Leo Trotzki‎ > ‎1919‎ > ‎

Leo Trotzki 19190309 An die Genossen Spartakisten

Leo Trotzki: An die Genossen Spartakisten

[eigene Übersetzung nach Л. Троцкий: Сочинения. Том 13. Москва-Ленинград 1926, стр. 93-97 und Л. Троцкий: Пять лет Коминтерна, Москва 1924 стр. 21-25, verglichen mit dem englischen Text]

Mit großer Bereitschaft und Freude nahm ich den Vorschlag des Genossen Albert, Delegierter der Kommunistischen Partei Deutschlands, an, mehrere Zeilen für die deutsche Parteipresse zu schreiben.

Da ich, wie alle russischen Marxisten, ein Schüler des deutschen Sozialismus bin, wirkte ich während mehrerer Jahre des Emigrantenlebens nach Kräften an der deutschen Parteipresse mit. Mit besonderer Befriedigung nutze ich die Gelegenheit, meine Mitarbeit zu erneuern – unter den aktuellen, sehr veränderten Bedingungen.

Das Hegelsche Maulwurf der Geschichte grub im Laufe der Jahre eifrig seine unterirdischen Gänge; vieles, was einst fest stand, liegt nun in Trümmern, vieles, was damals schwach war oder schien, hat jetzt die Macht erreicht. Moskau wurde zu Recht als Verkörperung der Weltreaktion betrachtet. Nun ist Moskau Tagungsort des Kongresses der Dritten Kommunistischen Internationale. Ins Berlin der Hohenzollern konnte ich nur mit einem falschen Pass kommen (ich entschuldige mich rückblickend bei den ehrwürdigen Polizisten der preußischen Monarchie, die jetzt als Hüter der Republik fungieren). Jetzt … aber selbst jetzt können die Tore Berlins nicht als offen für einen russischen Kommunisten betrachtet werden. Ich hoffe jedoch, dass die Öffnung dieser Tore viel weniger lange dauern wird als wir bisher gewartet haben. In der deutschen Sozialdemokratie hat sich etwas verändert.

Vom Genosse Albert hörten wir eine Bestätigung dessen, was nicht zweifelhaft war: dass die deutschen Arbeiter dem Kampf der russischen Arbeiterklasse nicht nur mit Aufmerksamkeit, sondern auch mit warmem Mitgefühl folgen. Von dieser Sympathie hat sie nicht nur die unehrliche Verleumdung der Bourgeoisie, sondern auch die gelehrteste Kritik Karl Kautskys nicht entmutigt.

Von Seiten des letzteren haben wir gehört, dass die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse zwar die historische Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei sei, aber da die Kommunistische Partei Russlands nicht durch die Tür und zu der Zeit an die Macht kam, wie sie es nach dem Zeitplan Kautskys sollte, müsse die Sowjetrepublik zur Korrektur Kerenski, Zereteli und Tschernow übergeben werden. Diese pädagogisch-reaktionäre Kritik Kautskys muss jenen deutschen Genossen umso überraschender erscheinen, die bewusst die Zeit der ersten russischen Revolution miterlebten und Kautskys Artikel von 1905-1906 gelesen haben. Damals verstand Kautsky (wenn auch nicht ohne den wohltuenden Einfluss Rosa Luxemburgs), dass die russische Revolution nicht in einer bürgerlich-demokratischen Republik enden könne, sondern aufgrund des erreichten Niveaus des Klassenkampfes innerhalb des Landes und des gesamten internationalen Kapitalismus zur Diktatur der Arbeiterklasse kommen müsse. Kautsky schrieb damals direkt über eine Arbeiterregierung mit einer sozialdemokratischen Mehrheit. Es kam ihm nie in den Sinn, den wirklichen Verlauf des Klassenkampfes in Abhängigkeit von den flüchtigen oberflächlichen Kombinationen der politischen Demokratie zu stellen. Kautsky verstand damals, dass die Revolution zum ersten Mal Millionen bäuerlicher und kleinbürgerlicher Massen wecken würde, und zwar nicht sofort, sondern allmählich, Schicht für Schicht, so dass zu einer Zeit, in der der Kampf zwischen dem Proletariat und der kapitalistischen Bourgeoisie den entscheidenden Moment erreichen würde, die breiten bäuerlichen Massen sich immer noch auf einem sehr primitiven Niveau der politischen Entwicklung befinden würden und ihre Stimmen den politischen Zwischenparteien geben würden, die nur die Rückständigkeit und Vorurteile der Bauern widerspiegeln. Kautsky verstand damals, dass das Proletariat, das durch die Logik der Revolution zur Eroberung der Macht gekommen wäre, diesen Akt nicht auf unbestimmte Zeit willkürlich aufschieben könne, denn durch diese Selbstverleugnung würde es nur das Feld für die Konterrevolution frei machen. Kautsky verstand damals, dass das Proletariat durch die Übernahme der revolutionären Macht das Schicksal der Revolution nicht von der vorübergehenden Stimmung der am wenigsten bewussten, noch nicht erwachten Massen in diesem Moment abhängig machen werde, sondern im Gegenteil alle staatliche Macht in seinen Händen zu einem mächtigen Aufklärungs- und Organisationsapparat der rückständigsten, unwissendsten Bauernmassen konzentrieren werde. Kautsky verstand, dass die russische Revolution bürgerlich zu nennen und damit ihre Aufgaben zu begrenzen, bedeuten würde, nichts von dem zu verstehen, was in der Welt vor sich geht. Er erkannte zu Recht zusammen mit den revolutionären Marxisten Russlands und Polens an, dass für den Fall, dass das russische Proletariat die Macht vor dem europäischen erlangen werde, es seine Stellung als herrschende Klasse für einen mächtigen Beitrag für die proletarische Revolution in Europa und der Welt nutzen müsse – sei es nur, um die russische Revolution zu retten, indem man sie zu einem integralen Bestandteil der europäischen Revolution mache und so den Übergang Russlands zu einem sozialistischen System beschleunige. Alle diese Weltperspektiven, durchdrungen vom wahren Geist der marxistischen Lehre, wurden damals natürlich weder von Kautsky noch von uns in irgendeiner Weise davon abhängig gemacht, wie und für wen die Bauernschaft im November und Dezember 1917 bei den Wahlen zur sogenannten Konstituierenden Versammlung stimmen werde.

Jetzt, da die Perspektiven, die vor 15 Jahren skizziert wurden, Wirklichkeit geworden sind, verweigert Kautsky der russischen Revolution den Taufschein, weil sie von der politischen Sektion der bürgerlichen Demokratie nicht legal registriert ist. Eine bemerkenswerte Tatsache! Ein unglaubliche Erniedrigung des Marxismus! Man kann mit Recht sagen, dass der Fall der Zweiten Internationale in dieser philisterhaften Haltung des prominentesten ihrer Theoretiker zur russische Revolution einen noch furchtbareren Ausdruck fand als in der Abstimmung über die Kriegskredite am 4. August [1914].

Einige Jahrzehnte lang entwickelte und verteidigte Kautsky die Ideen der sozialen Revolution. Jetzt, da es soweit ist, zieht sich Kautsky entsetzt vor ihr zurück. Er verleugnet die Sowjetmacht in Russland, er steht der mächtigen Bewegung des kommunistischen Proletariats in Deutschland feindlich gegenüber. Kautsky gleicht im höchsten Grade einem Schullehrer, der von Jahr zu Jahr in den vier Wänden eines stickigen Schulzimmers vor seinen Schülern die Beschreibung des Frühlings wiederholte, und dann, gegen Ende seiner pädagogischen Tätigkeit im Frühling in den Schoß der Natur geriet, den Frühling nicht erkannte, in Tobsucht geriet (soweit Tobsucht einem Lehrer eigen ist) und zu beweisen begann, dass es eine große Unordnung in der Natur gebe, d.h. der echte Frühling nicht Frühling sei, denn er geschehe – im Gegensatz zu den Naturgesetzen. Wie gut, dass die Arbeiter nicht einmal denjenigen Pedanten mit der größten Autorität glauben, sondern an die Stimme des Frühlings glauben.

Wir, die Schüler der deutschen Philosophie, die Schüler von Marx, bleiben zusammen mit den deutschen Arbeitern der Überzeugung, dass der Frühling der Revolution ganz nach den Gesetzen der Natur und zugleich nach den Gesetzen von Marx stattfinde, denn die Theorie ist für den Marxismus kein Schulzeigestock, der die Geschichte überragt, sondern die soziale Analyse der Wege und Methoden des in der Wirklichkeit stattfindenden historischen Prozesses.

Wir erfuhren auch vom Genossen Albert, dass die revolutionären deutschen Arbeiter die gegen uns aus dem Milieu der gleichen kautskyanischen Unabhängigen Partei erhobenen Vorwürfe nicht teilten: Anschuldigungen deswegen, dass wir es für möglich hielten, mit dem siegreichen deutschen Militarismus den Brest-Litowsker Frieden zu schließen. Bernstein verbreitete zu seiner Zeit literarische Erzeugnisse, in denen er nicht nur die Tatsache unseres Friedensschlusses mit den Diplomaten der Hohenzollern einer grausamen Beurteilung unterwarf, sondern auch seine Kritik mit den dunkelsten Andeutungen begleitete. Er warf uns nicht mehr und nicht weniger vor, als dass wir die russischen Arbeiter mit der Unvermeidlichkeit der deutschen Revolution absichtlich getäuscht hätten, um unsere Intrigen mit der Regierung der Hohenzollern zu vertuschen. Ich spreche nicht von der Tatsache, dass die echten Realisten und Weisen, die sich selbst als „Theoretiker des Marxismus" betrachten, die Unvermeidbarkeit der sozialen Katastrophe Deutschlands vor einigen Monaten nicht verstanden haben, während wir, die „Utopisten", dies vom erster Tag des Krieges an vorhersagten. Aber ist es nicht eine verblüffende politische Dummheit, die deutsche Revolution für unmöglich zu erklären, also die Standhaftigkeit der Macht des deutschen Militarismus anzuerkennen und zugleich zu fordern, dass die Regierung eines geschwächten, erschöpften Landes wie Russland um jeden Preis – Hand in Hand mit dem englischen Imperialismus – den Krieg gegen die Hohenzollern fortsetzt. Nach Bernstein und Co. waren wir schuldig, den Kampf gegen den deutschen Imperialismus nicht zu monopolisieren, sondern auf das revolutionäre Werk des deutschen Proletariats zu hoffen. Aber hier hatten wir Recht. Gegen die Logik der Pedanten und Schullehrer ist die deutsche Arbeiterklasse mit der Monarchie fertig geworden und auf dem richtigen Weg zur vollständigen Abschaffung der Herrschaft der Bourgeoisie. Leider habe ich nicht die Möglichkeit zu beobachten, ob die britischen und französischen Bernsteinianer jetzt die deutsche Arbeiterklasse beschuldigen, mit dem anglo-französischen Imperialismus Frieden schließen zu müssen. Aber wir, die russischen Kommunisten, bezweifeln keinen einzigen Tag, dass dieser schreckliche Friede, der nun von den Weltraubtieren dem deutschen Volk aufgezwungen wird, sich völlig gegen die herrschenden Klassen der Entente wenden wird.

Da das Argument über die illegale Geburt der Diktatur der russischen Arbeiterklasse nicht sehr viel auf die deutschen Arbeiter einwirkt, wird jetzt ein neues Argument vorgebracht, um die russische Revolution zu diskreditieren. Die Sowjetregierung habe die Aufgabe, mit der Roten Armee nach Ostpreußen einzudringen. Wir bezweifeln nicht, dass diese Erfindung, welche politische Betrüger verbreiten, um Narren zu erschrecken und zu täuschen, bei den deutschen Arbeitern keinen Glauben findet. Wir glauben, dass wir unsere Pflicht in Bezug auf die internationale Revolution erfüllen werden, wenn wir die Macht der Arbeiterklasse auf russischem Boden behalten. Diese Aufgabe erfordert enorme Anstrengungen und revolutionäre Selbstaufopferung seitens des russischen Proletariats. Bis jetzt hat unsere Rote Armee ihre Aufgabe erfolgreich bewältigt. In den letzten sechs Monaten hat sie ein Territorium von 700.000 Quadratkilometern mit einer Bevölkerung von 42 Millionen Seelen von den Weißgardistenbanden befreit. Wir zählen fest darauf, dass die Arbeiter- und Bauernarmee nicht nur die sozialistische Macht in diesem Gebiet behalten wird, sondern auch jene Regionen der föderativen Republik säubern wird, in denen sich die Macht der Bourgeoisie mit der Unterstützung ausländischer Imperialisten noch immer hält. Was Deutschland anbelangt, so glauben wir, dass die Aufgabe, es in eine sozialistische Republik zu verwandeln, in erster Linie Sache der deutschen Arbeiterklasse ist. Deshalb ist diese Sache in festen und zuverlässigen Händen. Wir senden unsere wärmsten Grüße den deutschen Proletariern und bitten sie zu glauben, dass sie jedem russischen Kommunisten niemals so nah und teuer gewesen sind wie jetzt, wo sie unter unglaublichen Schwierigkeiten, im Kampf gegen Verrat und Treubruch, den Weg, auf dem die leblosen Körper der besten Kämpfer wie Liebknecht und Luxemburg liegen, unermüdlich und mutig zum endgültigen Sieg gehen.

9. März 1919.

Kommentare