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Wladimir I. Lenin 19061002 Sozialrevolutionäre Menschewiki

Wladimir I. Lenin: Sozialrevolutionäre Menschewiki

[Proletarij" Nr. 4, 2. Oktober (19. September) 1906. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 94-105]

Die Sozialdemokraten haben bereits Anfang 1905 darauf hingewiesen, dass der Programmentwurf der Sozialrevolutionäre („Sozialistenrevolutionäre") deutlich die Entwicklung „vom Narodnikitum zum Marxismus" kennzeichnet. Die Unvermeidlichkeit des inneren Zerfalls einer Partei, die eine solche Entwicklung durchmacht, ist augenscheinlich.

Jetzt ist dieser Prozess des geistigen und politischen Zerfalls der Partei der Sozialrevolutionäre im vollen Gange. Die „Protokolle" des ersten Parteitages der Sozialrevolutionäre, die in diesem Jahre in Paris in Buchform erschienen sind, zeigen klar die Linien, auf denen sich dieser Prozess vollzieht. Die laufende politische Literatur der „Maximalisten" und der Vertreter der in Entstehung begriffenen „Werktätig-volkssozialistischen Partei" hat den Zerfall in vollem Umfange endgültig aufgedeckt.

Die beiden großen Spaltungen, die die Sozialdemokratie durchgemacht hat – die Spaltung in „Ökonomisten" und Anhänger der alten Iskra in den Jahren 1900 bis 1903 und die Spaltung in „Menschewiki" und „Bolschewiki" in den Jahren 190ä bis 1906 , wurden hervorgerufen durch den scharfen Kampf der zwei Richtungen, die in der gesamten internationalen sozialistischen Bewegung vorhanden sind: der opportunistischen Richtung und der revolutionären Richtung, in ihrer eigenartigen, der einen oder anderen Periode der russischen Revolution entsprechenden Form. Die Partei der Sozialrevolutionäre hingegen ist gleich beim ersten Versuch eines einigermaßen offenen und wirklich parteimäßigen Auftretens in drei Richtungen zerfallen: 1. Die Linke – die „Maximalisten". 2. Das Zentrum – die Sozialrevolutionäre alten Schlages, und 3. die Rechte – die Opportunisten (mit anderen Worten: die „Legalisten", „Werktätige Volkssozialisten" u. dgl. m.), mit denen wir uns in dem vorliegenden Artikel befassen werden. Aus den Protokollen des 1. Parteitages der Sozialrevolutionäre sind die Umrisse aller drei Richtungen klar erkennbar. Jetzt haben wir in der Literatur schon deutliche Spuren der Richtungen, die sich vom „Zentrum" getrennt haben (oder sich trennen?). Die Maximalisten haben „Geradeaus zum Ziel" und eine ausführliche programmatische Broschüre des Herrn Tag–in „Prinzipien der Werktätigkeitstheorie" veröffentlicht. Die opportunistischen Sozialrevolutionäre haben in den schriftlichen Abhandlungen der Herren Pjeschechonow und Co. schon fast alles ausgesprochen. Der Vertreter des „Zentrums", Herr Tschernow, hat die Maximalisten in der Zeitung „Mysl" (oder vielleicht im „Golos", „Djelo Naroda" usw.) mit vollem Recht „Vulgärsozialisten" genannt, über die opportunistischen Sozialrevolutionäre aber hat er, wenn wir uns nicht irren, bisher in der Presse geschwiegen. Das Konkubinat des sozialrevolutionären Sumpfes und der Sozialrevolutionären „äußersten Rechten" in den oben genannten Zeitungen ist wohl nicht billig zu stehen gekommen.

Der Zerfall der Anhänger des „Werktätigkeits-Prinzips", der Verehrer Lawrows und Michailowskis in drei Richtungen ist eine wichtige politische Tatsache in der Geschichte des russischen kleinbürgerlichen Radikalismus. Die Marxisten müssen dieser Tatsache, die mittelbar auch die politische Richtung beleuchtet, in der der Gedanke der erwachenden russischen Bauernschaft reift, ernste Beachtung schenken.

Der grundlegende Widerspruch in der ganzen programmatischen Stellung der Sozialrevolutionäre ist das Schwanken zwischen Narodnikitum und Marxismus. Der Marxismus verlangt eine klare Trennung zwischen Maximalprogramm und Minimalprogramm. Das Maximum ist die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft, die ohne Vernichtung der Warenproduktion unmöglich ist. Das Minimum sind die Umgestaltungen, die bereits im Rahmen der Warenproduktion möglich sind. Die Vermengung des einen mit dem andern führt unweigerlich zu allen möglichen kleinbürgerlichen und opportunistischen oder anarchistischen Entstellungen des proletarischen Sozialismus, verdunkelt unweigerlich die Aufgabe der sozialen Revolution, die durch die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat verwirklicht wird.

Vom Standpunkt des alten Narodnikitums, der Grundsätze Lawrows, W. W.s, Michailowskis und Co. ist die Trennung zwischen Maximalprogramm und Minimalprogramm unnötig und unverständlich, da die Theorie des Narodnikitums die Anwendbarkeit der Gesetze und Kategorien der Warenproduktion auf die russische Bauernwirtschaft leugnet. Jeder einigermaßen folgerichtige Anhänger Lawrows und Michailowskis (wie auch W. W.s und Nikolai-ons, die man ganz zu Unrecht vergisst, da es eine andere Quelle ökonomischer Gedanken bei den Narodniki von heute nicht gibt) musste unweigerlich gegen die marxistische Teilung des Programms in Maximum und Minimum rebellieren. Und der erste Versuch der Sozialrevolutionäre, vom Zirkelwesen zum Auftreten als Partei überzugehen, offenbarte sofort die Kraft und die Richtung dieser Rebellion. Die Anhänger der revolutionären Bestrebungen des Narodnikitums erklärten: warum sollen wir nur die Sozialisierung des Grund und Bodens verlangen? Wir verlangen genau so die Sozialisierung der Fabriken und Betriebe! Nieder mit dem Minimalprogramm! Wir sind Maximalisten! Nieder mit der Theorie der Warenproduktion!

Ihrem Wesen nach verschmilzt diese maximalistische Strömung, wie auch zu erwarten stand, beinahe mit dem Anarchismus.

Die Anhänger der opportunistischen Strömungen in der Narodnikibewegung, die Narodniki der achtziger Jahre, brachen in Wehklagen aus: Wozu ein Minimalprogramm, wozu alle Diktaturen des Proletariats? Der Sozialismus ist eine fern in die Zukunft reichende Perspektive. Wozu die für die Massen schreckliche Bezeichnung: „Sozialrevolutionäre"? Wozu die Forderung „Republik"? Wozu eine illegale Partei? Nieder damit! Nieder mit dem Maximalprogramm! Nieder mit den „gefährlichen" Stellen des Minimalprogramms! Anstatt jedweden Programms – die „Plattform" einer offenen, legalen, nichtrepublikanischen „werktätigen volkssozialistischen Partei"!*

Die zentristischen Sozialrevolutionäre, die alten Sozialrevolutionäre, können sich gegen diese beiden Strömungen nur dadurch verteidigen, dass sie sich auf die Gesetze der Warenproduktion berufen, nur dadurch, dass sie sich im Wesentlichen auf den Standpunkt des Marxismus stellen. Durchaus berechtigt war es daher, wenn dem Sozialrevolutionären Zentrum auf dem ersten Parteitag der SR sowohl von rechts als auch von links Marxismus, der Wunsch, mit den Sozialdemokraten in Wettbewerb zu treten, vom sozialdemokratischen Ofen aus zu tanzen, vorgeworfen wurde.1 Die Frage des Übertritts dieses Zentrums zu den Sozialdemokraten ist jetzt nur eine Frage der Zeit. Und je eher eine Epoche eines völlig offenen Daseins der revolutionären Parteien eintritt, um so eher kommt diese Zeit. Keine Vorurteile gegen den marxistischen „Dogmatismus" werden der unerbittlichen Logik der Ereignisse standhalten.

Die kurze Existenz der Kadettenduma war die Epoche des ersten Auftretens der Vertreter der Bauernmassen auf der politischen Arena des russischen Reiches. Die Sozialrevolutionäre mussten notgedrungen eine Annäherung mit diesen Vertretern anstreben und versuchen, sie politisch um ihr eigenes Programm zu organisieren. Hierbei stellte es sich heraus, dass die Sozialdemokraten verhältnismäßig schnell eine sozialdemokratische Parteifraktion bildeten. Die Sozialrevolutionäre hingegen konnten die ganze Zeit über nur hinter dem Rücken der Trudowiki vorgehen. Die Fähigkeit des kleinen Produzenten zu politischem Zusammenschluss erwies sich sofort als unvergleichlich geringer als die der Arbeiterklasse. Nicht genug damit: sogar hinter dem Rücken der Trudowiki waren die Sozialrevolutionäre außerstande, eine geschlossene politische Kampagne durchzuführen. In der Bodenfrage, die für die Bauernschaft die Kernfrage ist, offenbarte sich die Spaltung zwischen opportunistischen und zentristischen Sozialrevolutionären sehr schnell. Die ersten siegten in der Arena des „parlamentarischen" Auftretens vor den Vertretern der Massen: sie gewannen 104 Trudowiki für den opportunistischen Agrarentwurf, während für den Agrarentwurf, der dem Programm der Sozialrevolutionären Partei nahesteht, später nur 33 Trudowiki (von denselben 104) eintraten.

Diese Spaltung in einer offenen politischen Aktion vor dem ganzen Volk musste unweigerlich die Meinungsverschiedenheiten, die die Spaltung hervorgerufen hatten, zu einem System werden lassen. Herr Pjeschechonow, einer der Führer der sozialrevolutionären Opportunisten, ging in dieser Systematisierung weiter als alle anderen. Hier seine Ansichten, die von ihm geschilderten „Umrisse und Ausmaße der Plattform" der bäuerlichen Kadetten:

Die revolutionären Forderungen müssen mit den revolutionären Kräften im Einklang stehen und ihren Ausmaßen entsprechen" (siehe S. 194 des „Russkoje Bogatstwo" Nr. 8). Deswegen darf man die „Linie von Land und Freiheit" nicht „zu weit vorrücken". An Stelle des Maximalprogramms und des Minimalprogramms „der beiden sozialistischen Parteien: der Sozialdemokraten und der Sozialrevolutionäre", braucht der Kleinbürger eine „Plattform" als „Plan der Kampagne, der nicht auf eine lange Periode (die bis zum Sozialismus reicht), sondern nur auf die nächste Zeit berechnet ist". Der Rest des Weges bis zum Endziel ist „eine weit in die Ferne reichende Perspektive" (S. 196). Deshalb muss das Wort Republik aus der „Plattform" entfernt werden: „Wir müssen zweifellos mit dem psychologischen und nicht mit dem ökonomischen Faktor rechnen … Der Gedanke der Monarchie ist zu fest im Volksbewusstsein verankert" … „Tausend Jahre sind nicht umsonst vergangen" … „Mit dieser Psychologie der breiten Massen muss man unbedingt rechnen" … „Die Frage der Republik erfordert äußerste Vorsicht" (S. 198). Ebenso die nationale Frage. „Wir müssen wiederum mit der Psychologie des Volkes rechnen, die ein Erzeugnis seiner tausendjährigen Geschichte ist" (S. 198) … „Deswegen halten wir es für notwendig, nicht mit der Losung der Unabhängigkeit der Nationalitäten in die Massen zu gehen" (und nicht ihrer Selbstbestimmung, wie der Verfasser an einer anderen Stelle sagt), „sondern mit der Forderung, die das Leben stellt – mit der Forderung ihrer Autonomie" (S. 199). Mit einem Wort, Herr Pjeschechonow stellt direkt die Frage: „Kann man die ganze Freiheit nehmen?" Und antwortet rundweg: Nein.

Er stellt weiter die Frage: „Kann man den ganzen Grund und Boden nehmen?" und antwortet ebenfalls: Nein. Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht, ihr Herren! Die Bauern-Abgeordneten sagten Herrn Pjeschechonow in der Duma: „Wir sind hierher geschickt worden, Land zu erhalten und nicht Land abzugeben" (S. 201). Die Bauern wollen gegenwärtig keine Sozialisierung (Gleichmachen) oder Nationalisierung des Landes. Sie fürchten das. Sie wollen nur mehr Land. „Es wäre daher zweckmäßiger, die Linie des ,Landes' in der Plattform nicht zu Ende zu führen" (S. 206 ff.). „Ich halte es sogar für gefährlich, gegenwärtig die Frage des allgemeinen Gleichmachens aufzuwerfen" (S. 205). „Bodenanteile und private Ländereien sind in den Grenzen der Werktätigkeitsnorm den gegenwärtigen Besitzern zu belassen" – laut Entwurf der 104 –, die Überführung des gesamten Landes aber in allgemeinen Volksbesitz muss verschoben werden – offenbar ebenfalls als „eine weit in die Ferne reichende Perspektive".

Vorsicht, Mäßigung und Sorgfalt sind sowohl in den Kampfmitteln als auch in den Organisationsmethoden erforderlich. Bewaffneter Aufstand? „Ich (Pjeschechonow) betone unermüdlich: Lass diesen Kelch an uns vorübergehen!… Es wäre indes zu betrüblich, wenn der Aufstand von irgend jemand nicht nur als traurige Möglichkeit, sondern auch als vom Schicksal bestimmte Notwendigkeit gedacht würde" … „Es ist gefährlich davon unvorsichtig Gebrauch zu machen Das kann der ganzen Bewegung das Rückgrat brechen" (Nr. 7, S. 177 f.). Die Hauptaufgabe des Tages ist die Organisation „der Volkskräfte". „Ich glaube nicht daran, dass die beiden bei uns bestehenden sozialistischen Parteien diese Aufgabe einigermaßen zufriedenstellend lösen können. Es ist an der Zeit, zu erkennen, dass eine konspirative Organisation nicht die Massen erfassen kann. Die Kadettenpartei hat erklärt, dass sie dieser Aufgabe ebenfalls nicht gewachsen ist. Augenscheinlich muss diese Aufgabe irgend jemand anders in Angriff nehmen, und deshalb, glaube ich, ist eine offene sozialistische Partei erforderlich" (Nr. 7, S. 179 f.).

Wie der Leser sieht, kann man nicht bestreiten, dass die Ansichten des Herrn Pjeschechonow logisch durchdacht und in sich abgeschlossen sind. Vom offiziellen Programm der Sozialrevolutionäre ist bei diesem Verteidiger der Monarchie, bei diesem Allerweltspolitiker, der die Knute mit der Begründung rechtfertigt, dass sie eine tausendjährige Geschichte habe, nicht viel übrig geblieben. Und wenn die Herren „wirklichen" Sozialrevolutionäre** im Verlauf der ganzen Dumaperiode solche Meinungsverschiedenheiten geschickt geheim zu halten vermochten, wenn sie sich zwecks ihrer Geheimhaltung sogar zu gemeinsamer Arbeit in ein und denselben Zeitungen einzurichten vermochten, so zeigt uns das nur, wie weit ihre politische Heuchelei reicht.

Worin besteht die sozialökonomische, die Klassengrundlage des Sozialrevolutionären Opportunismus? Darin, dass die Herren Pjeschechonow und Co. sich den Interessen des praktischen Muschiks anpassen, den Sozialismus seinen Interessen entsprechend zurechtstutzen.

Man nehme die Kernfrage: die Landfrage. Herr Pjeschechonow wiederholt zweimal mit besonderem Wohlgefallen den Ausspruch der Trudowiki-Bauern: „Wir sind hierher geschickt worden, Land zu erhalten und nicht Land abzugeben." Das sind wirklich außerordentlich bemerkenswerte Worte. Aber diese Worte widerlegen ganz die kleinbürgerlichen Illusionen des Narodnikitums und bestätigen alle Behauptungen der Marxisten. Diese Worte zeigen anschaulich, dass die Eigentümerinstinkte des mittleren Bauern schon erwachen. Dabei muss man doch geradezu keine Ahnung von der politischen Ökonomie und der Geschichte Westeuropas haben, wenn man nicht weiß, dass diese Instinkte sich um so mehr festigen und entwickeln, je breiter die politische Freiheit und die Volksherrschaft ist.

Welche Schlussfolgerung musste jeder, für den der Sozialismus nicht eine hohle Phrase ist, aus diesen Worten eines vernünftigen, von der „Masse" gewählten, praktischen Muschiks ziehen? Augenscheinlich die Schlussfolgerung, dass eine solche Klasse von praktischen Muschiks nicht Träger des Sozialismus sein kann; dass die Sozialisten die Klasse der kleinen Besitzer in ihrem Kampf gegen die Gutsbesitzer einzig und allein wegen der bürgerlich-demokratischen Bedeutung und der bürgerlich-demokratischen Ergebnisse dieses Kampfes unterstützen können und unterstützen müssen; dass der Sozialist verpflichtet ist, den Gegensatz nicht zu verwischen, sondern aufzudecken, der zwischen den Interessen der gesamten Arbeitermasse und diesen kleinen Besitzern besteht, die die Lage ihrer Wirtschaft zu stärken und zu festigen wünschen, die darum jeden Gedanken bekämpfen werden, dass Grund und Boden oder irgend etwas anderes der Masse der armen Besitzlosen, der Bettler, der Habenichtse „abgegeben" werden soll. „Wir wollen Land erhalten und nicht Land abgeben!" Kann es einen vortrefflicheren Ausdruck für kleinbürgerliche Eigentumsinstinkte und Bestrebungen geben?

Der Sozialdemokrat zieht hieraus den Schluss: Wir müssen diese kleinen Besitzer in dem Kampf, den sie gegen die Gutsbesitzer und den Absolutismus führen, wegen des revolutionären bürgerlich-demokratischen Charakters dieses Kampfes unterstützen. Die Lage des gesamten Volkes wird sich bei ihrem Siege verbessern; ihr Sieg wird jedoch eine Verbesserung und Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zur Folge haben. Deshalb dürfen wir nicht den Eigentums- oder Besitzerinstinkten dieser Klasse schmeicheln, sondern müssen im Gegenteil unverzüglich den Kampf gegen diese Instinkte aufnehmen, dem Proletariat ihre Bedeutung klarmachen, müssen das Proletariat warnen und es zu einer selbständigen Partei organisieren. Unser Agrarprogramm will den kleinen Besitzern helfen, auf revolutionärem Wege das Joch der feudalen Großgrundbesitzer abzuschütteln, will ihnen die Bedingungen zeigen, unter denen die Nationalisierung des Grund und Bodens, die beste Agrarordnung im Kapitalismus, verwirklicht werden kann, und alle Unterschiede zwischen den Interessen des Proletariats und des kleinen Besitzers klarstellen.

Der Sozialismus des kleinen Krämers kommt zu einer anderen Schlussfolgerung: wir müssen mit der Psychologie der „Masse" (der Masse der kleinen Besitzer und nicht der Masse der Besitzlosen) „rechnen", wir müssen uns sklavisch dem Wunsch der Besitzer beugen, etwas vom Gutsbesitzer zu „erhalten", nicht aber dem Proletarier etwas „abzugeben", wir müssen dem kleinen Besitzer zuliebe den Sozialismus in eine nebelhafte „Ferne" verschieben, müssen das Bestreben des kleinen Besitzers anerkennen, die Lage seiner Wirtschaft zu festigen; mit einem Wort, wir müssen die Liebedienerei vor dem engstirnigen Eigennutz der kleinen Besitzer und die Lakaienhaftigkeit vor ihren Vorurteilen „Sozialismus" nennen.

Monarchistische Gefühle sind ein Vorurteil. Vielleicht denkt jemand, es sei die Aufgabe der Sozialisten, die Vorurteile zu bekämpfen? Er irrt: der „werktätige Sozialismus" muss sich den Vorurteilen anpassen.

Vielleicht nimmt jemand an, dass die monarchistischen Vorurteile ganz besonders rücksichtslos bekämpft werden müssen, weil sie so lange bestehen und so „fest" (??) sind? Er irrt: der „werktätige Sozialismus" leitet aus dem langen Lebensalter der Knute nur die Notwendigkeit „äußerst vorsichtigen" Verhaltens gegenüber der Knute ab.

Der gegen die Kadetten kämpfende – angeblich kämpfende – Herr Pjeschechonow wiederholt zwar von Anfang bis zu Ende genau dieselben Betrachtungen, die die Kadetten zugunsten der Monarchie anstellen. Nun was ist schon dabei? Hat man wirklich bisher nicht gewusst, dass der bürgerliche Radikale gegen den bürgerlichen Liberalen nur deswegen Krieg führt, weil er seinen Platz einnehmen will, keineswegs aber deshalb, weil er sein Programm durch ein wesentlich anderes Programm ersetzen will? Hat man wirklich die Geschichte der französischen sozialistischen Trudowiki … wollte sagen, sozialistischen Radikalen vergessen, die gegen die französischen Kadetten „Krieg führten", um dann, zu Ministerposten gelangt, ganz genau so zu handeln, wie die französischen Kadetten? Sieht man wirklich nicht, dass sich Herr Pjeschechonow um kein Haar mehr von Herrn Struve unterscheidet, als Bobtschinsky von Dobtschinsky?

Herrn Pjeschechonow schwant vielleicht, dass zwischen dem Wunsch, „Land zu erhalten, nicht aber es abzugeben", und der Monarchie eine gewisse materielle Verbindung besteht. Wenn man „nicht abgeben" will, muss man verteidigen. Die Monarchie aber ist ja gerade das Staatswesen, das denjenigen, die wünschen „nicht abzugeben", durch polizeiliche Söldlinge gegen diejenigen Schutz gewährt, die fähig sind, zu nehmen.*** Die Kadetten benötigen die Monarchie zur Verteidigung der Großbourgeoisie. Die „werktätigen Sozialisten" benötigen die Monarchie zur Verteidigung der praktischen Muschiks.

Es versteht sich von selbst, dass sich aus einer solchen Weltanschauung der „werktätigen Sozialisten" unweigerlich ein pedantenhaft jämmerliches Verhalten zum Aufstand ergibt („traurige Möglichkeit"; man vergleiche die Artikel Herrn Struves, die im Sommer 1905 in dem „Oswoboschdenije" über die „wahnsinnige und verbrecherische Propaganda des Aufstandes" veröffentlicht worden sind). Hieraus folgt auch die wichtigtuerische Verachtung gegenüber der „konspirativen Organisation" und das Geseufze – im August 1906 – nach einer „offenen sozialistischen Partei". An die objektiven geschichtlichen Bedingungen, die den Aufstand unvermeidlich machen, die die dunkle Masse trotz all ihrer Vorurteile zum Kampfe gegen die Monarchie zwingen, da es keinen anderen Weg des Kampfes für ihre wichtigsten Bedürfnisse gibt, die das Manilowsche Geseufze nach einer „offenen sozialistischen Partei" zum Wasser auf die Mühle der Herren Uschakow werden lassen, – an diese objektiven geschichtlichen Bedingungen denken die Herren Pjeschechonow nicht. Die Verehrer Lawrows und Michailowskis müssen mit der Psychologie der verschüchterten Masse rechnen, nicht mit den objektiven Bedingungen, die die Psychologie der kämpfenden Masse umgestalten.

Fassen wir zusammen. Wir wissen jetzt, was es heißt, werktätiger Volkssozialist zu sein. Werktätig, das heißt: vor den Interessen der kleinen Besitzer, die „zu erhalten und nicht abzugeben" wünschen, auf dem Bauche liegen. Volkssozialist, das heißt: vor den monarchistischen Vorurteilen des Volkes, vor der chauvinistischen Angst, einige Nationalitäten könnten sich von Russland loslösen, auf dem Bauche liegen. Sozialist, das heißt: den Sozialismus für eine weit in die Ferne reichende Perspektive erklären und das enge, doktrinäre, für die Allerweltspolitiker beschwerliche Programm durch eine breite, freie, biegsame, bewegliche, leichte, leicht gekleidete und sogar ganz entkleidete „Plattform" ersetzen. Es leben die „werktätigen Volkssozialisten"!

Die Herren Pjeschechonow sind die ersten Schwalben der sozialen Reaktion, die in der russischen Bauernschaft beginnt. Der liebe Gott hat die Pjeschechonow auf die Erde gesandt, um den marxistischen Satz von der zwiespältigen Natur jedes kleinen Produzenten zu veranschaulichen. Der Bauer hat ein Urteil und ein Vorurteil, hat die revolutionären Fähigkeiten des ausgebeuteten Menschen und die reaktionären Bestrebungen des kleinen Besitzers, der zu „erhalten, aber nicht abzugeben" wünscht. Die Herren Pjeschechonow sind der geistige Ausdruck der reaktionären Seiten des bäuerlichen kleinen Besitzers. Die Herren Pjeschechonow sind die „After"-Theoretiker des russischen Bäuerleins. Die Herren Pjeschechonow besorgen geistig dieselbe Arbeit, die die Herren Gurko und Stischinski grob materiell besorgen, indem sie die bäuerlichen Bourgeois durch den Verkauf von Kron- und Staats-Ländereien bestechen.

Aber es ist noch eine große Frage, ob es durch solche kleine Mittelchen gelingen wird, den Zusammenstoß, der in dem scharfen Kampf der Massen und ihrer Ausbeuter unvermeidlich ist, erheblich abzuschwächen. Es ist noch eine große Frage, ob es dem traditionellen und durch alle möglichen Opportunisten aufgefrischten bäuerlichen Vorurteil gelingt, des Urteils der im Feuer der Revolution erwachenden bäuerlichen Armut Herr zu werden. Jedenfalls werden die Sozialdemokraten ihre Pflicht erfüllen und das revolutionäre Selbstbewusstsein der Bauernschaft stärken und reinigen.

Dem rechten Flügel der Sozialdemokratie aber mögen die Herren Pjeschechonow als Warnung dienen. In unserer Kritik der werktätigen Volkssozialisten könnten wir manchmal gewissen menschewistischen Sozialdemokraten sagen: mutato nomine de te fabula narratur (Die Fabel spricht von dir, nur der Name ist geändert). Auch bei uns gibt es Leute, die sich nach einer offenen Partei sehnen, die bereit sind, das Programm durch eine Plattform zu ersetzen, um sich der zurückgebliebenen Masse anzupassen. Bei uns gibt es einen Plechanow, der das berühmte Urteil über den Dezemberaufstand gefällt hat: „Man hätte nicht zu den Waffen greifen dürfen“. Bei uns gibt es den Mitarbeiter der „Otkliki Sowremennosti" Malischewski, der (obschon nicht in den „Otkliki Sowremjonnosti") die Republik aus dem Programm gestrichen wissen wollte.2 Es würde diesen Leuten gar nichts schaden, sich die Herren Pjeschechonow in ihrer ganzen „natürlichen Schönheit" genau anzusehen.

* Siehe im Besonderen die Artikel des Herrn Pjeschechonow in den Juli- und August-Heften des „Russkoje Bogatstwo", sowie die Zeitungsnotizen über die Bildung der „Werktätigen Volkssozialistischen Partei", über die Sitzung ihrer Organisationskommission oder ihres Petersburger Komitees usw.

[Lenin meint die Artikel von A. W. Pjeschechonow: „Die Chronik des inneren Lebens", „Russkoje Bogatstwo" („Russischer Reichtum") Nr. 7 vom Juli 1906 und „Zu den laufenden Fragen" in Nummer 8 der gleichen Zeitschrift, August 1906.

Der Hinweis von Lenin auf die Zeitungsnotizen über die Sitzung des Petersburger Komitees der „Volkssozialistischen Partei" bezieht sich auf die Zeitung „Towarischtsch" Nr. 26 vom 17. (4.) August 1906, in der mitgeteilt wurde, dass die ordentliche Versammlung des Petersburger Komitees der werktätigen Volkssozialistischen Partei die Frage der Legalisierung der Partei besprochen, jedoch den Moment für die Legalisierung nicht geeignet erachtet und die Frage bis Ende August oder Anfang September zurückgestellt habe.]

1 Lenin meint die auf dem 1. Parteitag der Sozialrevolutionäre gehaltene Rede des Vertreters des rechten Flügels, der erklärte: „Meines Erachtens leidet sowohl die Einführung als auch das Programm selbst an einem großen Fehler. Das ist – ich sage das mit aller Schärfe, der Wettstreit mit der Sozialdemokratie. Der Referent, ebenso wie viele andere, tanzen alle um ein und denselben verhängnisvollen Punkt herum – um die sozialdemokratischen Anschauungen. Das bringt einen Eklektizismus in unser Programm. Zum Beispiel gebraucht der Referent die Worte ,Volk' und ,Arbeiterklasse' als Synonyme, und doch kann ich mir die werktätige Bauernschaft oder gar die Intelligenz nicht als Arbeiterklasse vorstellen … Weiter ist im Programm der Sozialdemokratie ein Punkt enthalten – die Diktatur des Proletariats. Wie man ihn auch betrachten mag, er hat einen durchaus bestimmten Sinn, aber ,Diktatur des Volkes' – das ist ein ebensolches Absurdum, wie eine Diktatur über sich selbst." („Protokolle des 1. Parteitages der Sozialrevolutionäre", Seite 87).

Die gleiche Beschuldigung wiederholte auch der Vertreter des linken Flügels in folgender Form: „Ich verstehe nicht, warum Genosse Krymski (der die Haltung der Zentrale verteidigte. – Red.) hier auf dem Parteitag der Sozialrevolutionäre und nicht in den Reihen der Sozialdemokratie ist. Wenn wir, wie das, der Sozialdemokratie folgend, Genosse Krymski tut, alle unsere Hoffnungen auf das weitere Wachstum und die Entwicklung des Kapitalismus in Russland setzen, wozu zum Teufel – verzeihen Sie mir den vulgären Ausdruck – brauchen wir dann die Bauernschaft. Entweder ist diese null, entweder ist es ihr beschieden, sich zu proletarisieren, und dann haben wir jetzt mit ihr nichts zu tun, oder die Bauernschaft ist eine ganz besondere gesellschaftliche Kraft, die, nachdem sie bewusst die geschichtliche Arena betreten hat, tiefe Veränderungen im sogenannten ,natürlichen Lauf der Dinge' hervorrufen wird. Wenn wir unsere Hoffnungen nur auf das Wachstum des Kapitalismus und des Proletariats setzen, dann haben wir die Bauernschaft nicht nötig" („Protokolle", S. 110 u. 111).

** Trotz aller ihrer schwungvollen revolutionären Redensarten.

*** Ein anderes Werkzeug polizeilichen Schutzes der Eigentümer heißt stehendes Heer. Und siehe da, Herr Pjeschechonow schreibt: „Die demokratische Republik begreift in sich wohl die Bewaffnung des Volkes an Stelle des stehenden Heeres (siehe Nr. 8, S. 197). Seid so gut, ihr Herren Verehrer Lawrows und Michailowskis, uns offen zu erklären, was dies prachtvolle „wohl" bedeutet?

2 Lenin meint den Artikel von N. Malischewski „Die Rolle der Sozialdemokratie in der russischen Freiheitsbewegung", abgedruckt in dem sogenannten „Ersten Sammelheft" (Verlag W. D. Kartschagin, Petersburg 1906). „Warum gibt sich die russische Sozialdemokratie – schrieb N. Malischewski in diesem Artikel – nicht mit der allgemeinen Forderung unserer Freiheitsbewegung, nämlich mit der Forderung der Einberufung der Konstituierenden Versammlung bei allgemeiner usw. Stimmenabgabe zufrieden? Welche Gründe hat sie, um schon jetzt die Republik, noch dazu die demokratische anzustreben?" N. Malischewski, der im weiteren eine Reihe europäischer Revolutionen, die den Absolutismus vernichtet, aber keine republikanische, sondern eine konstitutionelle Regierungsform errichtet haben, der Analyse unterzieht, kommt zu folgender Schlussfolgerung: „Unser Proletariat hat jene Rolle gespielt, die nach der marxistischen Lehre der Bourgeoisie zukam. Das russische Proletariat hat also, zusammen mit dem Absolutismus, auch die marxistische Lehre vernichtet. Man muss eines von beiden wählen: entweder anerkennen, dass die marxistische Anschauung über die Revolution richtig ist – in diesem Falle muss im Gefolge unserer Revolution die konstitutionelle Ordnung entstehen, keinesfalls aber die demokratische Republik; oder aber die marxistische Lehre hat sich als falsch erwiesen, die politische Revolution hat bei uns das Proletariat allein vollbracht, weshalb Grund zu der Annahme besteht, dass das Proletariat sie bis zu Ende führen kann …, d. h. wir sind sofort vom Absolutismus zur Herrschaft der Demokratie übergegangen… Unsere Sozialdemokraten haben sich in diesen Widersprüchen noch nicht zurechtgefunden."

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