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Wladimir I. Lenin 19080900 Einige Bemerkungen zur ,Antwort' P. Maslows

Wladimir I. Lenin: Einige Bemerkungen zur „Antwort" P. Maslows1

[Veröffentlicht 1908 in der polnischen Zeitschrift „Przeglad Socjal-Demokratyczny" Nr. 8/9 Gez.: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 400-412]

Mein Gegner wirft mir vor, ich gebrauche in meiner Polemik Methoden, die den Kern des Streites entstellen. Um klarzustellen, ob dies auch wahr ist, werde ich die „Antwort" P. Maslows Schritt für Schritt untersuchen.

Erstes Beispiel Maslows: Lenin sagt, der revolutionäre Aufschwung sei undenkbar ohne radikale Beseitigung aller Überreste der Hörigkeit,

als ob die Sozialdemokratie, nach Annahme des Programms der Munizipalisierung des Bodens, die Absicht habe, Überreste der Hörigkeit aufrechtzuerhalten, den Boden in den Händen der Gutsbesitzer zu lassen."

Jeder Leser wird merken, dass Maslow sich um den Kern der Frage herumdrückt, da ich die ganze Zeit gerade darauf hingewiesen habe, dass nicht nur der gutsherrliche Grundbesitz, sondern auch der gegenwärtige bäuerliche Anteillandbesitz ein Überrest der Hörigkeit ist. Eben darum ging der Streit. Indem Maslow sich in seiner ganzen Antwort um diese Frage herumdrückt und kein Wort darüber sagt, ob im Anteillandbesitz etwas Mittelalterliches steckt, ob diese Säuberung von den Überresten des Mittelalters für den Kapitalismus vorteilhaft ist oder nicht, lenkt er die Aufmerksamkeit des Lesers nach einer anderen Richtung. Ein prinzipielles Argument des Gegners unbeantwortet lassen und ihm nur „Pathos" zuschreiben, heißt nicht diskutieren, sondern schimpfen.

Meinen Hinweis auf den untrennbaren Zusammenhang zwischen agrarischer und politischer Umwälzung nennt Maslow mangelnde Achtung vor dem Leser. Auch die Munizipalisierung zerreiße diese Verbindung nicht. Nun, ist das eine Antwort? Verschweigt Maslow hier nicht 1. meinen genauen Hinweis auf den Menschewik Nowossedski, der die Munizipalisierung in bestimmter Weise mit einer unvollständigen politischen Umwälzung in Verbindung gebracht hat; 2. mein Argument, dass die Munizipalisierung weder die mittelalterliche Gemeinde noch den mittelalterlichen Grundbesitz berührt, d. h. gerade die Agrarumwälzung und nur sie allein unbedingt und entschieden zur Unvollständigkeit verurteilt.

Das dritte Argument Maslows: „Lenin macht den Hass der Bauern gegen Gutsbesitzer und Tschinowniks zu einem Argument für sein Programm und gegen das beschlossene Programm", Das ist nicht wahr. Jeder Leser wird bemerken, dass Maslow statt „Hass gegen das Mittelalter" (einige Zeilen vorher gibt Maslow selber zu, dass ich davon gesprochen), „Hass gegen die Gutsbesitzer" unterschiebt. Diese Unterschiebung braucht er, um mein Argument vom mittelalterlichen Charakter des Anteillandbesitzes mit Schweigen zu übergehen.

Es ist nicht wahr, dass ich mein Programm als bolschewistisches bezeichnet habe. Es ist auch nicht wahr, dass die Frage der Nationalisierung in Stockholm zur Abstimmung gestanden hat. Tatsachen soll man nicht entstellen, Genosse Maslow!

Keine Rententheorie gibt dem Nationalisierungs- oder Munizipalisierungsprogramm irgendeinen Vorzug, da die Einnahmen vom konfiszierten Boden, so oder so, dem Staat oder den Selbstverwaltungsorganen zugutekommen."

Das ist schon ein sachliches Argument. Überdies ein ausgezeichnetes Argument, da es am besten zeigt, wie Maslow den Marxismus entstellt und verzerrt. Nur wer die von Maslow „widerlegte" Marxsche Lehre von der absoluten Rente verneint, kann die ganze Frage ausschließlich auf „Einnahmen" zurückführen und dabei das Sinken der Getreidepreise sowie den Umstand vergessen, dass dem Kapital der Zugang zur Landwirtschaft gesichert wird! Durch sein Argument hat Maslow bestätigt, dass er dem ökonomischen Kern der Frage fremd und verständnislos gegenübersteht. Nicht um Einnahmen handelt es sich, Verehrtester, sondern um die Produktionsverhältnisse in der Landwirtschaft, die sich bei Beseitigung der absoluten Rente in Richtung ihrer Hebung ändern. Indem Maslow die Marxsche absolute Rente ablehnt, nimmt er sich selbst jede Möglichkeit, die ökonomische Bedeutung der Nationalisierung zu begreifen. Warum aber Millionen von Kleinbesitzern sie in der russischen bürgerlichen Revolution verlangen konnten und mussten – dieses ökonomische Problem existiert für Maslow nicht. Das ist eben sein Unglück!

Dass meine Artikel der Jahre 1905–1908 gegen das die abgetrennten Landstücke2 betreffende Programm gerichtet sind, das stimmt. Doch deswegen großen Lärm schlagen und triumphieren, wie Maslow es tut, heißt dem Leser Sand in die Augen, streuen, nicht aber Streitfragen klären. Maslow hält ja auch nicht an seinem ganzen Programm von 1903 fest! Warum verheimlicht er das dem Leser und schiebt nur die eine Seite der Vergangenheit in den Vordergrund? Warum zitiert er Worte, die ich auch heute nicht ableugnen werde – dass nämlich die Bodennationalisierung, „in einem Polizeistaat" von Schaden ist? Ist das Diskussion oder ist es Geschimpfe?

Für die polnischen Leser, die über die Einzelheiten der Diskussion über die Agrarfrage unter den russischen Sozialdemokraten nicht unterrichtet sind, bemerke ich, dass Maslow im Jahre 1903, vor dem 2. Parteitag der SDAPR, in der Presse nicht das Programm vertreten hat, das er 1906 empfahl.3 Ich persönlich würde die Ausgrabung alter Diskussionen für unzulässig halten, und ich bin auch in meinem vorigen Artikel darauf nicht eingegangen. Jetzt aber ist es Maslow, der den alten Streit wieder aufwärmt. Um seinen Witz zu zeigen, fiel es ihm ein, das von mir aufgegebene Programm von 1903 zu widerlegen – oder vielleicht war für ihn auch der Gedanke maßgebend, durch Diskussion über Vergangenes die Aufmerksamkeit des Lesers von den schwachen Seiten seines neuen Standpunktes abzulenken? Jedenfalls ist Tatsache: Maslow bringt alte Diskussionen wieder aufs Tapet, verschweigt aber zugleich den polnischen Sozialdemokraten den Umstand, dass er selber sein Programm von 1903 geändert hat. Dem Gegner wirft er die offene und schon längst abgeschlossene Änderung des alten Programms vor, verheimlicht aber zugleich, dass er selber sein eigenes Programm geändert hat. Er verheimlicht auch, dass Peter Maslow im Jahre 1903 es nicht nur nicht für notwendig erachtete, dass das Anteilland um jeden Preis in den Händen seiner derzeitigen Besitzer belassen werde, sondern, im Gegenteil, kurzerhand die Vergesellschaftung auch des Anteillandes, falls eine solche möglich sein sollte, in sein Programm aufgenommen hat.

Ist das nicht ausgezeichnet? Wem sind Erinnerungen an Vergangenes unangenehm? Dem, der die Quelle der Fehler seiner alten Auffassung offen und ehrlich zugibt, oder demjenigen, der die Änderung seiner Auffassungen verheimlicht? Warum hielt Maslow 1903 die Vergesellschaftung auch des Anteillandes für möglich, während er 1906–08 gegen die Zulässigkeit solcher Auffassungen zetert?

Wir überlassen es dem Leser, über solche „polemische" Methoden oder, besser gesagt, über solches Verwischen der Spuren zu urteilen. Maslow handelt nach dem Rezept des alten Turgenjewschen Schlaufuchses: Tadle möglichst laut, was du in deinem eigenen Benehmen vor den Augen anderer verbergen möchtest! Andere haben ihre Auffassungen geändert und haben selber darauf hingewiesen. Schreie nur recht laut gegen diese Änderung, um die Änderung der eigenen Auffassungen zu verschleiern! Denn wo Argumente fehlen, da muss man wohl oder Übel zur Falschspielerei greifen.

Meine Tabelle über die Verteilung des Bodenbesitzes im Europäischen Russland erregt das Missfallen Maslows. Er entrüstet sich darüber, dass ich den „kalmückischen" Bodenbesitz mit der „intensiven Wirtschaft" Südwestrusslands vergleiche. Ein Leser, der in der Literatur zur Agrarfrage bewandert ist, weiß natürlich, dass auch Maslow selber sowie andere Autoren – und sei es auch nur für einzelne kleinere Gebiete – einen ruinierten Bauer ohne Arbeitsvieh und mit 4 Desjatinen Boden in irgendeinem entlegenen Winkel und einen reichen Farmer, der auf gleichem Areal in der Nähe einer Großstadt intensiven Gemüsebau betreibt gegeneinanderstellen. Genosse Maslow hat wahrlich keine gute Gelegenheit gewählt, um mit einer „ins Einzelne gehenden Analyse" zu prahlen! Es ist eben Prahlerei und kein wissenschaftliches Argument, denn es ist unmöglich, die Ergebnisse des Kampfes anders klarzustellen, als ich es tue, und Maslow selber versteht ausgezeichnet die Unmöglichkeit „ins Einzelne gehender Analysen" im „Przegląd".

Mein Argument, die Trudowiki-Gruppe habe durch ihr Eintreten für die Nationalisierung den Menschewiki bewiesen, dass ich im Recht bin, untersucht Maslow nicht direkt, sondern er bemüht sich, es auf indirekte Weise durch die Behauptungen abzuschwächen, 1. die Nationalisierung sei „eingeschränkt" worden, 2. den Autonomisten der I. Duma hätten sich viele „gerade deshalb" angeschlossen, „weil ihre Wähler keine Bodennationalisierung wollten".

Heißt das nicht der Frage ausweichen? Was hat die Nationalisierung mit dieser „Einschränkung" zu tun? Und was haben die Autonomisten damit zu tun, dass Maslow im Jahre 1905 und alle Menschewiki in Stockholm kategorisch erklärt haben, die russischen Bauern würden mit der Nationalisierung nicht einverstanden sein, sie würden sie mit einer Vendée beantworten? Die für ihn unangenehme Tatsache, dass die Annahme des Nationalisierungsprogramms durch die Trudowiki-Gruppe nach dem Stockholmer Parteitag eine Widerlegung der menschewistischen Argumentation ist, übergeht Maslow mit Schweigen. Eine „Antwort" zu geben, in der man sich systematisch um den Kern der Sache herumdrückt, ist nicht schwer, aber sie hat keinen großen Wert. Es ist Tatsache, dass die Arbeiterabgeordneten sowohl in der I. als auch in der II. Duma oft in eine ganz dumme Lage gerieten, da die Nationalisierung von den Sozialdemokraten mehr „eingeschränkt" wurde als von den Bauern selber. Die Sozialdemokraten waren in der Lage philisterhaft-ängstlicher Intellektueller, die dem Bauer den Rat geben, er möchte den alten, mittelalterlichen Anteillandbesitz vorsichtiger behandeln, er solle ihn mehr festigen, solle das neue, freie Eigentum am Boden langsamer dem Kapitalismus anpassen! Nicht darum handelt es sich, Genosse Maslow, dass die Trudowiki die Nationalisierung eingeschränkt haben, sondern darum, dass sie von Sozialdemokraten, von Marxisten noch mehr eingeschränkt wurde, denn Munizipalisierung ist nichts anderes als eine bis zur Entstellung eingeschränkte Nationalisierung. Es ist nicht schlimm, dass die Autonomisten manchmal die Nationalisierung ablehnten*; schlimm ist aber, dass die russischen Sozialdemokraten nicht imstande gewesen sind, den Charakter des Kampfes der russischen Bauernschaft zu verstehen. Nicht darin besteht die Demagogie Maslows, dass er den ablehnenden Standpunkt einiger Autonomisten gegenüber der Nationalisierung konstatiert, sondern darin, dass er die Ablehnung der Munizipalisierung durch viele Autonomisten verheimlicht und sie mit kleinbürgerlich-separatistischen Argumenten gegen die Nationalisierung aufzuhetzen sucht!

Die Autonomisten sind gegen die Nationalisierung. Möge der Leser selber entscheiden, für wen solch ein Argument spricht. Ich meinerseits möchte daran erinnern, dass ich bereits 1903 in meiner Polemik gegen das damalige Programm Maslows die Munizipalisierung als eingeschränkte Nationalisierung bezeichnet habe. Ich erinnere ferner daran, dass ich 1906, vor dem Stockholmer Parteitag, in der Diskussion mit Maslow betont habe, die Frage der nationalen Autonomie dürfe nicht mit der Nationalisierungsfrage verwechselt werden.4 Die Autonomie wird von den Grundlagen unseres Programms gewährleistet, folglich sichern sie auch die autonome Verfügung über den nationalisierten Boden! Dieses Abc kann Maslow nicht begreifen! Nationalisierung bedeutet Aufhebung der absoluten Rente, Übergabe des ganzen Bodens an den Staat als dessen Eigentum, Verbot jeder Abtretung von Boden, d. h. Eliminierung aller und jeder Vermittler zwischen dem Landwirt, der diesen Boden bebaut, und dem Eigentümer des Bodens, d. h. dem Staat. Im Rahmen dieses Verbots ist die Autonomie der Länder und Völker in Bezug auf die freie Verfügung über den Boden, auf die Festsetzung der Ansiedlungs- und Verteilungsbedingungen usw. usw. durchaus zulässig, widerspricht sie in keiner Weise der Nationalisierung und gehört zu den Forderungen unseres politischen Programms. Daraus folgt mit aller Klarheit, dass nur kleinbürgerliche Philister, wie es alle „Autonomisten" auch waren, sich auf die Sorge um die Autonomie berufen konnten, um ihre Feigheit, ihre Abneigung gegen einen aktiven, bis zum Ende zu führenden Kampf für eine geschlossene, zentralisierte Agrarrevolution zu bemänteln. Für die Sozialdemokratie steht die Frage gerade umgekehrt: für das Proletariat handelt es sich darum, die Revolution sowohl auf politischem als auch auf agrarischem Gebiet zu Ende zu führen. Damit dies möglich sei, bedarf es der Nationalisierung des Bodens, die von den Trudowiki, d. h. von den politisch bewussten russischen Bauern, gefordert wird. Das ökonomische Kriterium eines solchen Schrittes tritt für den Marxisten an die erste Stelle; dieses ökonomische Kriterium besagt, dass – in Übereinstimmung mit der Marxschen Lehre – die bürgerliche Nationalisierung des Bodens die maximale Entwicklung der Produktivkräfte der Landwirtschaft sichert. Somit ist dieser entschlossene bürgerlich-revolutionäre Schritt auf dem Agrargebiet unlösbar verknüpft mit einer entschiedenen bürgerlich-demokratischen Umwälzung auf politischem Gebiet, d. h. mit der Aufrichtung der Republik, die allein wahre Autonomie zu gewährleisten vermag. Das ist das wahre Wechselverhältnis zwischen Autonomie und Agrarumwälzung, was aber Maslow absolut nicht begriffen hat!

Meine Berufung auf die „Theorien über den Mehrwert" von Marx nennt Maslow eine „Ausflucht", da Marx nicht gesagt habe, „dass die Bauern sich selbst expropriieren wollen". Aber, Genosse Maslow! Haben Sie die klaren Worte von Marx wirklich nicht verstanden? Sagt Marx, dass die volle Vernichtung des mittelalterlichen Eigentums am Boden für den Kapitalismus von Vorteil ist – ja oder nein? Ist die von den Trudowiki vertretene Nationalisierung des Bodens, die 1905–1907 von den russischen Bauern gefordert wurde, eine Vernichtung des mittelalterlichen Eigentums – ja oder nein? Gerade darum handelt es sich, mein liebenswürdiger Opponent, und die lächerliche Umbenennung der bürgerlich-bäuerlichen Nationalisierung in „Expropriation" der Bauern ist kein Beweis gegen die Richtigkeit meiner Fragestellung …

Auch in der Industrie – sagt Maslow weiter – ruiniert der Kapitalismus den Kleinbesitz, folgt aber etwa daraus, dass die Sozialdemokraten sich die Expropriation der Handwerker zur Aufgabe machen sollen? …"

Das ist ja einfach köstlich! Den Kampf der Bauern gegen die mittelalterlichen Schranken im Bodenbesitz, den Kampf um die Nationalisierung des Bodens, die, wie Marx bewiesen hat, die Entwicklung des Kapitalismus am meisten fördert, als „Expropriation" der Bauern bezeichnen und sie der Expropriation des Handwerkers durch das Kapital gleichsetzen! Um Gotteswillen, Genosse Maslow! Überlegen Sie doch, um aller Heiligen willen, warum wir den Bauer gegen den Gutsherrn unterstützen, die Unterstützung der Handwerker gegen die Fabrik aber als Sache der Antisemiten betrachten.

Maslow versteht nicht, dass die Unterstützung des Handwerkers, d. h. des Kleinbesitzes in der Industrie, als eine unter allen Umständen unbedingt reaktionäre Tätigkeit, niemals Sache der Sozialdemokraten sein kann. Die Unterstützung des Kleinbesitzes in der Landwirtschaft dagegen kann Pflicht des Marxisten sein, sie muss es immer sein, wenn der bürgerliche Kleinbetrieb im Vergleich zur großen feudalen Wirtschaft fortschrittlich ist. Niemals hat Marx das Kleingewerbe gegen die Großindustrie unterstützt, aber er unterstützte in den vierziger Jahren in Bezug auf Amerika, im Jahre 1848 in Bezug auf Deutschland den landwirtschaftlichen Kleinbetrieb, die Bauern, gegen die feudalen Latifundien. 1848 schlug Marx die Aufteilung der deutschen feudalen Güter vor.5 Marx unterstützte die Bewegung der Kleinbesitzer gegen die großen, auf Sklaverei fußenden amerikanischen Güter, trat für Freiheit des Bodens, für Aufhebung des Privateigentums am Boden in Amerika ein.6

War die Richtung der Agrarpolitik von Marx richtig? Ja, werter Genosse Maslow, der die Theorie der absoluten Rente im Geiste der bürgerlichen Ökonomie „revidiert", aber noch nicht dazu gekommen ist, alles übrige bei Marx ebenfalls zu „revidieren". Die bürgerliche Revolution kann auf dem Agrargebiet nur unter der Bedingung konsequent und wahrhaft siegreich sein, wenn sie mit dem ganzen feudalen Eigentum gewaltsam und gründlich aufräumt, das ganze frühere Eigentum am Boden hinwegfegt und statt dessen die Grundlage schafft für ein neues, freies, nicht dem Gutsherrn, sondern dem Kapital angepasstes bürgerliches Eigentum am Boden. Die Nationalisierung des Bodens entspricht vollkommen der Richtung einer solchen Umwälzung, ja noch mehr, die Nationalisierung ist die einzige Maßnahme, dank der diese Umwälzung sich mit der größten in der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt denkbaren Konsequenz vollzieht. Es gibt keinen anderen Weg, der in gleich entschlossener und möglichst schmerzloser Weise die Bauern aus ihrem „Ghetto" des Anteillandbesitzes befreien, keinen anderen Weg, der die alte, durch und durch verfaulte Gemeinde auf nicht polizeilichem, nicht bürokratischem und nicht wucherischem Wege vernichten könnte.

Betrachtet man die Dinge objektiv, so steht die Frage in der russischen bürgerlichen Revolution so und nur so: wird es Stolypin (d. h. der Gutsherr und der Absolutismus) sein, der das alte Eigentum am Boden dem Kapitalismus anpassen wird, oder aber werden es die Bauernmassen selber tun, nachdem sie die Macht der Gutsherren und des Zaren gestürzt haben werden. Im ersten Fall ist nur die Anpassung auf dem Weg der Reformen möglich, d. h. nur eine halbe, unendlich langsame Anpassung, die ein viel langsameres Wachstum der Produktivkräfte, geringste Entwicklung der Demokratie bedeutet und Russland zu langjähriger Junkerherrschaft verurteilt. Im zweiten Fall ist nur die revolutionäre Anpassung möglich, d. h. eine solche, die die feudalen Besitzungen gewaltsam hinwegfegt und rascheste Entwicklung der Produktivkräfte sichert. Ist diese revolutionäre Vernichtung des gutsherrlichen Besitzes denkbar, wenn der alte Anteillandbesitz der Bauern erhalten bleibt? Nein, sie ist undenkbar, und die Bauernabgeordneten beider Dumas haben klar bewiesen, dass sie unmöglich ist. Sie taten es, indem sie den politischen Typus der Bauernschaft ganz Russlands zur Zeit der bürgerlichen Revolution schufen: den Typus des Trudowik, der die Nationalisierung des Bodens fordert.

Mit seinem Geschrei über den sozialrevolutionären Charakter der Nationalisierung wiederholt Maslow die alte Methode der Menschewiki: mit den Kadetten zu liebäugeln und zugleich die revolutionären Sozialdemokraten einer Annäherung an die Sozialrevolutionäre zu beschuldigen. Man kokettiert mit den liberal-monarchistischen Gutsherren und Kaufleuten und entrüstet sich darüber, dass die revolutionären Sozialdemokraten in der bürgerlichen Revolution mit der revolutionären bäuerlichen Bourgeoisie zusammengehen wollen. Doch nicht genug damit: indem Maslow gegen den sozialrevolutionären Charakter der Nationalisierung vom Leder zieht, zeigt er, dass ihm für eine marxistische Analyse der Narodniki-Anschauungen und -Träume der russischen Bauernschaft jedes Verständnis abgeht. Maslow versteht nicht, dass die Sozialdemokraten in Russland schon längst auf das reaktionäre Wesen der sozialistischen oder richtiger quasi-sozialistischen Theorien oder Träume von einer Neuaufteilung des Bodens (Schwarze Aufteilung) usw. und auf die bourgeoise Fortschrittlichkeit dieses Ideals im heutigen halb hörigen Russland hingewiesen haben. Hinter den kleinbürgerlichen Phrasen der Sozialrevolutionäre über den Sozialismus vermag Maslow nicht die bürgerliche Wirklichkeit, d. h. den revolutionären Kampf gegen alles mittelalterliche Gerümpel zu sehen. Wenn ein Sozialrevolutionär von gleichmäßiger Bodennutzung, Sozialisierung des Bodens usw. spricht, so ist das, ökonomisch gesehen, Blödsinn; er zeigt dadurch nur seine Unwissenheit auf dem Gebiete der politischen Ökonomie und der Entwicklungstheorie des Kapitalismus. Doch in all diesen Phrasen, in diesen Träumen steckt ein überaus lebendiger, realer – nur ganz und gar nicht sozialistischer, sondern rein bürgerlicher Inhalt, nämlich: Vorbereitung des Bodens für den Kapitalismus, Niederreißung aller mittelalterlichen und ständischen Schranken in Bezug auf den Boden, Schaffung eines freien Wirkungsfeldes für den Kapitalismus. Das ist es, was unser armer Maslow in keiner Weise begreifen kann – und das steht in unmittelbarem Zusammenhange mit der Tatsache, dass er die Marxsche Theorie der absoluten Rente nicht zu verstehen vermag, die, im Gegensatz zur Differentialrente, in der kapitalistischen Gesellschaft aufgehoben werden kann und deren Aufhebung die Entwicklung dieser Gesellschaft fördert.

Da Maslow es nicht versteht, die Sozialrevolutionäre zu bekämpfen, vulgarisiert er den Marxismus und verurteilt dadurch sich selbst zur Betrachtung des „Hinterhofes" des an seine Parzelle gefesselten Bauern, ist er außerstande, den Demokratismus und den revolutionär-bürgerlichen Geist des Bauern zu begreifen, der sowohl den gutsherrlichen als auch den Anteillandbesitz hinwegfegen will.

Da Maslow es nicht versteht, die Sozialrevolutionäre zu bekämpfen, überlässt er ihnen, den kleinbürgerlichen Sozialisten, die Kritik des Privateigentums am Boden. Vom Standpunkt der kapitalistischen Entwicklung hat Marx sie gegeben und müssen sie die Marxisten geben. Da Maslow durch seine Ablehnung der absoluten Rente sich diesen Weg verrammelt hat, muss er vor den Sozialrevolutionären kapitulieren und in der Theorie anerkennen, dass sie recht haben, während in Wirklichkeit Marx recht hat. Er kapituliert vor den Sozialrevolutionären, die das Privateigentum am Boden auf kleinbürgerliche Art kritisieren – d. h. nicht vom Standpunkt der Weiterentwicklung des Kapitalismus, sondern vom Standpunkt der Eindämmung seiner Entwicklung. Maslow hat nicht begriffen, dass der Fehler, den die Sozialrevolutionäre in ihrem Agrarprogramm begehen, nach der Nationalisierung einsetzt, d. h. an dem Punkte, wo sie zur „Sozialisierung" und „Gleichmäßigkeit"7 übergehen und bis zur Leugnung des Klassenkampfes unter der Kleinbauernschaft gelangen. Die Sozialrevolutionäre verstehen nicht den bürgerlichen Charakter der Nationalisierung – das ist ihr Hauptfehler. Jeder Marxist, der das „Kapital" studiert hat, möge mir antworten: kann man den bürgerlichen Charakter der Nationalisierung verstehen, wenn man die absolute Rente verneint?

Des Weiteren sagt Maslow, dass ich den gesamten bäuerlichen Kleinbesitz in ganz Europa zu einem mittelalterlichen stemple. Total falsch! In Europa gibt es keinen „Anteilland"-Besitz, keine Stände, sondern bereits freies, kapitalistisches, nicht feudales Eigentum am Boden. In Europa gibt es keine von den Sozialdemokraten unterstützte Bauernbewegung gegen die Gutsherren. Das hat P. Maslow vergessen!

Gehen wir nunmehr zu den politischen Argumenten über. Mein Argument, die Munizipalisierung hänge bei den Menschewiki mit dem Gedanken des Kompromisses mit der Monarchie zusammen, wird von Maslow als „Insinuation" und „bewusste Lüge" bezeichnet – aber wie lautet doch mein wörtliches Zitat aus der Rede des Menschewiks Nowossedski, Genosse Maslow? Auf wessen Seite ist hier die Lüge? Oder möchten Sie vielleicht durch „schreckliche" Worte das für Sie so unangenehme Geständnis Nowossedskis vertuschen?

Die Übergabe des Bodens an die Munizipalitäten erhöht deren Chancen im Kampfe gegen die Restauration, behauptet Maslow. Ich aber bin so frei zu glauben, dass nur das Erstarken der zentralen republikanischen Staatsgewalt die Sache der Reaktion ernstlich erschweren kann, während Zersplitterung der Mittel und Kräfte zwischen einzelnen Gebieten sie nur erleichtert. Wir müssen bestrebt sein, die revolutionären Klassen und vor allem das Proletariat verschiedener Staatsgebiete zu einem Heer zusammenzuschließen, nicht aber an den aussichtslosen, wirtschaftlich unmöglichen und sinnlosen föderalistischen Versuch denken, die Einnahmen aus den konfiszierten Ländereien den einzelnen Gebieten zu überlassen. „Wählt, polnische Genossen – sagt Maslow –, soll der polnische Sejm die Einnahmen aus dem konfiszierten Boden für sich behalten oder soll man sie von den ,Moskals'8 in Petersburg einsacken lassen?"

Ein herrliches Argument! Keine Spur von Demagogie darin! Auch keine Verwechslung der Agrarfrage mit der Frage der Autonomie für Polen!

Ich aber sage: Freiheit für Polen ist unmöglich ohne Freiheit für Russland. Diese Freiheit wird es aber nicht geben, wenn nicht die polnischen und russischen Arbeiter ihre Aufgabe erfüllen und die russischen Bauern in ihrem Kampf für die Nationalisierung des Bodens, in ihrem Kampf für den vollen Sieg sowohl auf politischem als auch auf dem Agrargebiet unterstützen werden. Munizipalisierung und Nationalisierung dürfen nur vom Standpunkt der Wirtschaftsentwicklung des zentralen Russlands, vom Standpunkt der politischen Geschicke des Gesamtstaates gewertet werden, nicht aber vom Standpunkt der Eigentümlichkeiten des einen oder anderen autonomen nationalen Gebietes. Ohne Sieg des Proletariats und der revolutionären Bauernschaft in Russland ist es lächerlich, von wahrer Autonomie für Polen, von den Rechten der Munizipalitäten uswr. zu reden. Das sind hohle Phrasen. Die Bauernschaft Russlands aber hat gerade in dem Maße, wie sie revolutionär ist, Kompromisse mit der Bourgeoisie und den Oktobristen ablehnt und Schulter an Schulter mit den Arbeitern und der Demokratie marschiert, ihre Sympathien für die Nationalisierung des Bodens bereits unwiderleglich bewiesen. Wenn die Bauernschaft aufhört, revolutionär zu sein, d. h. wenn sie sich von diesen Sympathien lossagt, sich von der bürgerlich-demokratischen Revolution abwendet, so wird den Bauern die Sorge Maslows um die Aufrechterhaltung des alten Eigentums am Grund und Boden gefallen – aber dann wird auch die von Maslow vertretene Munizipalisierung ganz lächerlich sein. Solange jedoch der revolutionär-demokratische Kampf der Bauernschaft weitergeht, solange das marxistische Agrarprogramm in der bürgerlichen Revolution einen Sinn hat, ist es unsere Pflicht, die revolutionären Forderungen der Bauern, darunter auch die Nationalisierung des Grund und Bodens, zu unterstützen. Diese Forderung der russischen Bauern wird Maslow aus der Geschichte der russischen Revolution nicht ausmerzen können, und so besteht für uns die Gewissheit, dass der Aufschwung der sozialen Bewegung, der Aufschwung des Kampfes der Bauernschaft um den Boden, wenn er wieder einsetzt, die ganze reaktionäre Natur der „Munizipalisierung" deutlich offenbaren wird.

1 Vorliegender Artikel ist eine Fortsetzung der Polemik Lenins gegen P. Maslow in der polnischen sozialdemokratischen Presse. Zum ersten Mal veröffentlicht in Nr. 8–9 des „Przeglad Socjal-Demokratyczny".

2 D. h. die Rückgabe der „abgetrennten" Landstücke („Otreski"), die bei der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 den Bauern abgenommen und den. Gutsbesitzern zugesprochen wurden. Die Red.

3 Das Programm von 1903 wurde von Maslow in der Broschüre „Iks über das Agrarprogramm" niedergelegt. Dieselbe Broschüre enthält auch die Antwort Lenins: „N. Lenin. Eine Antwort auf die Kritik unseres Programmentwurfs" (Genf, im Verlag der Liga der Russ. Revol. Sozialdemokratie, 1903). (Auf dem 2. Parteitag bildete das Agrarprogramm den Gegenstand der 19., 20. und 21. Sitzung.) Der Entwurf der „Munizipalisierung" als Programmforderung der Sozialdemokratie wurde von Maslow in seiner Broschüre „Kritik der Agrarprogramme" gegeben (Moskau 1905). Lenin analysierte diesen Entwurf in seiner Broschüre „Revision des Agrarprogramms der Arbeiterpartei". In derselben Frage kam es auch auf dem 6. (Stockholmer) Parteitag zu einer lebhaften Diskussion.

* Und gar nicht alle Autonomisten! Maslow müsste über die Tatsache ein bisschen nachdenken, dass der ukrainische Autonomist Tschischewski sich für Nationalisierung aussprach.

4 Siehe Bd. IX der Sämtl. Werke. Die Red.

6 Die Arbeit, in der Marx die revolutionäre Natur der kleinbürgerlichen Bewegung für Grundbesitz anerkennt, ist der bekannte Artikel gegen den „Volkstribun", der von Hermann Kriege in New York herausgegeben wurde. Er wurde in der Monatsschrift „Westphälisches Dampfboot" 1846 veröffentlicht. Neuabdruck bei Mehring in Band 2 des „Literarischen Nachlasses von Karl Marx und Friedrich Engels 1841-58." Herausgegeben von Franz Mehring, II. Band von Juli 1844 bis November 1848, vierte Auflage, S. 414–428. Über diese Arbeit siehe bei Lenin „Marx über die amerikanische ,schwarze Umteilung'".

7 Der Bodenaufteilung. Die Red.

8 Den Russen. Die Red.

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