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Wladimir I. Lenin 19150501 Die Sophismen der Sozialchauvinisten

Wladimir I. Lenin: Die Sophismen der Sozialchauvinisten

[Sozialdemokrat Nr. 41, 1. Mai 1915. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 189-194]

Das Blatt „Nasche Djelo (1915, Nr. 1), herausgegeben von den Liquidatoren in Petrograd, veröffentlicht eine Übersetzung der Broschüre Kautskys: „Die Internationalität und der Krieg“. Herr A. Potressow erklärt dabei, mit Kautsky1 nicht einverstanden zu sein: nach seiner Meinung tritt Kautsky bald als „Advokat“ auf (d. h. als Verteidiger des deutschen Sozialchauvinismus, der die Berechtigung der franko-russischen Spielart dieser Richtung nicht anerkenne), bald als „Richter“ (d. h. als Marxist, der Marxens Methode vorurteilslos anzuwenden bemüht sei).

In Wirklichkeit geben Herr A. Potressow und Kautsky den Marxismus im Wesentlichen preis, indem sie mit offenbaren Sophismen die national-liberale Arbeiterpolitik verteidigen. Herr A. Potressow lenkt die Aufmerksamkeit der Leser vom Wesentlichen ab, indem er mit Kautsky über Einzelheiten diskutiert. Nach Ansicht des Herrn A. Potressow ist die „Entscheidung“ über die Haltung zum Kriege, wie sie von der englisch-französischen „Demokratie“ (der Verfasser meint die Arbeiterdemokratie) getroffen wurde, eine „im allgemeinen gute Lösung“ der Frage (S. 69); „sie (diese Demokraten) handelten richtig“, – obwohl ihre Lösung nicht so sehr bewusst ist, als vielmehr „dank einem glücklichen Zufall – mit der nationalen Lösung zusammenfällt“.

Der Sinn dieser Worte ist klar: Herr A. Potressow verteidigt den russischen Chauvinismus unter englisch-französischem Deckmantel, indem er die patriotische Taktik der Triple-Entente-Sozialisten rechtfertigt. Herr A. Potressow diskutiert mit Kautsky nicht als Marxist mit dem Chauvinisten, sondern als russischer Chauvinist mit dem deutschen Chauvinisten. Das ist ein bis zur Trivialität abgedroschenes Verfahren, man braucht ja nur darauf hinzuweisen, dass Herr A. Potressow den klaren und einfachen Sinn seiner Reden auf jede Art verhüllt und verwirrt.

Wesentlich ist, worin Herr A. Potressow und Kautsky übereinstimmen. Sie stimmen z. B. darin überein, dass „der Internationalismus des modernen Proletariats mit der Vaterlandsverteidigung vereinbar“ sei (K. Kautsky, S. 34 der deutschen Ausgabe seiner Broschüre). Herr A. Potressow spricht von der besonderen Lage des Staates, „der mit Zerstörung bedroht ist“. Kautsky schreibt:

Nichts fürchtet ein Volk mehr als eine feindliche Invasion. … Ist es einmal so weit gekommen, dass die Bevölkerung nicht in der eigenen Regierung, sondern in der Bösartigkeit des Nachbarn die Kriegsursache erblickt – und welche Regierung versucht es nicht, mit Hilfe ihrer Presse usw. … der Masse der Bevölkerung diese Anschauung beizubringen! –, … dann entbrennt in der ganzen Bevölkerung auch einmütig das heiße Bedürfnis nach Sicherung der Grenzen vor dem böswilligen Feinde …; wenn einzelne den … Mut haben sollten, … hindern zu wollen, dass das Militär an die Grenze eilt… Die wütende Menge würde sie selbst erschlagen.“ (K. Kautsky, S. 33, aus einem Artikel von 19112.)

Das ist eine marxistisch sein sollende Rechtfertigung der Grundidee aller Sozialchauvinisten.

Kautsky selbst hatte schon im Jahre 1911 sehr gut gesehen, dass die Regierung (und die Bourgeoisie) durch Abwälzung der Schuld auf die „Bösartigkeit“ des anderen Landes „das Volk, die Bevölkerung, die Menge“ zu betrügen bestrebt sein werde. Die Frage ist nun die, ob die Unterstützung eines solchen Betruges – einerlei ob durch Bewilligung von Kriegskrediten, oder durch Reden, Artikel usw. – mit Internationalität und Sozialismus vereinbar ist, oder ob diese Unterstützung einer nationalliberalen Arbeiterpolitik gleichkommt. Kautsky verfährt wie der schamloseste „Advokat“, wie der letzte Sophist, indem er diese Frage durch die andere ersetzt: ob es für „Einzelne“ Sinn habe, gegen den Willen der von ihrer Regierung betrogenen Mehrheit der Bevölkerung „die Entsendung von Militär hindern zu wollen“. Nicht darum geht der Streit. Nicht das ist das Wesentliche. Den betrogenen Kleinbürgern muss man das Bewusstsein und die Klarheit darüber beibringen, dass sie betrogen sind; manchmal muss man – mit ihnen ins Feld ziehend – abzuwarten verstehen, bis die Erfahrung des Kriegs ihre Köpfe bearbeitet hat.

Nicht darum handelt es sich, vielmehr um die Frage, ob es für Sozialisten erlaubt ist, den bürgerlichen „Volks“-Betrug mitzumachen. Kautsky und A. Potressow rechtfertigen diesen Betrug. Sie wissen ja sehr wohl, dass am imperialistischen Kriege 1914 die „Bösartigkeit“ der Regierungen und der Bourgeoisien aller „Großmächte“ – der von England wie der von Frankreich, von Deutschland und von Russland gleichermaßen schuld ist. Das ist z. B. in der Baseler Resolution vom Jahre 1912 sehr klar gesagt.

Dass das „Volk“, d. h. die Masse des Kleinbürgertums und der Teil der Arbeiter, der sich zum Narren halten lässt, an das bürgerliche Märchen von der „Bösartigkeit“ des Feindes glaubt, ist Tatsache. Aber die Sozialdemokratie hat die Aufgabe, gegen diesen Betrug zu kämpfen, nicht aber, ihn zu unterstützen. Alle Sozialdemokraten in allen Ländern haben lange vor dem Kriege davon gesprochen und es in Basel bekräftigt, dass jede Großmacht in Wirklichkeit die Festigung und Erweiterung ihrer Kolonialherrschaft, die Unterjochung der kleinen Nationen usw. erstrebt. Der Krieg geht um die Aufteilung der Kolonien und um die Plünderung fremder Territorien; die Diebe prügeln sich, – und wenn man sich darauf beruft, dass im gegebenen Moment ein bestimmter Dieb eine Niederlage erleidet, um das Interesse der Diebe für das Interesse des Volkes oder des Vaterlandes auszugeben, so ist das eine gewissenlose Bourgeois-Lüge. Dem „Volke“, das unter dem Kriege leidet, müssen wir die Wahrheit sagen, und sie besteht darin, dass es gegen die Schrecken des Kriegs keinen Schutz geben kann ohne den Sturz der Regierung und der Bourgeoisie eines jeden kriegführenden Landes. Die Verteidigung Belgiens vermittelst der Erdrosselung Galiziens oder Ungarns ist keine „Vaterlandsverteidigung“.

Aber Marx selbst, als er die Kriege, z. B. die von 1854-1876, verurteilte, stellte sich ja auf die Seite einer der kriegführenden Mächte, als der Krieg gegen den Willen der Sozialisten zur Tatsache wurde. Das ist der Hauptinhalt und der höchste „Trumpf“ der Kautsky-Broschüre. So ist auch die Haltung des Herrn A. Potressow, der unter „Internationalismus“ die Feststellung versteht: wessen Erfolg im Kriege vom Standpunkt der Interessen nicht des nationalen, sondern des gesamten Weltproletariats am meisten wünschenswert oder am wenigsten schädlich sei. Den Krieg führen die Regierungen und die Bourgeoisie; das Proletariat habe zu bestimmen, welche Regierung, wenn sie siegt, damit für die Arbeiter der ganzen Welt die geringste Gefahr bedeute.

Der Sophismus dieser Ausführungen besteht darin, dass eine Unterstellung gemacht, nämlich eine frühere, längst vergangene Geschichtsepoche an die Stelle der gegenwärtigen gesetzt wird. Der Grundzug der früheren Kriege, auf die sich Kautsky beruft, war folgender: 1. die früheren Kriege entschieden über Probleme der bürgerlich-demokratischen Umgestaltung und der Niederwerfung des Absolutismus oder eines fremdländischen Jochs; 2. damals waren die objektiven Bedingungen für die sozialistische Revolution noch nicht reif, und kein Sozialist konnte vor dem Kriege von seiner Ausnutzung „für die Beschleunigung der Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft“ sprechen, wie es in der Stuttgarter (1907) und in der Baseler (1912) Resolution heißt; 3. damals gab es in den Staaten beider kriegführenden Lager keine sozialistischen Parteien, die auch nur einigermaßen starke, in einer Reihe von Kämpfen erprobte Massenparteien gewesen wären.

Kurz gesagt: ist es verwunderlich, dass Marx und die Marxisten sich auf die Feststellung des Punktes beschränkten: der Sieg, welcher Bourgeoisie geringeren Schaden (oder größeren Nutzen) für das Weltproletariat bedeute, – zu einer Zeit, da von einer gemeinsamen proletarischen Bewegung gegen die Regierungen und die Bourgeoisie in allen kriegführenden Ländern noch nicht die Rede sein konnte?

Zum ersten Male in der Weltgeschichte versammeln sich, lange vor dem Kriege, die Sozialisten aller kriegführenden Länder und erklären: Wir werden den Krieg ausnutzen, „um die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen“ (1907, Stuttgarter Resolution). Das bedeutet, sie stellen fest, dass die objektiven Bedingungen für eine solche „beschleunigte Beseitigung“, d. h. für die sozialistische Revolution, herangereift sind. Das bedeutet, sie drohen den Regierungen mit der Revolution. In Basel (1912) ist das mit dem Hinweis auf die Kommune und auf den Oktober-Dezember 1905, d. h. auf den Bürgerkrieg, noch klarer gesagt worden.

Als der Krieg nun ausbricht, da beginnen die Sozialisten, die den Regierungen mit der Revolution gedroht und das Proletariat zur Revolution aufgerufen hatten, sich auf das zu berufen, was vor einem halben Jahrhundert war, und rechtfertigen die Unterstützung der Regierungen und der Bourgeoisie durch die Sozialisten! Recht und tausendmal recht hat der Marxist Gorter, wenn er in seiner in Holland erschienenen Broschüre „Der Imperialismus, der Weltkrieg und die Sozialdemokratie“3 (S. 84) die „Radikalen“ vom Schlage Kautskys mit den Liberalen des Jahres 1848 vergleicht, die in Worten tapfer, in ihren Taten Verräter waren.

Jahrzehntelang war der Gegensatz zwischen den revolutionär-sozialdemokratischen und den opportunistischen Elementen innerhalb des europäischen Sozialismus gewachsen. Die Krise wurde reif. Der Krieg brachte das Geschwür zum Aufbrechen. Die Mehrheit der offiziellen Parteien ist besiegt von den national-liberalen Arbeiterpolitikern, die die Privilegien ihrer „eigenen“, ihrer „vaterländischen“ Bourgeoisie, deren Vorrecht auf Kolonialbesitz, Unterdrückung der kleinen Nationen usw. verteidigen. Kautsky wie A. Potressow bemänteln, rechtfertigen und verteidigen die national-liberale Arbeiterpolitik, anstatt sie vor dem Proletariat zu entlarven. Dies ist es, worin die Sophismen des Sozialchauvinismus im wesentlichen bestehen.

Herr A. Potressow war so unvorsichtig, sich dabei zu verplappern –, er behauptete nämlich die „prinzipielle Unhaltbarkeit der Stuttgarter Formel“ (S. 79). Nun, offene Renegaten sind dem Proletariat jedenfalls nützlicher als versteckte. Fahren Sie nur fort, Herr Potressow, Sie müssen sich von Stuttgart und Basel noch ehrlicher lossagen!

Der Diplomat Kautsky ist geschickter als Herr A. Potressow: er sagt sich nicht los von Stuttgart und Basel, er zitiert das Baseler Manifest nur – „nur“! – unter Fortlassung aller Hinweise auf die Revolution!! Sicherlich ist die Zensur Potressow wie Kautsky in die Quere gekommen. A. Potressow und Kautsky sind sicherlich bereit, von der Revolution zu sprechen, wenn die Zensur es erlaubt…

Wir wollen hoffen, dass A. Potressow, Kautsky oder ihre Anhänger den Vorschlag machen werden, die Stuttgarter und die Baseler Resolution etwa durch die folgende zu ersetzen: „Falls der Krieg trotz unserer Bemühungen dennoch ausbrechen sollte, so müssen wir vom Standpunkte des Weltproletariats bestimmen, was ihm vorteilhafter ist: dass Indien von England oder aber, dass es von Deutschland geplündert wird; dass die Neger in Afrika von den Franzosen oder dass sie von den Deutschen mit Fusel betäubt und ausgeplündert werden; dass die Türkei von den Deutschen und Österreichern oder dass sie von den Engländern, Franzosen und Russen an der Gurgel gepackt wird; dass Belgien von den Deutschen oder dass Galizien von den Russen erdrosselt wird; dass China von den Japanern oder dass es von den Amerikanern aufgeteilt wird“ usw.?

1 Kautskys Broschüre: „Die Internationalität und der Krieg“, stellt einen Sonderabdruck seines Artikels in der Neuen Zeit, Nr. 8, vom 27. November dar, erschienen im „Vorwärts“-Verlag, Berlin 1915. Die russische Übersetzung erschien in Nr. 1 und 2 von „Nasche Djelo“. Nr. 1 von „Nasche Djelo“ enthielt auch den von Lenin erwähnten Artikel Potressows: „An der Grenzscheide zweier Epochen“.

2 Es handelt sich um Kautskys Artikel in der Neuen Zeit, Nr. 30, vom 28. April 1911: „Krieg und Frieden“, mit dem Untertitel „Betrachtungen zur Mai-Feier“.

3 Die Broschüre von H. Gorter: „Der Sozialismus, der Weltkrieg und die Sozialdemokratie“ erschien in Amsterdam Anfang 1915.

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