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Wladimir I. Lenin 19070218 Vorwort zur russischen Ausgabe der Briefe von Karl Marx an L. Kugelmann

Wladimir I. Lenin: Vorwort zur russischen Ausgabe der Briefe von Karl Marx an L. Kugelmann1

[Geschrieben am 18. (5.) Februar 1907 Veröffentlicht 1907 in der Broschüre: „K. Marx, Briefe an L. Kugelmann" Verlag Nowaja Duma. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 482-491]

Mit der separaten Herausgabe der gesamten, in der deutschen sozialdemokratischen Wochenschrift „Die Neue Zeit" erschienenen Briefe Marxens an Kugelmann beabsichtigen wir, die russische Öffentlichkeit mit Marx und dem Marxismus näher bekannt zu machen. Aus naheliegenden Gründen ist in der Marxschen Korrespondenz den persönlichen Angelegenheiten viel Platz eingeräumt. Für einen Biographen bieten diese äußerst wertvolles Material. Dagegen sind für die breitere Öffentlichkeit, wie besonders für die arbeitende Klasse Russlands, von weit größerer Wichtigkeit diejenigen Stellen der Briefe, die theoretisches und politisches Material enthalten. Gerade für uns ist es in der gegenwärtigen revolutionären Epoche besonders lehrreich, sich in das Material zu vertiefen, das uns Marx als einen unmittelbar auf alle Fragen der Arbeiterbewegung und Weltpolitik reagierenden Politiker vor Augen führt. Die Redaktion der „Neuen Zeit" bemerkt mit Recht, dass „die Bekanntschaft mit der Physiognomie von Männern, deren Denken und Wollen sich unter Bedingungen gewaltiger Umwälzungen bildeten, erhebend wirkt". Für einen russischen Sozialisten vom Jahre 1907 ist eine solche Bekanntschaft doppelt notwendig, da sie eine Fülle äußerst wertvoller Hinweise auf die unmittelbaren Aufgaben der Sozialisten in einer jeden Revolution seines Landes enthält. Gerade jetzt durchlebt Russland eine „gewaltige Umwälzung". Marxens Politik in der Zeit der relativ stürmischen sechziger Jahre muss in der gegenwärtigen russischen Revolution immer und immer wieder als ein wahres Musterbeispiel für die Politik eines Sozialdemokraten herangezogen werden.

Wir erlauben uns daher, die theoretisch besonders wichtigen Stellen aus dem Marxschen Briefwechsel nur kurz zu streifen, dafür aber die revolutionäre Politik Marxens, als des Vertreters des Proletariats, ausführlicher zu behandeln.

Hervorragendes Interesse für die erweiterte und vertiefte Kenntnis des Marxismus bietet der Brief vom 11. Juli 1868 (S. 42 ff). In der Form von polemischen Bemerkungen gegen die Vulgärökonomen setzt hier Marx seine Auffassung der sogenannten ..Arbeitswerttheorie" außerordentlich prägnant auseinander. Gerade diejenigen Einwände gegen die Marxsche Werttheorie, die bei den am wenigsten geschulten Lesern des „Kapital" am ehesten auftauchen und daher von den Dutzendvertretern der „professoralen", bürgerlichen „Wissenschaft" am beharrlichsten unterstützt werden, werden hier von Marx kurz, einfach und außerordentlich klar analysiert. Marx zeigt hier, welchen Weg er einschlug und welcher Weg eingeschlagen werden muss, um zur Erklärung des Wertgesetzes zu gelangen. Er lehrt uns seine Methode an Hand allergewöhnlichster Einwände verstehen. Er hellt die Verbindung eines scheinbar so rein theoretischen und abstrakten Problems, wie die Werttheorie, mit den „Interessen der herrschenden Klassen", die die „Verewigung der Konfusion" fordern, auf. Es wäre nur zu wünschen, dass jeder, der sich in Marx zu vertiefen und das „Kapital" zu lesen beginnt, gleichzeitig mit dem Studium der ersten und schwierigsten Kapitel des „Kapital" auch den von uns erwähnten Brief immer wieder lese.

Weitere, in theoretischer Hinsicht besonders interessante Stellen der Briefe Marxens beziehen sich auf seine Einschätzung verschiedener Schriftsteller. Liest man Marxens lebendige, leidenschaftliche, von tiefstgehendem Interesse für alle bedeutenderen ideellen Strömungen und deren Analysen zeugende Äußerungen, so glaubt man der Rede eines genialen Denkers zu lauschen. Neben den en passant hingeworfenen Bemerkungen über Dietzgen, lenken wir die Aufmerksamkeit des Lesers besonders auf Marxens Äußerungen über die Proudhonisten (S. 17). Die „glänzende" intellektuelle Jugend der Bourgeoisie, die in Zeiten gesellschaftlichen Aufschwungs sich „ins Proletariat" stürzt, die unfähig ist, sich die Gedankengänge der Arbeiter anzueignen und zähe und ernst „in Reih' und Glied" der proletarischen Organisationen zu arbeiten, wird mit wenigen Strichen verblüffend scharf charakterisiert.

Da haben wir ferner die den Inhalt des neun Jahre später von Engels (zusammen mit Marx) verfassten berühmten Buches „Anti-Dühring" vorwegnehmenden Äußerungen über Dühring (S. 35). Es existiert eine russische Übersetzung Zederbaums, die jedoch leider nicht nur Lücken enthält, sondern geradezu schlecht und fehlerhaft ist. Ebenso finden sich hier die die Rententheorie Ricardos berührenden Äußerungen über Thünen. Schon damals, also 1868, verwarf Marx entschieden die „Fehler Ricardos", die er im 1894 erschienenen dritten Bande des „Kapital" endgültig widerlegte, die aber dessen ungeachtet von den Revisionisten, vom ultrabourgeoisen und sogar „schwarzhundertlerischen" Herrn Bulgakow bis zum „fast-orthodoxen" Maslow, bis auf den heutigen Tag wiederholt werden.

Interessant ist ebenso die Äußerung über Büchner, wie die Einschätzung des vulgären Materialismus und des bei Lange (die übliche Quelle „professoraler" bourgeoiser Philosophie!) abgeschriebenen „oberflächlichen Geschwätzes" (S. 48).

Wenden wir uns nun Marxens revolutionärer Politik zu. Bei uns in Russland ist unter den Sozialdemokraten über den Marxismus erstaunlich weit die kleinbürgerliche Vorstellung verbreitet, als wäre eine revolutionäre Periode mit ihren besonderen Kampfesformen und besonderen Aufgaben des Proletariats beinahe schon eine Anomalie, während die „Verfassungsära" und „äußerste Opposition" die Regel darstelle. Kein Land der Welt weist zur Zeit eine so tiefgehende revolutionäre Krise auf, wie Russland, wie es in keinem Lande „Marxisten" (den Marxismus herabwürdigende und vulgarisierende Marxisten) gibt, die der Revolution gegenüber ein solches Maß von Skeptizismus und Philistertum entgegenbrächten. Aus dem Umstände, dass der Inhalt der Revolution bürgerlichen Charakters ist, zieht man bei uns die platte Folgerung, die Bourgeoisie sei der Motor der Revolution, das Proletariat habe in dieser Revolution keine eigenen, sondern nur Hilfsaufgaben zu erfüllen, eine proletarische Führung der Revolution sei unmöglich.

Wie entlarvt Marx in diesen Briefen an Kugelmann diese vulgäre Interpretation des Marxismus! Da haben wir z.B. den Brief vom 6. April 1866. Marx hatte damals gerade sein Hauptwerk beendet. Die Kritik der deutschen Revolution von 1848 hatte er in abgeschlossener Form schon vierzehn Jahre vor diesen Briefen gegeben. Seine sozialistischen Illusionen über eine bevorstehende sozialistische Revolution im Jahre 1848 hatte er 1850 selbst widerlegt. Und im Jahre 1866 schreibt er zu Beginn seiner Beobachtungen über die Entwicklung neuer Krisen:

Werden unsere Spießbürger endlich einsehen, dass ohne eine Revolution, welche Habsburg und Hohenzollern beseitigt" (von den kleineren Maikäfern ist es überflüssig, zu reden), „es schließlich wieder zu einem dreißigjährigen Krieg und einer neuen Teilung Deutschlands kommen muss!"… (S. 13 u. 14.)

Keine Spur von Illusionen darüber, dass die bevorstehende Revolution (sie erfolgte von oben, nicht von unten, wie Marx erwartet hatte) die Bourgeoisie und den Kapitalismus beseitigen würden. Die klarste und bestimmteste Feststellung dessen, dass sie lediglich die preußische und österreichische Monarchie zu beseitigen haben wird. Und doch, welcher Glaube an die bürgerliche Revolution! Welche revolutionäre Leidenschaftlichkeit eines proletarischen Kämpfers, der die ungeheure Bedeutung der bürgerlichen Revolution für den Fortschritt der sozialistischen Bewegung erkannt hat!

Drei Jahre später, am Vorabend des Zusammenbruches des napoleonischen Imperiums in Frankreich, spricht Marx, das Vorhandensein einer „sehr interessanten" gesellschaftlichen Bewegung konstatierend, geradezu mit Begeisterung davon, dass die „Pariser beginnen, ihre jüngste revolutionäre Vergangenheit förmlich zu studieren, um sich für das bevorstehende neue Revolutionsgeschäft vorzubereiten". Und Marx schließt, nachdem er den im Verlaufe seiner Beobachtungen über die Vergangenheit vor ihm sich entrollenden Klassenkampf beschrieben hat: „Und so brodelt der ganze historische Hexenkessel. Wann wird's bei uns so weit sein!"

Das ist es, was die durch Skeptizismus entkräfteten, durch Pedanterie stumpf gewordenen, zu Selbstanklagen neigenden, schnell in der Revolution erschlaffenden, von der Beerdigung der Revolution und ihrem Ersatz durch die konstitutionelle Prosa wie von einem Feste träumenden marxistischen Intelligenzler Russlands von Marx lernen sollten. Sie sollten bei dem Theoretiker und Führer des Proletariats lernen, an die Revolution zu glauben, sollten lernen, wie man die Arbeiterklasse zur konsequenten Vertretung ihrer unmittelbaren revolutionären Aufgaben aufruft, sollten lernen, sich die Willensstärke zu erhalten, die kein kleinmütiges Verzagen wegen zeitweiliger Misserfolge der Revolution duldet.

Die Pedanten des Marxismus meinen: all das ist ethisches Geschwätz, Romantik, Mangel an Realismus! Nein, ihr Herren, das ist die Verbindung von revolutionärer Theorie mit revolutionärer Politik, jene Verbindung, ohne die der Marxismus zum Brentanismus, zum Struvismus, zum Sombartismus wird. Die Marxsche Doktrin hat die Theorie und Praxis des Klassenkampfes zu einem unzertrennlichen Ganzen verbunden. Und der ist kein Marxist, der die nüchtern die objektive Lage konstatierende Theorie zur Rechtfertigung des Bestehenden verzerrt, sich bis zum Bestreben versteigt, sich möglichst schnell jedem zeitweiligen Fallen der Revolutionswelle anzuschmiegen, möglichst schnell seine „revolutionären Illusionen" wegzuwerfen und sich an die „reale" Brockensammelei zu machen.

Marx verstand es, in den friedlichsten, nach einem Wort von ihm selbst „idyllischsten", nach einem Wort der Redaktion der „Neuen Zeit" „elend-stumpfsinnigen" Zeiten, das Herannahen der Revolution herauszufühlen und das Proletariat zur Höhe des Bewusstseins seiner fortschrittlichen, revolutionären Aufgaben zu erheben. Unsere russische, philisterhaft Marx vulgarisierende Intelligenz lehrt dagegen das Proletariat, noch dazu in revolutionären Zeiten, die Politik der Passivität, des folgsamen Ziehens „mit dem Strom", der schüchternen Unterstützung der schwankendsten Elemente der liberalen Modepartei!

Die Einschätzung der Kommune durch Marx stellt die Krönung der Briefe an Kugelmann dar. Diese Einschätzung gewinnt besonderen Wert, wenn man ihr die Argumentationen des rechten Flügels der Sozialdemokraten Russlands gegenüberstellt. Plechanow, der nach dem Dezember 1905 kleinmütig ausrief:

Man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen!", war so bescheiden, sich mit Marx zu vergleichen. Marx habe ja im Jahre 1870 die Revolution ebenfalls gebremst.

Gewiss hat sie Marx ebenfalls gebremst. Aber man vergegenwärtige sich einmal, was für ein Abgrund sich bei diesem von Plechanow selbst herangezogenen Vergleich zwischen Plechanow und Marx auftut.

Plechanow hat im November 19052, einen Monat vor dem Höhepunkt der ersten russischen revolutionären Welle, das Proletariat nicht nur nicht entschieden gewarnt, sondern im Gegenteil, direkt von der Notwendigkeit, den Umgang mit der Waffe zu lernen und sich zu bewaffnen, gesprochen. Als aber einen Monat darauf der Kampf aufloderte, beeilte sich Plechanow, ohne auch nur den Versuch einer Analyse, seiner Bedeutung, seiner Rolle im Gesamtverlauf der Ereignisse, seines Zusammenhanges mit den voraufgegangenen Kampfesformen zu machen, den Buße tuenden Intelligenzler zu spielen und auszurufen: „Man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen!"

Marx hatte im September 1870, ein halbes Jahr vor der Kommune, die französischen Arbeiter direkt gewarnt. Der Aufstand sei ein Wahnsinn, schrieb er in der bekannten Adresse der Internationale. Er deckte im Voraus die nationalistischen Illusionen über die Möglichkeit einer Bewegung im Geiste von 1792 auf. Er verstand es, mehrere Monate vorher nicht aber hinterher, zu sagen: „Man soll nicht zu den Waffen greifen."

Und wie verhielt er sich, als dieses nach seiner eigenen Erklärung vom September aussichtslose Unternehmen im März 1871 dennoch Wirklichkeit zu werden begann? Hat Marx diese Tat etwa (wie Plechanow die Dezember-Ereignisse) dazu benutzt, bloß einmal seinen Feinden, den die Kommune führenden Proudhonisten und Blanquisten, eins auszuwischen? Oder hat er vielleicht einer Gouvernante gleich gewettert: Ich sagte es ja, ich warnte euch ja, da habt ihr nun eure Romantik, eure revolutionären Delirien? Oder verabschiedete er sie vielleicht, wie Plechanow die Dezember-Kämpfer, mit der Predigt des selbstzufriedenen Philisters: „Man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen!"?

Nein. Am 12. April 1871 schreibt Marx einen enthusiastischen Brief an Kugelmann, einen Brief, den wir gerne an die Zimmerwand jedes russischen Sozialdemokraten, jedes russischen schriftkundigen Arbeiters heften würden.

Marx, der im September 1870 den Aufstand einen Wahnsinn genannt hatte, nimmt im April 1871, angesichts des Massencharakters der Volkserhebung, ihm gegenüber die Stellung eines ihm die größte Aufmerksamkeit widmenden Teilnehmers gewaltiger, bedeutender Ereignisse ein, die in der internationalen historisch-revolutionären Bewegung einen Schritt vorwärts bedeuten.

Das ist ein Versuch, schreibt er, die bürokratisch-militärische Maschine nicht bloß in andere Hände überzuführen, sondern sie zu zerstören. Und er singt den „heroische n", von Proudhonisten und Blanquisten geführten Pariser Arbeitern ein wahres Hosianna. „Welche Elastizität," schreibt er, „historische Initiative, welche Selbstaufopferungsfähigkeit in diesen Parisern! (S. 75) … Die Geschichte kennt kein ähnliches Beispiel ähnlicher Größe!"

Die historische Initiative der Massen stellt Marx über alles. Oh, würden doch unsere russischen Sozialdemokraten in Bezug auf die Bewertung der historischen Initiative der russischen Arbeiter und Bauern im Oktober und Dezember 1905 bei Marx lernen!

Die Verneigung des tiefsten Denkers, der ein halbes Jahr zuvor den Misserfolg voraussah, vor der historischen Initiative der Massen und das leblose, geistlose, pedantische: „Man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen!", sind sie nicht entfernt von einander wie Himmel und Erde?

Und als Mitbeteiligter am Massenkampfe, den er mit der ihm eigenen Glut und Leidenschaft, im Londoner Exil schmachtend, miterlebte, macht sich Marx an die Kritik der konkreten Schritte der „wahnsinnig-kühnen", „den Himmel zu stürmen bereiten Pariser".

Oh, wie hätten damals unsere heutigen „realistischen", im Russland der Jahre 1906 und 1907 die revolutionäre Romantik verdonnernden Weisen den Marxisten Marx ausgelacht! Wie hätten sie sich über den Materialisten, den Ökonomisten, den Feind von Utopien, der vor einem „Versuch", den Himmel zu stürmen, sich verneigt, lustig gemacht! wie viel Tränen wären vergossen worden, wie viel herablassendes Lächeln oder Mitgefühl hätten alle möglichen solcher Krämerseelen angesichts der Rebellionstendenzen, des Utopismus und dergleichen mehr über diese Einschätzung einer zum Himmel emporstürmenden Bewegung zum Besten gegeben!

Marx war nicht von der Weisheit jener Federfuchser durchdrungen, die sich scheuen, die Technik höherer Formen des revolutionären Kampfes zu diskutieren. Gerade die technischen Fragen des Aufstandes bespricht er. Angriff oder Verteidigung? fragt er, als handle es sich um kriegerische Operationen unmittelbar vor den Toren Londons. Und er entscheidet: unbedingt angreifen. „Man hätte sofort nach Versailles marschieren sollen."

Das war geschrieben im April 1870, wenige Wochen vor dem gewaltigen blutigen Mai…

Die Aufständischen, die die „wahnsinnige" (September 1870) Sache, den Himmel zu stürmen, begonnen hatten, „hätten sofort nach Versailles marschieren sollen".

Man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen", im Dezember 1905, um mit Gewalt sich gegen die ersten Versuche der Wegnahme der eroberten Freiheiten zu wehren.

Ja, Plechanow verglich sich nicht umsonst mit Marx!

Der zweite Fehler": – fährt Marx in seiner technischen Kritik fort – „das Zentralkomitee" (man beachte, dass hierbei die militärische Leitung gemeint ist, da es sich um das ZK der Nationalgarde handelt) „gab seine Macht zu früh auf."

Marx verstand es, die Führer vor einem verfrühten Aufstand zu warnen. Dem den Himmel stürmenden Proletariat aber gegenüber verhielt er sich als praktischer Ratgeber, als Mitbeteiligter am Kampfe der Massen, die die ganze Bewegung ungeachtet der falschen Theorien und Fehler Blanquis und Proudhons auf eine höhere Stufe erhoben.

Wie dem auch sei", schreibt er, „die jetzige Erhebung von Paris – wenn auch unterliegend vor den Wölfen, Schweinen und gemeinen Hunden der alten Gesellschaft – bleibt die glorreichste Tat unserer Partei seit der Juniinsurrektion."

Dabei verheimlichte Marx vor dem Proletariat keinen einzigen Fehler der Kommune. Er widmete dieser Heldentat ein Werk, das bis auf den heutigen Tag der beste Leitfaden im Kampfe um den „Himmel" und die schrecklichste Scheuche für die Liberalen und radikalen „Schweine" geblieben ist. Plechanow hat dem Dezember ein „Werk" gewidmet, das fast zum Evangelium der Kadetten geworden ist.

Ja, Plechanow verglich sich nicht umsonst mit Marx.

Kugelmann antwortete Marx, augenscheinlich in Ausdrücken des Zweifels und mit Hinweisen auf die Aussichtslosigkeit der Sache, auf den Realismus im Gegensatz zur Romantik, zumindestens verglich er die Kommune – den Aufstand – mit der friedlichen Demonstration in Paris vom 13. Juni 1849.

Sofort (am 17. April 1871) kanzelt Marx Kugelmann dafür gehörig ab.

Die Weltgeschichte", schreibt er, „wäre allerdings sehr bequem zu machen,wenn der Kampf nur unter der Bedingung unfehlbar günstiger Chancen aufgenommen würde."

Marx nannte im September 1870 den Aufstand einen Wahnsinn. Als sich aber die Massen erhoben, will Marx mit ihnen marschieren, mit ihnen vereint im Kampfe selbst lernen, nicht aber ihnen Kanzelpredigten halten. Er begreift, dass ein Versuch, im Voraus die Chancen mit absoluter Präzision zu bestimmen, entweder Scharlatanerie oder hoffnungslose Pedanterie wäre. Er stellt über alles die Tatsache, dass die Arbeiterklasse heldenmütig, aufopferungsvoll, initiativ Weltgeschichte macht. Marx betrachtete die Geschichte vom Standpunkte derer, die sie ohne die Möglichkeit der unfehlbaren Vorausberechnung der Chancen machen, nicht aber vom Standpunkte des kleinbürgerlichen Intelligenzlers, der da moralisiert: „Es war leicht vorauszusehen …" oder: „Man hätte nicht … greifen sollen …"

Marx verstand es sogar zu würdigen, dass es Augenblicke in der Geschichte gibt, wo ein verzweifelter Kampf der Massen selbst um einer aussichtslosen Sache willen notwendig ist für die weitere Erziehung dieser Massen und ihre Vorbereitung zum nächsten Kampfe.

Eine solche Fragestellung ist unseren heutigen Quasi-Marxisten, die so gern Marx verleumderisch zitieren, um ihm nur die Einschätzung der Vergangenheit, nicht aber die Fähigkeit zur Schöpfung der Zukunft zu entnehmen, vollkommen unverständlich, ja, im Prinzip unzugänglich. Plechanow hat, als er sich nach dem Dezember 1905 an die Aufgabe, zu „bremsen", machte, sich diese Frage nicht einmal vorgelegt.

Marx hingegen wirft gerade diese Frage auf, ohne im Geringsten zu vergessen, dass er im September 1870 ja selbst den Wahnsinn eines Aufstandes erkannt hatte.

Die bürgerlichen Versailler Kanaillen", schreibt er, „stellten die Pariser in die Alternative, den Kampf aufzunehmen oder ohne Kampf zu erliegen. Die Demoralisation der Arbeiterklasse in dem letzteren Falle wäre ein viel größeres Unglück gewesen als der Untergang einer beliebigen Anzahl von Führern."

Damit wollen wir unsere kurze Übersicht der uns von Marx in den Briefen an Kugelmann erteilten Lehren über eine des Proletariats würdige Politik schließen.

Die Arbeiterklasse Russlands hat schon einmal bewiesen und wird es noch wiederholt beweisen, dass sie fähig ist, „den Himmel zu stürmen".

1 „Karl Marx an Kugelmann", mit einer Einleitung von Lenin. Vereinigung Internationaler Verlagsanstalten, GmbH, Berlin 1924.

Eine frühere Ausgabe im Verlag der „Bibliothek des wissenschaftlichen Sozialismus": „Briefe von Karl Marx an das Mitglied der Internationale, Kugelmann", mit einem Vorwort von K. Kautsky, 1907.

2 Lenin meint den Artikel G. V. Plechanows: „Unsere Lage" („Dnewnik Sozialdemokrata" Nr. 3, November 1905). „Es genügt nicht, sich einen Revolver und einen Dolch anzuschaffen – schrieb G. V. Plechanow –, man muss auch lernen, damit umzugehen … Wir müssen diese Lücke unserer revolutionären Bildung so rasch als möglich ausfüllen. Die Fähigkeit, gut mit der Waffe umzugehen, muss in unserer Mitte zum Gegenstand des berechtigten Stolzes werden für die, die sie besitzen, und zum Gegenstand des Neides für die, die sie noch nicht erworben haben."

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