einen ultimativen Charakter.

Das dann in einer besonderen Beratung der Vertreter von vier sozialdemokratischen Organisationen unter Teilnahme der Delegierten des ,Verbandes' festgestellte Nichtbestehen des letzteren veranlasste natürlich auch uns – die übrigen auf der Konferenz anwesenden sozialdemokratischen Organisationen und Parteien –, uns dieser ultimativen Forderung anzuschließen.

Aber hier stießen wir schon bei den ersten Schritten auf den heftigen Widerstand aller revolutionär-demokratischen Parteien, die durch ihre Weigerung, unsere ultimative Forderung zu erfüllen, eine fiktive Gruppe einer ganzen Reihe bekannter sozialdemokratischer Organisationen vorzogen.

Schließlich wurde die praktische Bedeutung der Konferenz noch mehr beeinträchtigt durch die Abwesenheit einer ganzen Reihe anderer sozialdemokratischer Organisationen, deren Beteiligung, soweit wir dies feststellen konnten, nicht durch geeignete Maßnahmen gesichert wurde.

Aus allen diesen Gründen gezwungen, die Konferenz zu verlassen, sprechen wir zugleich die Überzeugung aus, dass der Misserfolg des einen Versuches das beharrliche Streben, ihn in allernächster Zukunft zu wiederholen, nicht aufhalten wird und dass die vor allen revolutionären Parteien stehende Aufgabe der praktischen Verständigung durch diese nächste Konferenz, zusammengesetzt nicht aus fiktiven, sondern aus den wirklich in Russland arbeitenden Organisationen, erfüllt werden wird.

Für die Lettische SDAP – F. Rosin,

für den ,Wperjod', SDAPR – N. Lenin,

für das ZK des Bund – I. Gelfin,

für die Armenische Sozialdemokratische Arbeiterorganisation – Lerr."

Anderthalb bis zwei Wochen später übergab mir Genosse Gapon folgende Erklärung:

Lieber Genosse! Indem ich Ihnen zwei Deklarationen, die von der Ihnen bekannten Konferenz stammen, übermittle, bitte ich, diese dem bevorstehenden III. Parteitag der SDAPR mitzuteilen. Ich fühle mich verpflichtet, was mich persönlich angeht, zu bemerken, dass ich diese Deklarationen akzeptiere mit einigen Vorbehalten in den Fragen des sozialistischen Programms und des föderalistischen Prinzips.

Georgij Gapon."

Mit dieser Erklärung wurden zwei interessante Dokumente übergeben, in denen folgende Stellen die Aufmerksamkeit auf sich lenken:

Anwendung des föderativen Prinzips in den Beziehungen zwischen den Nationalitäten, die unter einem Staatsdache verbleiben …"

Sozialisierung, d. h. Übergang aller Ländereien, deren Bearbeitung auf der Ausbeutung fremder Arbeit beruht, in öffentliche Verwaltung zur Nutznießung der werktätigen landwirtschaftlichen Bevölkerung, wobei die Festsetzung der konkreten Formen, der Aufeinanderfolge bei der Durchführung dieser Maßnahme und ihres Umfanges der Kompetenz der Parteien der einzelnen Nationalitäten überlassen bleibt, entsprechend den Besonderheiten der lokalen Bedingungen ihres Landes; Entwicklung der öffentlichen, munizipalen und kommunalen Wirtschaft…"

„… Brot den Hungernden!

Die Erde und ihre Schätze allen Werktätigen!"

„…eine konstituierende Versammlung aus Vertretern aller Gegenden des Russischen Reiches, mit Ausnahme Polens und Finnlands!"

„… Einberufung einer konstituierenden Versammlung für den Kaukasus, als einen autonomen, föderativ mit Russland verbundenen Teil…"

Das Ergebnis der Konferenz hat, wie aus den angeführten Zitaten ersichtlich, die Bedenken, die uns veranlassten, die Konferenz zu verlassen, vollauf bestätigt. Wir haben hier vor uns ein Muster des sozialrevolutionären Programms mit allen möglichen Zugeständnissen an die nationalistischen nichtproletarischen Parteien. Es war befremdlich, ohne die nationalen proletarischen Parteien an der Lösung der auf der Konferenz aufgerollten Fragen mitzuwirken. Sie hat zum Beispiel die Forderung einer besonderen konstituierenden Versammlung für Polen aufgestellt. Wir können weder dafür noch dagegen sein. Unser Programm erkennt das Prinzip der Selbstbestimmung der Nationen an. Es ist aber unzulässig, diese Frage ohne die Sozialdemokratie Polens und Litauens zu entscheiden. Die Konferenz hat die konstituierende Versammlung aufgeteilt – und das ohne die Anwesenheit der Arbeiterparteien! Wir können eine praktische Entscheidung über solche Fragen unter Umgehung der Partei der Proletarier nicht zulassen. – Doch gleichzeitig finde ich, dass die prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten dennoch die Möglichkeit praktischer Konferenzen nicht ausschließen, aber erstens – in Russland, zweitens nach der Prüfung der realen Stärke und drittens unter Ausschaltung der nationalen Fragen oder indem man wenigstens Vertreter der lokalen Komitees jener Bezirke zur Konferenz einladet, wo nationale Sozialdemokratien und nichtsozialdemokratische Parteien vorhanden sind.

Ich komme nun zu der vorliegenden Resolution über Vereinbarungen mit den Sozialrevolutionären (der Redner verliest den Entwurf in der Fassung des Genossen Woinow):

Unter Bestätigung der Stellung der SDAPR zur Partei der Sozialrevolutionäre, wie sie durch die Resolution des II. Parteitages festgelegt wurde, und in Erwägung:

erstens, dass zeitweilige Kampfvereinbarungen der Sozialdemokratie mit der Organisation der Sozialrevolutionäre zum Kampf gegen den Absolutismus gegenwärtig im Allgemeinen wünschenswert sind;

zweitens, dass solche Vereinbarungen in keinem Falle die volle Selbständigkeit der sozialdemokratischen Arbeiterpartei schmälern und die Geschlossenheit und Reinheit ihrer proletarischen Taktik und ihrer Grundsätze beeinträchtigen dürfen, –

beauftragt der III. Parteitag der SDAPR das ZK und die lokalen Komitees, im Bedarfsfall zeitweilige Kampfvereinbarungen mit den Organisationen der Sozialrevolutionäre zu treffen, wobei örtliche Vereinbarungen nur unter unmittelbarer Kontrolle des ZK getroffen werden dürfen".

Ich bin mit diesem Entwurf einverstanden. Nur sollte man irgendwie den Schluss mildern, z. B. statt „unter unmittelbarer Kontrolle des ZK" lediglich „unter Kontrolle des ZK" sagen.

1 Lenin meint offenbar den Absatz in dem Artikel: „Über ein Kampfbündnis für den Aufstand", der unmittelbar auf den „Offenen Brief" Gapons folgt; eine besondere Mitteilung über Lenins Gespräch mit Gapon war im „Wperjod" nicht veröffentlicht worden.

2 Die Konferenz der revolutionären Parteien und Organisationen, von der hier die Rede ist, fand am 2. April 1905 in Genf statt. Berichte darüber erschienen u. a. im Berliner „Vorwärts“ (Nr. 100 vom 29. April 1905) und in der Wiener „Arbeiter-Zeitung" (Nr. 123 vom 5. Mai 1905).

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