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Wladimir I. Lenin 19060903 Die politische Krise und das Fiasko der opportunistischen Taktik

Wladimir I. Lenin: Die politische Krise und das Fiasko der opportunistischen Taktik

[Proletarij" Nr. 1, 3. September (21. August) 1906. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 43-61]

I.

Die Auflösung der Duma war zweifellos das Zeichen einer schweren politischen Krise im Fortgang der russischen Revolution. Sie hat, wie jede Krise, alle politischen Widersprüche aufs Äußerste zugespitzt, die Wurzeln vieler Erscheinungen aufgedeckt und dem Volke mit aller Deutlichkeit die großen Aufgaben gezeigt, die bisher nur in allgemeinen Umrissen erkennbar und nicht in das Bewusstsein der breiten Massen eingedrungen waren. Wie jede Krise, die die Ergebnisse einer ganzen Entwicklungsperiode zusammenfasst, musste auch die Auflösung der Duma die Rolle eines Prüfsteins für den Wert der verschiedenen taktischen Richtungen spielen. Einerseits schließt die Krise einen gewissen Kreislauf der Entwicklung ab und gibt somit die Möglichkeit, anschaulich festzustellen, wer diese Entwicklung richtig beurteilt hat. Anderseits zwingt die Krise, auf eine ganze Reihe von akut werdenden Fragen unverzüglich Antworten zu erteilen, die infolge des schnellen Ganges der Ereignisse nicht selten sofort, sozusagen an Ort und Stelle, auf ihre Richtigkeit geprüft werden.

Die Auflösung der Duma erwies sich als solcher „Prüfstein" für die „zwei Taktiken", die sich seit langem in der russischen Sozialdemokratie herauszubilden begonnen hatten. Im Verlauf der „Dumaperiode" stritten wir mehr oder minder ruhig über diese zwei Taktiken, denn die politische Lage erforderte keine unverzüglichen großen politischen Entscheidungen Die Auflösung der Duma machte diese Entscheidungen sofort notwendig. Die „zwei Taktiken" wurden durch die politische Krise auf die Probe gestellt. Wir müssen den Ergebnissen dieser Probe die größte Beachtung schenken.

II.

Das ZK unserer Partei befindet sich in den Händen des rechten Flügels der Sozialdemokratie. Von ihm wurden jetzt schnelle, genaue und klare Antworten auf neue taktische Fragen gefordert. Wie sehen diese Antworten aus?

Die Hauptfrage, die Frage des allgemeinen Charakters des bevorstehenden Kampfes, hat das ZK zuerst mit der Losung beantwortet: „Für die Wiederaufnahme der Dumatagungen." Die Kadetten greifen diese Losung auf (siehe die „Rjetsch" und das Gespräch mit Herrn Kedrin in der Zeitung „Oko"1). Die Sozialdemokratische Partei lehnt diese Losung ab. Einspruch erheben die bolschewistischen Mitglieder des ZK und das St. Petersburger Parteikomitee. Das ZK lässt die erste Losung fallen und gibt als zweite Losung aus: „Verteidigung der Duma gegen die Kamarilla, für Einberufung der Konstituante." Schließlich ergibt sich aus dieser zweiten folgende dritte, letzte Losung: „Für die Duma als Machtorgan, das die Konstituante einberuft." Trotz des Einspruchs des linken Flügels der Sozialdemokratie bleibt das ZK bei dieser Losung. Auf dem Gebiete der Losungen herrscht also völlige Kopflosigkeit.

Zweite Frage: Welche Kampfform soll empfohlen werden? Das ZK neigt vor allem zu einem Demonstrationsstreik. Es möchte zum sofortigen Streik aufrufen, aber die übrigen revolutionären Parteien und Organisationen machen nicht mit, das ZK bleibt allein. Darauf unterschreibt es Aufrufe, die zum Aufstand auffordern (die Aufrufe „An die Armee und Flotte" und „An die gesamte russische Bauernschaft"). Kaum aber hat es vom Demonstrationsstreik einen Schritt vorwärts zu Streik und Aufstand getan, als es sich schon beeilt, einen Schritt zurück zu tun und zu „partiellen Massenprotestkundgebungen" aufzurufen.

Dritte Kernfrage: Mit wem zusammen sollen wir in den Kampf gehen? Auf welche Schichten der bürgerlichen Demokratie können wir rechnen und mit welchen von ihnen sollen wir in erster Linie rechnen? Mit welchen Parteien oder Organisationen sollen wir eine Annäherung erstreben? Das ZK passt, wie wir gesehen haben, sowohl seine Losungen als auch die von ihm empfohlenen Kampfformen dem Niveau der „Duma als Ganzes", dem Niveau der Kadetten an. Aber – „Du magst die Natur zur Tür hinaus jagen, sie kommt durchs Fenster wieder herein"! Das ZK ist genötigt, Aufrufe an das Heer, an die Bauernschaft, „an das ganze Volk" ausschließlich in Gemeinschaft mit den revolutionären Organisationen, ausschließlich in Gemeinschaft mit den Trudowiki (aus den Trümmern der Duma) zu erlassen. In den Betrachtungen, die das ZK über die Taktik anstellt, zieht es genau wie alle sonstigen Menschewiki einen Trennungsstrich zwischen den Kadetten und den Oktobristen: rechts stehen „sie", links stehen „wir" („wir" zusammen mit den Kadetten). In seinen taktischen Aufrufen zur Tat, in seinen Kampfaufrufen zieht das ZK einen Trennungsstrich zwischen den Kadetten und den Trudowiki: die Kadetten wandern entweder zu den Rechten oder zu den im Kampfe Neutralen ab. „Wir", das sind, wie sich herausstellt, „wir" im Verein mit den Trudowiki und ohne die Kadetten. „Wir", das ist, wie sich herausstellt, das Informations- und Koordinationsbüro aller revolutionären Organisationen, einschließlich des „Komitees der Trudowiki-Gruppe", aber ohne die Kadetten. Es ergibt sich: Zu gern möchten die rechten Sozialdemokraten mit den Kadetten zusammen durch dick und dünn gehen, aber es ist ihnen ein bitteres Los beschieden, denn den Kadetten ist jedes Kampfabkommen zuwider, das der Gang der Ereignisse erfordert.

Das ist in großen Umrissen die tatsächliche Geschichte der menschewistischen Taktik nach der Auflösung der Duma. Diese Geschichte ist in einigen wenigen Dokumenten niedergelegt. Man lese die „Briefe" (Nr. 4 und Nr. 5) des ZK an die Parteiorganisationen und die Aufrufe „An die Armee und Flotte" (herausgegeben von der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion und dem Komitee der Trudowiki-Gruppe), „An die gesamte russische Bauernschaft" (Komitee der Trudowiki-Gruppe, sozialdemokratische Fraktion, Allrussischer Bauernverband, ZK der Partei der Sozialrevolutionäre, ZK der Sozialdemokratischen Partei, Allrussischer Lehrerverband), „An das ganze Volk" (dieselben Organisationen ohne die drei Verbände, aber plus die polnische Sozialistische Partei, PPS, und den „Bund"), man lese schließlich den Protest der drei ZK-Mitglieder (veröffentlicht „nur für Parteimitglieder"), und man lernt das gesamte Material über die opportunistische Taktik der Sozialdemokraten nach der Auflösung der Duma kennen.

Welches ist das allgemeine Merkmal dieser tatsächlichen, äußeren Geschichte der menschewistischen taktischen Richtlinien? Dies Merkmal ist deutlich erkennbar: ein Schwanken zwischen der liberalen monarchistischen Bourgeoisie und der revolutionären bürgerlichen Demokratie. In der Tat, worauf laufen die Schwankungen des ZK in der Frage der Losungen hinaus? Auf ein Schwanken zwischen dem legalen konstitutionellen Weg als ausschließlichem, einzigem Weg (Losung: „Wiederaufnahme der Dumatagungen") und dem Eingeständnis der Richtigkeit oder der Zulässigkeit des revolutionären Weges (die Losung: „Konstituante", die dadurch geschwächt wird, dass unbedingt die Losung der Duma hinzugefügt wird). Es ist ein Schwanken zwischen den Kadetten (die die „Wiederaufnahme der Tagungen" uneingeschränkt annehmen und angenommen haben) und der revolutionären Bauernschaft (Trudowiki, Sozialrevolutionäre, Bauernverband, Eisenbahner- und Lehrerverband, die zusammen mit dem ZK der SDAPR den Aufruf zum Aufstand für die Konstituante unterzeichnet haben). Unser ZK oder unsere opportunistischen Sozialdemokraten stehen ein wenig weiter links als die Kadetten und bedeutend weiter rechts als die revolutionäre bürgerliche Demokratie. Das ist die allgemeine Schlussfolgerung, die sich aus den Schwankungen des ZK in der Frage der Losungen, der Frage der Kampfformen und der Frage der Gruppierung der politischen Parteien ergibt.

Im Verlauf der ganzen Dumaperiode sind die taktischen Meinungsverschiedenheiten zwischen dem rechten und dem linken Flügel der Sozialdemokratie immer klarer in Erscheinung getreten und immer mehr zu einem Streit über die Grundfrage, wie der Trennungsstrich innerhalb der bürgerlichen Demokratie zu ziehen ist, oder zu einem Streit über die Frage geworden, mit wem wir zusammengehen sollen. Der rechte Flügel der Sozialdemokratie richtete alle Anstrengungen darauf, mit den Kadetten zusammenzugehen (Unterstützung der Duma als Ganzes, Unterstützung der Forderung: Ernennung eines Dumakabinetts). Die revolutionären Sozialdemokraten richteten hingegen ihre ganze Taktik darauf, den revolutionären Teil der bürgerlichen Demokratie von den Kadetten abzuspalten, vom Joch der Kadetten zu befreien und in eine Kampffront mit dem Proletariat einzureihen. Die Auflösung der Duma bildete den Abschluss der Dumaperiode. Was erwies sich? Es erwies sich, dass der rechte Flügel der Sozialdemokratie sich genötigt sah, die Kadetten zu verlassen und sich der revolutionären Demokratie anzuschließen. Kadettisch sind nur gewisse Anhängsel ihrer Losungen geblieben. Das Leben hat dazu gezwungen, den Trennungsstrich an der Stelle zu ziehen, die der linke Flügel der Sozialdemokratie vorgezeichnet hat. Die Losungen des ZK haben sich besonders anschaulich als folgewidrig und „nichtig" entpuppt.

III.

Untersuchen wir jetzt die Erwägungen, von denen sich das ZK hat leiten lassen. Sie sind am ausführlichsten in dem 4. „Brief" an die Parteiorganisationen enthalten (der Brief trägt kein Datum und keine Nummer, der folgende Brief aber wird als 5. bezeichnet). Dieser Brief ist ein wirklich bemerkenswertes Muster opportunistischer Gedankengänge; es würde sich lohnen, ihn immer wieder von neuem herauszugeben, ihn in die Lese- und Lehrbücher des Sozialismus aufzunehmen, um an einem anschaulichen Beispiel zu zeigen, wie Sozialdemokraten über Taktik nicht urteilen dürfen.

Den Mittelpunkt des Briefes bildet die Untersuchung der Frage, der seine Verfasser folgende Fassung geben: „In wessen Hände kann also jetzt die Macht übergehen?"

Wer ist“ – heißt es in dem Brief weiter – „oder kann im gegenwärtigen Augenblick in den Augen des 140 Millionen zählenden Volkes der natürliche Nachfolger der Staatsmacht sein, die den Händen der Zarenregierung entrissen ist? … Wenn nämlich die allgemeine Volksbewegung zur Eroberung der Staatsmacht beginnt, muss im Bewusstsein des ganzen Volkes auch eine Vorstellung darüber vorhanden sein, wer an die Stelle der gestürzten Regierung tritt In jeder gegebenen Periode der Bewegung muss irgendein Kollektiv oder eine Organisation in dem Bewusstsein des Volkes eine solche Rolle spielen."

Wir haben die Stellen der Gedankengänge des ZK unterstrichen, die jedem sofort zeigen, dass sie ganz und gar unhaltbar sind. In der Frage der Eroberung der Macht stellt sich das ZK von vornherein auf einen spießbürgerlich-idealistischen, nicht proletarisch-materialistischen Standpunkt. Es leitet die „natürliche Nachfolge" der Macht aus dem landläufigen „Bewusstsein" („In den Augen" des Volkes) und nicht aus den realen Kampfbedingungen ab. Es begreift nicht, dass „natürlicher Nachfolger" nicht derjenige sein wird, der in irgend jemandes „Bewusstsein" „eine solche Rolle spielt", sondern derjenige, der wirklich die Regierung stürzt, der wirklich die Macht erobert, der im Kampf siegt. Nicht das „Bewusstsein des ganzen Volkes" wird den Ausgang des Kampfes bestimmen, sondern die Kraft dieser oder jener Klassen und Elemente der Gesellschaft.

Das ZK schweift somit von vornherein ganz von der Frage ab. Anstatt die Bedingungen des wirklichen Kampfes zu prüfen, zu prüfen, wie der Kampf geführt wurde und geführt wird, beginnt es in der übelsten, idealistischen Weise mit dem „Bewusstsein" und der „Vorstellung" herum zu spekulieren, wer „an die Stelle des Gestürzten" tritt, und nicht, wer zu stürzen unternimmt und den Sturz vollzieht. Auf der Jagd nach opportunistischen Schlussfolgerungen musste die ganze marxistische Methode über Bord geworfen werden, die verlangt, herauszufinden, welche Interessen von welchen Klassen den Sturz und welche eine Beschränkung der Macht erfordern; welche materiellen Bedingungen den revolutionären Kampf (das „Stürzen") und welche Interessen die Bemühungen um ein konstitutionelles Zusammenleben des zu Stürzenden und des Stürzenden erzeugen. Wenn das ZK das Abc des Marxismus nicht vergessen hätte, würde es zumindest auf Grund der Erfahrung der russischen Revolution festzustellen suchen, welche Klassen in Russland durch den Gang der Bewegung selbst, häufig unabhängig von ihrem „Bewusstsein" (und sogar trotz ihres monarchistischen Bewusstseins) gezwungen werden, die Einrichtungen der Macht zu stürzen, die ihnen im Wege stehen. Die Geschichte der russischen Arbeiter- und Bauernbewegung im 20. Jahrhundert enthält genügend Beispiele, die unserem ZK zeigen könnten, wie einzelne oder örtliche Einrichtungen der Macht gestürzt wurden, und es lehren würden, über den allgemeinen und vollen Sturz der zentralen Macht marxistisch und nicht wie Ledru-Rollin zu urteilen.

Einmal auf dem verkehrten Wege angelangt, verrennt sich das ZK in seinen weiteren Erörterungen über dieses Thema immer mehr. Es beginnt, mögliche und wahrscheinliche Kombinationen der Zusammensetzung der „provisorischen revolutionären Regierung" der Reihe nach zu untersuchen.

Räte der Arbeiterdeputierten werden ebenso wie das Vollzugskomitee aus den Mitgliedern der Trudowikigruppe und der sozialdemokratischen Fraktion von unserm ZK für ungeeignet befunden. Den einen wird „die hundert Millionen zählende Bauernschaft", den andern „ein bedeutender Teil der städtischen Kleinbürger, der mittleren Bourgeoisie, der Soldaten, Kosaken, Offiziere usw. keine Gefolgschaft leisten. Dabei wäre es doch der allerverhängnisvollste Irrtum, anzunehmen, dass die neue Staatsmacht gegen den Willen aller dieser Elemente errichtet werden kann".

Wir schlagen dem Leser vor, den ersten Teil dieser Betrachtung mit dem Entwurf der bolschewistischen Resolution über die provisorische Regierung (siehe Nr. 2 der „Partijnyje Iswestija"2, Februar 1906, nachgedruckt in Lenins „Bericht vom Parteitag") zu vergleichen. In diesem Entwurf werden ausdrücklich die Organisationen aufgezählt, die im Dezemberaufstand wirklich die Rolle von Organen der revolutionären Macht gespielt haben. Außer den Räten der Arbeiterdeputierten werden dort selbstverständlich auch die Soldaten-, Eisenbahner- und Bauernkomitees und die in den Dörfern des Kaukasus und der Baltischen Provinzen gewählten ländlichen Körperschaften genannt. Die Geschichte hat folglich schon die Frage beantwortet, die das ZK jetzt so hilflos zu lösen versucht. Die Geschichte hat schon gezeigt, welche Klassen und welche Elemente der Bevölkerung am Aufstand teilnehmen und Organe des Aufstandes schaffen. Die opportunistischen Sozialdemokraten aber vergessen nicht nur (oder vermögen nicht zu begreifen) den gestrigen Tag der Revolution, sondern begreifen auch überhaupt nicht, was eine provisorische revolutionäre Regierung ist. Es bedarf keiner großen geistigen Anstrengung, um sich davon zu überzeugen, dass eine solche Regierung das Organ des Aufstandes ist (und nicht nur ein Resultat des Aufstandes, wie in dem Entwurf der menschewistischen Resolution über die provisorische Regierung zu Unrecht angenommen wird – siehe eben diesen „Bericht" oder Nr. 2 der „Partijnyje Iswestija").

Der zweite Teil der obenangeführten Betrachtung ist noch unrichtiger. Er ist nach der üblichen Methode der Opportunisten aufgebaut: man sucht zu beweisen, dass die allergemäßigteste Losung deshalb zweckmäßiger sei, weil man eine größere Anzahl von sozialen Elementen um sie zusammenfassen könne. Bernstein hat gesagt: Für die soziale Revolution ist nur ein Teil des Proletariats, für die soziale Reform aber sind viele sozialliberale Elemente. Gebt euch nicht dem Irrtum hin, dass man den Sozialismus gegen ihren Willen errichten kann! Werdet besser eine Partei demokratisch-sozialistischer Reformen! Die Menschewiki sagen: Für den wirklichen Sieg unserer Revolution ist nur das Proletariat und der revolutionäre Teil des Kleinbürgertums (in erster Linie die Bauernschaft). Für eine liberale Beschränkung der alten Monarchie aber ist „sowohl die mittlere Bourgeoisie als auch das Offizierkorps usw." Daher wollen wir ein Kompromiss der Liberalen mit dem Zaren als Sieg der Revolution bezeichnen und die wirklich revolutionäre Regierung, das Organ des Aufstandes, durch die Duma ersetzen!

Nein, Genossen! In der politischen Arithmetik gibt es Methoden, die ein wenig komplizierter sind als eine einfache Addition aller „oppositionellen" Elemente. Dadurch, dass man eine schwankende und verräterische Opposition zu den wirklich kämpfenden revolutionären Elementen hinzuzählt, erhält man nicht immer ein Plus, viel häufiger ein Minus. Diejenigen, deren Interessen dazu zwingen, nach einer Beschränkung der Monarchie zu streben und die Zertrümmerung der Monarchie zu fürchten, sind niemals fähig, ein energisches und kühnes Organ des Aufstandes zu schaffen. Zu versuchen, im Voraus das zukünftige Organ des Aufstandes nach dem Maß dieser Kadettenelemente zuzuschneiden, ist dasselbe, wie die soziale Revolution in Europa nach dem Maß irgendeines Naumann oder Clemenceau zuzuschneiden.

In was für einen komischen Widerspruch sind unsere Opportunisten durch ihre eigene Schuld geraten! Sie wollen ein Bündnis mit der mittleren Bourgeoisie und den Offizieren, mit einem Wort: mit Elementen der Kadettenpartei. Dann muss man aber die Losung Konstituante überhaupt hinauswerfen, denn die Kadetten werfen sie hinaus! Die für die mittlere Bourgeoisie und die Offiziere annehmbare Losung der Konstituante aufstellen und gleichzeitig versuchen, die mittlere Bourgeoisie und die Offiziere dadurch heranzuziehen, dass man der gemäßigten und loyalen Duma eine durch und durch revolutionäre Rolle zuschiebt (die Regierung zu stürzen und provisorische revolutionäre Regierung zu werden!) – zu solcher Ungereimtheit hat sich unser ZK verstiegen.

Übrigens liefert der Brief des ZK in punkto Ungereimtheiten noch ganz andere Perlen. Wenn es beliebt:

Wenn man im gegenwärtigen Augenblick als Träger der Macht wirklich nichts anderes vorschlagen könnte als die Räte der Arbeiterdeputierten, so kann man von vornherein sagen, dass der Sieg über die Regierung im Kampf um die Macht (dieser Sieg aber setzt unbedingt die Teilnahme der Armee an diesem Kampf voraus) zu nichts anderem führen würde als zur militärischen Diktatur der Armee, die ,auf die Seite des Volkes' übergegangen ist." (Im Original gesperrt.)

Man überlege sich einmal, was dieser geradezu ungeheuerliche Worterguss besagt: wenn die Räte der Arbeiterdeputierten die Regierung mit Hilfe eines Teiles der Armee besiegten, so würde ein solcher Übergang der Armee „auf die Seite des Volkes"* zu ihrer militärischen Diktatur führen!! Ich weiß nicht, ob man sogar in der Kadettenliteratur Beispiele solcher Versuche finden kann, den siegreichen Ausgang des Kampfes zu einem Schreckgespenst zu machen. Ich weiß nicht, ob sich sogar Herr Struve dazu verstiegen hat, als er im „Oswoboschdenije" im Sommer 1905 und in der „Poljarnaja Swesda" im Frühjahr 1906 den Gedanken des bewaffneten Aufstandes in Grund und Boden verdammte, weil er dem Gedanken der militärischen Diktatur nahekomme.3 Wenn das ZK wenigstens mit den Forderungen, die die Soldaten und Matrosen im vorigen Jahr während ihrer zahllosen „Meutereien" aufzustellen pflegten, etwas anzufangen gewusst hätte, so hätte es gesehen, dass diese Forderungen in Wirklichkeit auf eine Umwandlung der vom Kastengeist durchdrungenen Armee in eine Volksarmee, d. h. in die Miliz hinauslaufen. Die Soldaten und Matrosen verstanden nicht immer oder verstanden sogar meistens nicht, ihre Forderungen in bestimmten Sammellosungen zusammenzufassen; sollte es aber wirklich irgend jemandem nicht klar sein, dass Militärdienst im Heimatort, Versammlungsfreiheit für Soldaten u. dgl. m. der Schaffung einer Miliz gleichkommen? Hat das ZK wirklich so sehr jeden elementaren revolutionären Instinkt verloren, dass es nicht den Unterschied begreift zwischen dem adligen Revolutionarismus der Dekabristen, dem rasnotschinzisch4-intelligenzlerischen Revolutionarismus der Narodowolzen-Offiziere und dem von Grund auf demokratischen, proletarischen und bäuerlichen Revolutionarismus der russischen Soldaten und Matrosen des 20. Jahrhunderts? Ist ihm wirklich niemals der grundlegende Unterschied zwischen dem Revolutionarismus der Offiziere in der Epoche der Narodnaja Wolja, bei fast völliger Gleichgültigkeit der Soldatenmassen, und dem jetzigen reaktionären Geist der Offiziere, bei machtvollem Anschwellen der Bewegung derselben grauen Soldatenmasse aufgefallen? Annehmen, dass im Kampf mit der Regierung der Übergang der heutigen russischen Soldaten und Matrosen auf die Seite der Arbeiterdeputierten ein Übergang zur militärischen Diktatur sein könne, ein Mittel hiergegen in der Heranziehung der Offiziere durch die gemäßigte Losung „Für die Duma!" erblicken – das heißt entweder jedes Gefühl für die Wirklichkeit verlieren oder noch weiter nach rechts abschwenken als Herr Struve und Kompanie! Das Zentralkomitee der Sozialdemokratischen Partei will die auf eine militärische Diktatur gerichteten Bestrebungen der russischen Soldaten dadurch bekämpfen, dass es die Offiziere auf seine Seite herüberzieht: so weit haben uns die Opportunisten gebracht.

Das ZK versucht seine hoffnungslose Stellung weiterhin dadurch zu verteidigen, dass es erklärt, es sei ganz überflüssig, eine neue Regierung auszuklügeln, da ja die Duma oder ihre Überbleibsel zur Stelle seien, sie „können sich als Reichsduma erklären", „der Volksgedanke aber, der sich in den Feinheiten der geschriebenen Konstitution nicht auskennt, hielt und hält die Reichsduma für ein Organ der Macht … Wenn das Heer der Zaren-Regierung den Gehorsam verweigert und in den Dienst einer neuen Regierung treten kann, so ist diese neue Regierung die Reichsduma".

Ausgezeichnet! Wenn der „Volksgedanke" morgen eine andere legale Körperschaft für die „Macht" hält, so müssen wir uns verpflichten, ein solches Vorurteil weiter zu verbreiten – nun, das muss man sagen, das ist schon eine eigenartige Vorstellung von den Aufgaben einer revolutionären Partei. Begreift doch endlich, werte Genossen, dass die Macht mit Gewalt, im Kampf, durch den Aufstand erobert werden muss. Sind die Kadetten dazu bereit? Wenn sie es sind – bitte sehr, wir lehnen keinen Bundesgenossen im Kampfe ab. Wenn sie aber nicht dazu bereit sind, wenn sie sich sogar fürchten, offen zum Aufstand aufzurufen (ein solcher Aufruf ist immerhin, wenn er ehrlich gemeint ist, der erste Schritt zur Tat, und diesen Schritt haben in der ganzen Duma nur die Sozialdemokraten und die Trudowiki getan), dann ist alles Gerede über die Duma als das „Machtorgan, das die Konstituante einberuft", eine schädliche Manilowiade, ein Volksbetrug.

In einer anderen Atmosphäre würden die Überbleibsel der Duma anders wirken, sagt das ZK, indem es die Kadetten rechtfertigt, die sogar über den Wiborger Aufruf erschrocken sind. – Ja, das ist richtig, sie würden anders wirken. Was folgt daraus? Dass wir danach streben müssen, diese andere Atmosphäre zu schaffen. Wie soll das geschehen? Wir müssen die kampffähigen Elemente mit revolutionärem Bewusstsein erfüllen, ihr Bewusstsein auf eine höhere Stufe heben als das Niveau der Kadetten, als die Kadettenlosungen. Ihr aber rechtfertigt die kadettische Schüchternheit mit einem Hinweis auf die nicht-revolutionäre Atmosphäre und entspannt gleichzeitig diese Atmosphäre dadurch, dass ihr die revolutionären Losungen durch Kadettenlosungen ersetzt!

IV.

Die praktische Schlussfolgerung, die das ZK aus seinem 4. Briefe zieht, lautet: „Es ist notwendig, jetzt sofort überall örtliche Massenprotestkundgebungen zu veranstalten." Ihnen wird buchstäblich folgendes Ziel gesetzt: „Eine Atmosphäre der Vorbereitung zum nahen entscheidenden Kampf zu schaffen" … Nicht sich zum nahen entscheidenden Kampf vorzubereiten, sondern eine Atmosphäre der Vorbereitung zu schaffen!…

Unsere Partei hat bereits diese Losung des ZK mit seltener Einmütigkeit verurteilt und verworfen. Seine Kampagne mit den „örtlichen Massenprotestkundgebungen" ist schon ins Wasser gefallen. Der Unsinn des Demonstrierens, der Veranstaltung von Protesten in einer Situation des Bürgerkrieges, der sich in ungeahntem Maße verschärft hat, springt zu sehr in die Augen. Die in dieser Nummer veröffentlichten Resolutionen einer ganzen Reihe von Komitees und Konferenzen der Partei5 zeigen klar genug, was für eine Entrüstung diese Losung des ZK und seine ganze Politik nach der Auflösung der Duma hervorgerufen hat. Es bedarf daher keiner weiteren Worte, dass wir die Losung des ZK, die durch das Leben und von der Partei abgelehnt ist, ablehnen. Es ist nur erforderlich, erstens die grundsätzliche Bedeutung der Fehler des ZK und zweitens seine ungeschickten Versuche in Brief Nr. 5 festzunageln, sich aus der unmöglichen Lage, in die es geraten ist, herauszuwinden.

Der grundsätzliche Fehler des ZK besteht in seinem völligen Nichtverstehen des Unterschieds zwischen einem Demonstrationsstreik und dem Streik, der in den Aufstand übergeht. Nach den Dezembertagen ist ein solches Nichtverstehen ganz unverzeihlich. Man kann es nur erklären, wenn man in Betracht zieht, dass das ZK in keinem einzigen seiner Briefe offen von dem bewaffneten Aufstand gesprochen hat. Einer offenen Behandlung der Frage des Aufstandes auszuweichen – das ist von jeher und stets das Bestreben unserer Opportunisten gewesen, das sich ganz unvermeidlich aus ihrer Einstellung ergibt. Dies Bestreben erklärt uns, warum das ZK hartnäckig nur vom Demonstrationsstreik spricht, ohne des Streiks, der in den Aufstand übergeht, Erwähnung zu tun.

Nachdem das ZK eine solche Stellung bezogen hatte, konnte es allen übrigen revolutionären Parteien und Organisationen nur nachhinken. Man kann wohl sagen, dass mit Ausnahme der opportunistischen Sozialdemokraten alle die Notwendigkeit erkannten, die Frage des Aufstandes zu stellen. Wie zu erwarten stand, hat der Allrussische Eisenbahnerverband (siehe die in der heutigen Nummer veröffentlichte Resolution und den Bericht des Büros) dieser Frage ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt.6 Das erhellt mit völliger Deutlichkeit aus einer ganzen Reihe von Aufrufen, die von mehreren revolutionären Organisationen unterzeichnet sind (die oben erwähnten Aufrufe: „An die Armee und Flotte", „An die gesamte russische Bauernschaft" u. a.). Unser ZK hat diese Aufrufe offenbar ganz gegen seinen Willen, ganz gegen seine Überzeugung unterzeichnet!

In der Tat: diese Aufrufe zu unterzeichnen und den Unterschied zwischen einem Demonstrationsstreik und dem Streik, der in den Aufstand übergeht, nicht zu bemerken, ist geradezu unmöglich. Das Widerspruchsvolle in der Haltung des ZK, das Wetterwendische springt in die Augen: in seinen eigenen Schriftstücken (Brief Nr. 4 und 5) spricht es kein Wort über den Aufstand. Im Verein mit anderen revolutionären Organisationen aber unterzeichnet es Aufrufe zum Aufstand! Wenn unser ZK sich selbst überlassen bleibt, rutscht es unweigerlich zu dem Kadettenstandpunkt herab, verwendet es alle Kräfte auf das Ausklügeln von Losungen, die für die Kadetten annehmbar sind oder annehmbar erscheinen. Wenn unser ZK in Reih' und Glied mit anderen revolutionären Organisationen marschiert, „rafft es sich auf", hat es Gewissensbisse über seine Kadettenlosungen und benimmt sich anständig.

Zum ersten Mal ist die SDAPR in eine solche unwürdige Lage geraten. Zum ersten Mal wird sie vor aller Augen am Gängelband geführt. Zum erstenmal ist sie ins Hintertreffen geraten. Unsere Pflicht, die Pflicht aller Mitglieder der SDAPR ist es, um jeden Preis und so schnell als möglich dafür Sorge zu tragen, dass es das erste und das letzte Mal gewesen ist.

Die Unfähigkeit, die Ursachen des Misserfolges des letzten Julistreiks zu begreifen, ist ganz und gar in dem oben aufgezeigten grundsätzlichen Fehler begründet. In der Bestimmung des Augenblick des Kampfes kann jeder fehlgehen. Wir beabsichtigen durchaus nicht, das dem ZK vorzuwerfen. Sich aber in dem Charakter der Aktion zu irren, und zwar ungeachtet der Warnungen einer Reihe von Organisationen, mit denen zusammen das ZK Aufrufe zum Aufstand unterzeichnet hat, ist unverzeihlich.

Im Brief Nr. 5 befasst sich das ZK mit einer Art von kleiner und kleinlicher Polemik gegen die Sozialrevolutionäre (wobei es nur beweist, dass der Vertreter der Trudowiki folgerichtiger geurteilt hat als sie, – was ist der Zweck der ganzen Übung und wen interessiert das alles?) und wundert sich darüber, dass gerade die fortgeschrittenen, klassenbewussten Arbeiter dem Aufruf zum Julistreik nicht gefolgt sind. Die rückständigen Arbeiter sind ihm gefolgt; die fortgeschrittenen aber nicht! Und das ZK ist entrüstet, ist empört, verfällt beinahe in Schimpfereien.

Wenn jedoch das ZK nicht eine von Grund auf verkehrte Stellung bezogen hätte, sich nicht grundsätzlich von der Vorhut des Proletariats getrennt hätte, würde es leicht begreifen, um was es sich handelt. Die rückständigen Arbeiter kannten vielleicht noch nicht den Unterschied zwischen einem Demonstrationsstreik und dem Streik, der in den Aufstand übergeht, die fortgeschrittenen Arbeiter aber kannten diesen Unterschied vortrefflich. Als man Hoffnungen auf die Möglichkeit setzen durfte, die Aufstände von Sveaborg und Kronstadt zu unterstützen – ein solcher Augenblick war gegeben –, da war die Proklamierung des allgemeinen Volksaufstandes ganz natürlich. Selbstverständlich aber wäre (und war) es nicht ein Streik zum Zweck des Protestes gegen die Auflösung der Duma gewesen (wie sich das ZK einbildete), sondern ein Streik zur Unterstützung der Aufständischen, zur Erweiterung des Aufstandes.

Nun stellte es sich nach ein oder zwei Tagen endgültig heraus, dass der Aufstand in Sveaborg und Kronstadt diesmal niedergeschlagen war. Ein Streik zur Unterstützung der Aufständischen erwies sich als unangebracht; einen Proteststreik aber, einen Demonstrationsstreik wollten die fortgeschrittenen Arbeiter die ganze Zeit über nicht. Die ganze Zeit über erklärten sie aufs Deutlichste und Entschiedenste (und nur unser ZK hat es fertiggebracht, das nicht zu wissen oder nicht zu verstehen), dass sie zu einem allgemeinen, entscheidenden Kampf bereit sind, einen Streik zu Demonstrationszwecken aber unbedingt ablehnen

Der Misserfolg des Julistreiks hat also der Taktik der opportunistischen Sozialdemokraten sozusagen das Genick gebrochen. Der Gedanke des Demonstrationsstreiks hat ein für allemal abgewirtschaftet. Abgewirtschaftet hat ein für allemal die Losung der „partiellen Massenprotestkundgebungen".

Wer aber auch nur ein wenig die Stimmung der Arbeiter in den großen Industriestädten Russlands kennt, wer verfolgt, was jetzt in der Bauernschaft vor sich geht, der ist sich ganz klar darüber, dass der Gedanke des Streiks, der in den Aufstand übergeht, die Losung der Vorbereitung zum Aufstand ihre Bedeutung nicht nur nicht verloren, ihre Anziehungskraft nicht nur nicht eingebüßt haben, sondern im Gegenteil überall an Boden und an Kraft gewinnen.

V.

Fassen wir die Ergebnisse unserer kurzen Untersuchung der Taktik zusammen, die die Menschewiki während der kritischen Tage nach Auflösung der Duma befolgt haben.

Im Verlauf der Dumaperiode haben die Menschewiki ununterbrochen die Unterstützung der Duma als Ganzes, die Unterstützung der Kadetten (unter der Flagge der Unterstützung der Forderung: Ernennung eines Duma-Kabinetts) gepredigt. Die Bolschewiki haben sich mit allen Kräften bemüht, die Trudowiki von den Kadetten abzuspalten, und den Gedanken der Bildung eines „Vollzugskomitees der linken Dumagruppen" verfochten.

Wessen Taktik hat sich nun nach der Dumaauflösung als richtig erwiesen? Gemeinsam mit den Kadetten gelang es nur, den schüchternen Wiborger Aufruf zu erlassen. Die Kadetten als Partei haben ihn nicht unterstützt, haben sich weder an der Agitation der Parteien für diesen Aufruf noch an der Fortsetzung der Arbeit solcher Art beteiligt. Die Unzulänglichkeit dieses Aufrufes haben sogar unsere Menschewiki sofort erkannt. Auf den schüchternen Wiborger Aufruf folgten andere Aufrufe, die eine klarere und kühnere Sprache führten. Auf den persönlichen Zusammenschluss einiger früherer Dumamitglieder folgte der Zusammenschluss der „Komitees" von zwei Dumagruppen, die eine ganze Reihe von Aufrufen unterzeichnet und an einer ganzen Reihe revolutionärer Beratungen teilgenommen hatten, die entschlossen waren, einen Kriegsrat der Revolution zu bilden.

Welches waren diese zwei Gruppen, die als Gruppen, als Kollektive aus dem Zusammenbruch der Duma unversehrt hervorgingen, die nicht den Kopf verloren, weil sie den „konstitutionellen Boden" unter ihren Füßen verloren?

Das waren die Sozialdemokraten und die Trudowiki. Das „Vollzugskomitee der linken Gruppen", das die Bolschewiki propagiert hatten, der Gedanke der Bildung eines solchen Komitees, den die Bolschewiki vertreten hatten, wurde zur Wirklichkeit. Die Trudowiki-Gruppe gebar eine neue revolutionäre Organisation mit neuen Verbindungen in der Bauernschaft, die Kadetten aber starben politisch – ganz genau so, wie es die Bolschewiki vorausgesagt hatten, wie sie immer wieder betont hatten, dass „Würmer bei Leichen und nicht bei lebendigen Menschen anzutreffen sind".

Das Kampfabkommen der Sozialdemokraten mit den Trudowiki, Sozialrevolutionären usw. wurde zu einer Tatsache, die durch die oben erwähnten Aufrufe bewiesen wird. Wir haben nur insofern verloren, und selbstverständlich viel verloren, als wir dies Werk spät in Angriff genommen haben, ohne es uns früher zu überlegen, ohne allmählich den Boden vorzubereiten, wie wir Bolschewiki es bereits in den Resolutionsentwürfen zum Vereinigungsparteitag empfohlen hatten.

Volentem ducunt fata, nolentem trahunt" – was ungefähr besagt: ein einsichtiger Politiker schreitet den Ereignissen voran, den nicht einsichtigen schleifen sie hinter sich her. Die Bolschewiki haben monatelang oder sogar ein ganzes Jahr lang die Unvermeidlichkeit von Kampfabkommen gerade mit der revolutionären Demokratie und die Wichtigkeit eines Kampfbündnisses des Proletariats gerade mit der fortgeschrittenen Bauernschaft betont. Die Auflösung der Duma hat dazu gezwungen, diesen Weg zu betreten, wobei sich die Menschewiki, wie wir bereits bei der Untersuchung aller Episoden der Taktik des ZK aufgezeigt haben, als unvorbereitet erwiesen haben und, gegen ihren Willen und entgegen ihrem Bewusstsein, durch die „unerwartete" Wendung der Ereignisse „fortgerissen" worden sind.

Man nehme die Frage des Aufstandes. Die Menschewiki haben sich aus Kräften um diese Frage gedrückt. Sie haben sogar auf dem Vereinigungsparteitag eine Resolution gegen den bewaffneten Aufstand angenommen. Sie schweigen jetzt über den Aufstand in Nr. 4 und 5 der „Briefe", die das ZK selbst schreibt, ohne Fingerzeige von anderen revolutionären Organisationen zu erhalten. Sobald es aber irgend etwas zusammen mit ihnen, nach ihren Fingerzeigen schreibt, lesen wir offene und entschlossene Aufrufe zum Aufstand. Dann tauchen auch revolutionäre Losungen auf. Dann wird schon kein Wort mehr verloren über die Wiederaufnahme der Dumatagungen, ja nicht einmal über die Einberufung der Konstituante durch die Duma. Im Gegenteil, dann lesen wir (im Aufruf „An das ganze Volk"): „Nicht eine machtlose Duma, sondern die mit voller Macht ausgestattete Konstituante auf Grund der freien usw. Wahl, das ist das Ziel, das sich das Volk setzen muss. Nicht Zarenmanifeste, sondern eine Macht, die sich auf das revolutionäre Volk stützt, muss diese Konstituante schaffen" (von uns gesperrt). Eine solche energische Sprache führt unser ZK, wenn es sich in der Gesellschaft von kleinbürgerlichen Revolutionären vom Schlage des Komitees der Trudowiki-Gruppe und der polnischen sozialistischen Partei befindet!

Man nehme schließlich die Frage der provisorischen revolutionären Regierung. Anderthalb Jahre hindurch bewiesen unsere Menschewiki, mit Plechanow an der Spitze, dass es für die Sozialdemokraten unzulässig sei, sich zusammen mit bürgerlichen Revolutionären an einer solchen provisorischen revolutionären Regierung zu beteiligen, und dass es Blanquismus, Jakobinismus oder sonst eine Todsünde sei, die Losung der Bildung einer provisorischen revolutionären Regierung herauszugeben.

Und was hat sich ereignet? Die Duma wird aufgelöst und das ZK sieht sich genötigt, gerade die Frage der provisorischen revolutionären Regierung, die Frage, wie sie zusammengesetzt sein soll, aufzuwerfen. Man fühlt sofort, dass das ZK völlig unvorbereitet dieser Frage gegenübersteht: es ist nicht einmal das Verständnis dafür vorhanden, dass die provisorische revolutionäre Regierung ein Organ des Aufstandes ist. Als provisorische revolutionäre Regierung schlägt das ZK die Überbleibse! der Duma vor: Sozialdemokraten, Trudowiki und einen Teil der Kadetten. Nun seht einmal, Genossen, was dabei herauskommt: ihr schlagt also Sozialisten vor, sich zusammen mit bürgerlichen Revolutionären an der provisorischen revolutionären Regierung zu beteiligen! Ihr schlagt das vor, ungeachtet der Tatsache, dass die Sozialdemokraten gegenüber den Trudowiki und den linken Kadetten eine verschwindende Minderheit sind!

O weh, o weh! Das doktrinäre Geschwätz, es sei unzulässig für Sozialdemokraten, sich im Verein mit bürgerlichen Revolutionären an der provisorischen Regierung zu beteiligen, zerfällt bei der ersten Berührung mit der Wirklichkeit in Staub. Alle krampfhaften Versuche, diesen falschen Beschluss unter unrichtigen Hinweisen auf Marx zu rechtfertigen, verflüchtigen sich wie Rauch. Nicht genug daran: unsere „gestrengen" Scheinmarxisten scheuen nicht davor zurück, außer bürgerlichen Revolutionären (Trudowiki, Sozialrevolutionären, PPS, einen Teil des Bauern-, Eisenbahner- und Lehrerverbandes) auch bürgerliche Kompromissler (Kadetten) in die künftige provisorische Regierung zu schleppen.

Ja, es ist schwer, sich ein volleres Fiasko der opportunistischen Taktik vorzustellen als das Fiasko, das unser ZK nach der Dumaauflösung erlitten hat. Wir müssen unsere Partei aus diesem Sumpf herausziehen, ehe es zu spät ist.

1 In der Zeitung wurde eine Reihe Interviews mit politischen Führern über ihre Stellung zur Reichsduma gebracht, jedoch hat die Redaktion das Interview Kedrins nicht gefunden. Der Name Kedrins taucht unter anderen lediglich in dem Interview mit dem Bürgermeister von Petersburg – R. Reszow auf (Nr. 13 vom 2. September [20. August] 1906, S. A-tsch, „Die Einberufung der neuen Duma"). Es ist möglich, dass das Interview mit Kedrin in irgendeiner anderen Zeitung abgedruckt wurde und dass Lenin, als er sich nach dem Gedächtnis auf das Interview bezog, irrtümlich die Zeitung „Oko" nannte.

Was die Zeitung „Rjetsch" betrifft, die die Losung der Menschewiki aufgriff, so meint Lenin folgende Stelle aus dem Leitartikel dieser Zeitung (Nr. 130 vom 1. August [19. Juli]): „Alles was von jetzt ab gegen das Ministerium des Staatsstreiches unternommen werden wird, wird im Namen der Duma unternommen werden – und zwar nicht im Namen der Duma überhaupt, sondern im Namen der alten Duma. Diese Losung verspricht zweifelsohne in den Massen derart populär zu werden, dass sogar solche Doktrinäre des Revolutio-narismus wie die russischen Sozialdemokraten ihre Bedeutung begriffen und sich beeilt haben, ihre bindende offizielle Losung der Konstituante mit ihr zu verbinden … Nunmehr kann man den Erfolg der Losung .Rückkehr der alten Duma' für weit gesicherter halten."

2 Lenin meint den „Entwurf der Resolutionen zum Vereinigungsparteitag der SDAPR", und zwar den Abschnitt: „Die provisorische revolutionäre Regierung und die örtlichen Organe der revolutionären Macht". Der 2. Paragraph dieses Abschnitts hat folgende Formulierung: „… In diesem offenen Kampf waren die Elemente der örtlichen Bevölkerung, die fähig sind, einen energischen Kampf gegen die alte Macht aufzunehmen (fast ausschließlich das Proletariat und die fortgeschrittensten Schichten des Kleinbürgertums), vor die Notwendigkeit gestellt worden, solche Organisationen zu schaffen, die faktisch die Keimform der neuen revolutionären Macht darstellten – die Arbeiterdeputiertenräte in Petersburg, Moskau und anderen Städten, die Soldatendeputiertenräte in Wladiwostok, Krasnojarsk usw., die Eisenbahnerkomitees in Sibirien und im Süden, die Bauernkomitees im Gouvernement Saratow, die städtischen Revolutionskomitees in Noworossijsk und anderen Städten und schließlich die gewählten Dorforgane im Kaukasus und in den baltischen Randgebieten."

In den Text von Lenin hat sich ein Fehler eingeschlichen: Nummer 2 der „Partijnyje Iswestija" ist nicht im Februar, sondern am 2. April (20. März) 1906 erschienen. Der Entwurf der bolschewistischen Resolution ist in den „Protokollen des Vereinigungsparteitages der SDAPR, Staatsverlag 1926, neu abgedruckt.

Weiter bezieht sich Lenin auf den von der Gruppe der Menschewiki unter Beteiligung der Redakteure der „Iskra" ausgearbeiteten Entwurf der Resolution zum bevorstehenden Parteitag. Im 2. und 3. Paragraph des Abschnittes: „Die provisorische Regierung und der revolutionäre Absolutismus" betonten die Menschewiki, dass „der Übergang von der Verteidigung zum Angriff nur möglich ist bei Vorhandensein eines gesamtnationalen Zentrums, dem die ungeheure Masse der Bevölkerung ihr politisches Schicksal anzuvertrauen und das sie aktiv zu unterstützen bereit ist, um der Regierung die Macht zu entreißen; dass aber als solches Zentrum die im Gefolge eines siegreichen Aufstandes entstehende provisorische Regierung nicht in Frage kommen kann, weil dieses Zentrum oder seine Elemente eine der notwendigen Voraussetzungen des siegreichen Aufstandes darstellen."

Der menschewistische Entwurf ist in den gleichen „Protokollen des Vereinigungsparteitages der SDAPR abgedruckt.

* Die Anführungszeichen sollen wohl die Ironie unseres ZK ausdrücken!

3P. Struve trat in einer ganzen Reihe von Artikeln gegen den bewaffneten Aufstand auf: „Wie findet man sich selbst?" Antwort an den Verfasser des Briefes: „Wie man sich nicht verliert." („Oswoboschdenije" Nr. 71 vom 31. [18.] Mai 1905); „Fürst Potemkin und was weiter?" (ebenda, Nr. 73 vom 19. [6.] Juli 1905); „Die Revolution" (Poljarnaja Swesda" Nr. 1 vom 28. [15.] Dezember 1905); „Zwei Streikleitungen" (ebenda, Nr. 3 vom 12. Januar 1906 [30. Dezember 1905]); „Notizen eines Publizisten" (ebenda, Nr. 14 vom 1. April [19. März] 1906).

Jedoch in keinem einzigen der aufgezählten Artikel zieht P. Struve eine Parallele zwischen dem bewaffneten Aufstand und der Militärdiktatur. Eine solche Parallele wird lediglich gezogen in dem unter dem Pseudonym „Oswoboschdenez" („Oswoboschdenije-Leser") erschienenen Artikel: „Unsere Haltung in der Frage des bewaffneten Aufstandes." Brief an den Redakteur des Blattes „Oswoboschdenije" (Nr. 74, vom 26. [13.] Juli 1905). „Das offene Predigen des bewaffneten Aufstandes – schrieb ,Oswoboschdenez' – halten wir heute in Russland für wahnsinnig und verbrecherisch … auf diese Weise machen die Sieger im bewaffneten Zusammenstoß natürlich die Bahn frei für die Militärdiktatur, da die Geschichte zeigt, dass die durch bewaffnete Gewalt gestürzten Regierungen, wenn die Entscheidung von Staatsfragen durch die bewaffnete Gewalt sich in ein System verwandelt, einander solange ablösen, bis eine Militärdiktatur aufgerichtet wird." Die Redaktion des Blattes „Oswoboschdenije", d. h. P. Struve, der sich in einem Vorbehalt mit einigen Formulierungen des Verfassers dieses Artikels nicht einverstanden erklärte, pflichtete seinen Schlussfolgerungen bei.

Lenin zitierte bereits den Artikel von „Oswoboschdenez" in: „Der Boykott der Bulyginschen Duma und der bewaffnete Aufstand". (Band 8 der Werke.) In dem Artikel „Sozialrevolutionäre Menschewiki“ schreibt er ihn wiederum P. Struve zu. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass auch im gegebenen Fall Lenin den Artikel von „Oswoboschdenez" Struve zuschreibt.

4 Abgeleitet von Rasnotschinez; wörtlich: Leute verschiedenen Ranges, gemeint sind abgabenfreie Nichtadlige, mittlere Beamte. Die Red.

5 Lenin meint die im „Proletarij" Nr. 1 vom 3. September (21. August) 1906 abgedruckten Resolutionen der Parteikomitees der SDAPR in Kursk und Kaluga, des Moskauer Bezirkskomitees, des Gebietsvorstandes des Zentralrayons und der Konferenz von Kostroma. Alle diese Resolutionen verurteilen scharf die faktischen Schwankungen des Zentralkomitees und betonen den opportunistischen Charakter seiner Losungen. So z. B. heißt es in der Resolution des Moskauer Bezirkskomitees:

1. „Dass die Taktik der Unterstützung der Forderung auf Einberufung einer neuen oder Wiederherstellung der alten Reichsduma von der revolutionären Sozialdemokratie nicht unterstützt werden kann;

2. dass es notwendig ist, den Volksmassen den bewaffneten Aufstand als eine Aufgabe der allernächsten Zukunft vor Augen zu führen;

3. dass das unmittelbar nächste Ziel des Kampfes die Bildung einer provisorischen revolutionären Regierung sein muss, die verpflichtet ist, bei der allerersten Gelegenheit die konstituierende Versammlung einzuberufen;

4. dass der Generalstreik im Verein mit dem bewaffneten Aufstand zu einem Zeitpunkt erfolgen muss, wenn unter den Bauern eine intensive, von den Truppen unterstützte Bewegung vorhanden ist.

Dem ZK muss der Rat erteilt werden, keine entscheidenden Handlungen zu unternehmen, ohne vorher mit den bedeutendsten Organisationen verhandelt und sich deren Einverständnis gesichert zu haben."

6 Es handelt sich um die Konferenz der Vertreter der Eisenbahner, die im August zur Entscheidung der Frage des Generalstreiks im Zusammenhang mit der Auflösung der Reichsduma einberufen worden war. An der Konferenz beteiligten sich die Delegierten von 23 Eisenbahnen, die Vertreter des Zentralvorstandes des Allrussischen Eisenbahnerverbandes, der Trudowikigruppe, des ZK der Partei der Sozialrevolutionäre, des ZK der SDAPR, des Bund, der PPS, des Bauernbundes, des Post- und Telegraphenverbandes und der Wolga-Schiffahrtsorganisation der Partei der Sozialrevolutionäre. In der von der Konferenz angenommenen Resolution wurde hervorgehoben, dass „der bevorstehende Generalstreik zu jenem Ansturm der Volksmassen werden wird, der der absolutistischen Regierung die Macht aus der Hand reißen muss. Die Durchführung des Streiks auf den Eisenbahnen muss infolgedessen eine breite Massenaktion der werktätigen Bauern, der. Arbeiter und der anderen Bevölkerungsschichten zur Bedingung haben. Von Teilstreiks ist unter allen Umständen abzusehen, jene Fälle ausgenommen, wo die Einstellung des Eisenbahnverkehrs durch das Vorgehen der Bevölkerung der Umgebung zum Kampf gegen die Regierung erfolgte…" (Proletarij" Nr. 1 vom 3. September [21. August] 1906).

Der Zentralvorstand des Eisenbahnerverbandes entwickelte in seinem Referat auf dieser Konferenz im Grunde genommen denselben Gedanken und betonte lediglich noch schärfer den Umstand, dass für die Eisenbahner die Erklärung des Streiks mit der Erklärung eines regelrechten Krieges an den Absolutismus gleichbedeutend sein wird und dass der Erfolg des letzteren von der Kampfstimmung nicht nur des städtischen Proletariats, sondern auch der breiten Massen der Bauernschaft abhängt.

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