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Wladimir I. Lenin 19051003 Brief an das ZK der SDAPR

Wladimir I. Lenin: Brief an das ZK der SDAPR1

[Geschrieben am 20. September/3. Oktober 1905. Zum ersten Mal veröffentlicht 1926 im „Leninski Sbornik", Nr. 5. Nach Sämtliche Werke, Band 8, Wien-Berlin 1931, S. 328-330.]

3. X. 1905.

Liebe Freunde!

Ich erhielt einen Haufen Dokumente und hörte den ausführlichen Bericht Deltas an. Ich beeile mich, alle Punkte zu beantworten.

1. Ich kann nicht zur festgesetzten Frist ankommen, denn es ist jetzt undenkbar, die Zeitung im Stich zu lassen. Woinow ist in Italien steckengeblieben. Orlowski musste in einer Angelegenheit weggeschickt werden. Niemand ist da, dem man die Dinge hier überlassen könnte. Die Sache wird also bis zum russischen Oktober verschoben, wie Ihr es festgesetzt habt.

2. Ich wiederhole die sehr dringliche Bitte: gebt dem Internationalen Büro eine formelle Antwort. Ob Ihr jemanden zur ausländischen Konferenz schickt. Genau: wen und wann. Ob Ihr jemanden ernennt – ebenfalls genau. Sonst verliert Ihr unglaublich in den Augen des Internationalen Büros.

3. Wegen Plechanow ebenfalls formell und endgültig: ja oder nein. Wer soll denn ernannt werden? Ein Aufschieben dieser Frage ist höchst gefährlich.

4. Über den legalen Verlag fasst möglichst bald einen formellen Beschluss. Mit dem Vertragsprojekt mit Malych habe ich Euch nicht im Geringsten geschadet, denn das ist eben ein Projekt.

Ich wiederhole nur, dass Malych einer Menge hiesiger Personen, die zu unterhalten die Partei nicht imstande ist, Verdienst gab. Vergesst das nicht. Ich würde raten, sowohl mit Malych einen Vertrag zu schließen als auch mit anderen die Sache im Sinne Schmidts weiterzuführen.2

5. Zur Opposition fast sämtlicher Vertrauensleute gegen das Zentralkomitee habe ich Folgendes zu sagen: Erstens wird die Kooptierung von Insarow und Ljubitsch, die ich durchaus begrüße, die Sache wahrscheinlich sehr verbessern. Zweitens scheinen die Vertrauensleute ein wenig zu übertreiben. Drittens, sollte man nicht einen Teil der Vertrauensleute in die Komitees setzen, mit dem Auftrage, sich um einen ganzen Bezirk von zwei bis drei benachbarten Komitees zu kümmern? Man soll die Einheit der Taktik nicht übertreiben; gewisse verschiedenartige Handlungen und Pläne der Komitees stören nicht.

6. Für außerordentlich wichtig würde ich es halten, sich um den 4. Parteitag zu kümmern.3 Es ist Zeit. Er wird sich wahrscheinlich wenigstens um ein halbes Jahr, vielleicht aber auch um mehr verspäten. Doch ist es jedenfalls an der Zeit. Meines Erachtens ist es ein wenig unsere Schuld, dass einige Komitees aufgelöst und die Beschlüsse des 3. Parteitages über die Bedingungen der Zulassung der Menschewiki nicht eingehalten wurden. Wenn diese Komitees, die zu ein und derselben Zeit den 3. Parteitag anerkennen und nicht anerkennen, bis zum 4. Parteitag zu keinem Entschluss gelangen, so wird ein Chaos entstehen. Ein Teil von ihnen wird nicht zum 4. Parteitag fahren. Ein neuer Skandal. Ein Teil wird fahren und auf dem Parteitag überlaufen. Wir dürfen die Politik der Vereinigung zweier Teile nicht mit dem Durcheinanderbringen beider Teile verwechseln. Zwei Teile vereinigen – einverstanden. Zwei Teile durcheinanderbringen – niemals. Klare Scheidung müssen wir von den Komitees verlangen, alsdann zwei Kongresse und dann die Vereinigung. Zwei Kongresse zu ein und derselben Zeit, an demselben Ort, und sie werden schon die im Voraus vorbereiteten Vereinigungsprojekte behandeln und annehmen.

Jetzt aber muss man gegen das Durcheinanderbringen der beiden Teile der Partei aufs Entschiedenste kämpfen. Ich würde empfehlen, den Vertrauensleuten in sehr bestimmter Form eine solche Losung zu geben und sie zu beauftragen, sie zu verwirklichen.

Wenn das nicht gemacht wird, entsteht ein entsetzlicher Brei. Für die Menschewiki ist jeder Wirrwarr vorteilhaft, und sie werden ihn auf jegliche Weise stiften. Ihnen wird es „nicht schlechter gehen" (denn nichts kann schlechter sein als ihre Desorganisation), während wir unsere Organisation, wenn sie auch erst im Entstehen ist, schätzen und sie mit Fäusten und Zähnen verteidigen werden. Für die Menschewiki ist es von Vorteil, alles zu verwirren und aus dem 4. Parteitag einen neuen Skandal zu machen, denn an einen eigenen Kongress denken sie nicht einmal. Wir aber sollen alle Anstrengungen und alle Gedanken auf den Zusammenschluss, auf die bessere Organisierung unseres Teiles der Partei richten. Diese Taktik scheint „egoistisch" zu sein, ist jedoch die einzig vernünftige. Wenn wir fest zusammengeschlossen, vollständig organisiert sind, wenn wir alle Miesmacher und Überläufer von uns fernhalten werden, dann wird unser fester Kern, wenn er auch nicht sehr groß ist, den ganzen Haufen der „organisatorischen Nebelhaftigkeit" mit sich reißen. Wenn wir aber keinen Kern haben, so werden die Menschewiki, die desorganisiert sind, auch uns desorganisieren. Wenn wir einen festen Kern haben, werden wir die Vereinigung mit uns bald erzwingen. Wenn wir aber keinen festen Kern haben werden, so wird nicht ein anderer Kern (einen solchen gibt es nicht), sondern werden die Wirrköpfe triumphieren und dann wird es, ich versichere Euch, neue Zänkereien und eine neue unvermeidliche Spaltung und Verbitterung, hundertmal schlimmer als die frühere, geben.

Lasst uns die reale Vereinigung dadurch vorbereiten, dass wir unsere Kraft erhöhen und klare Entwürfe statuarischer und taktischer Normen ausarbeiten. Die Hohlköpfe aber, die über Vereinigung schwätzen, die die Beziehungen zwischen den Teilen der Partei verwirren, sollten nach meinem Dafürhalten schonungslos aus unseren Reihen vertrieben werden.

Mit Händedruck

Euer N. Lenin

1 Ende September 1905 wurde E. D. Stassowa (Delta), Sekretärin des ZK, vom Petersburger Zentralkomitee ins Ausland gesandt. Nach ihrer am 3. Oktober n. St. erfolgten Ankunft in Genf informierte sie Lenin ausführlich über die Lage der Dinge im ZK und in der Partei überhaupt. Unter der Reise, von der in dem Briefe gesprochen wird, ist das vom ZK in Finnland geplante Plenum des Zentralkomitees zu verstehen. Lenin hielt diesen Plan aus konspirativen Gründen nicht für geeignet. In seinem anderen, vom 5. Oktober n. St. datierten Brief an das ZK schreibt er, dass wegen der damals in Finnland auf das Vierfache verstärkten Grenzwachen die Gefahr des Auffliegens des ganzen ZK groß sei und dass in diesem Falle die Menschewiki die Führung in die Hand bekommen würden; er schlug deshalb vor, die Sitzung in Stockholm abzuhalten. Die in dem vorliegenden Briefe erwähnten Woinow (Lunatscharski) und Orlowski (Worowski) waren formell Mitarbeiter, tatsächlich aber Mitredakteure des Zentralorgans. Lunatscharski, der zu dieser Zeit in Italien lebte, bereiste von Zeit zu Zeit die sozialdemokratischen Kolonien der verschiedenen europäischen Städte, wobei er Vorträge über politische, philosophische und Fragen der Kunst hielt. Drei Briefe Worowskis bezeugen, dass Worowski mit einer Reihe von Parteiaufträgen nach Berlin geschickt wurde, u. a. war er beauftragt, mit Kautsky, Bebel und Rosa Luxemburg in russischen Parteiangelegenheiten zu konferieren. Diese Zusammenkunft fand auch statt und wird in den Briefen Worowskis ausführlich beschrieben.

2 Der Entwurf des Vertrages mit M. A. Malych ist erhalten geblieben. Wie weit Malych zu dieser Zeit den Bolschewiki entgegen kam, geht aus den Punkten des Vertrags hervor, in dem sich Malych verpflichtete, die von Lenin und anderen Bolschewiki empfohlenen, redigierten, geschriebenen, zusammengestellten und eingeleiteten Broschüren und Bücher herauszugeben, 50 Prozent des Reinertrages dieser Ausgaben an die Partei abzuliefern und sich als legaler Parteiverlag der ideologischen Kontrolle des ZK zu unterwerfen.

3 Der Aufruf „An alle Parteiorganisationen und an alle sozialdemokratischen Arbeiter" wegen der Einberufung des 4. Parteitages der SDAPR, der den Zusammentritt des Parteitags auf den 10./23. Dezember 1905 festsetzte, wurde in Nr. 9 der „Nowaja Schisn" vom 10./23. November 1905 veröffentlicht. Der Parteitag fand aber nicht statt. An seiner Stelle fand die Konferenz der Bolschewiki in Tammerfors statt.

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