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Wladimir I. Lenin 19050914 Das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Bauernbewegung

Wladimir I. Lenin: Das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Bauernbewegung

[Proletarij", Nr. 16, 1./14. September 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 241-251]

Die ungeheure Bedeutung der Bauernbewegung in der gegenwärtigen demokratischen Revolution in Russland ist in der ganzen sozialdemokratischen Presse schon sehr oft erörtert worden. Der 3. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands hat bekanntlich zu dieser Frage eine besondere Resolution angenommen, um die Tätigkeit der ganzen Partei des klassenbewussten Proletariats gerade in Bezug auf die gegenwärtige Bewegung der Bauernschaft genauer festzulegen und zu vereinheitlichen. Trotzdem diese Resolution vorher vorbereitet war (der erste Entwurf war in Nr. 11 des „Wperjod" vom 10./23. März d. J.1 erschienen) und trotzdem sie vom Parteitag, der bestrebt war, die bereits feststehenden Ansichten der gesamten Sozialdemokratie Russlands zu formulieren, sorgfältig ausgearbeitet worden war – trotz alledem rief die Resolution bei einer Reihe in Russland tätiger Genossen Bedenken hervor. Das Saratower Parteikomitee erklärte diese Resolution einstimmig für unannehmbar (siehe Nr. 10 des „Proletarij"). Leider ist der damals von uns ausgesprochene Wunsch, Erläuterungen zu diesem Verdikt zu bekommen, bisher unerfüllt geblieben. Wir wissen nur, dass das Saratower Komitee auch die Agrarresolution der neu-iskristischen Konferenz für unannehmbar erklärt hat. Das Komitee wurde also weder von dem, was beiden Resolutionen gemeinsam ist, noch von dem, was sie voneinander unterscheidet, befriedigt.

Ein uns zugegangener (als hektographiertes Flugblatt veröffentlichter) Brief eines Moskauer Genossen liefert zu dieser Frage neues Material. Wir bringen diesen Brief ungekürzt zum Abdruck:

Offener Brief an das Zentralkomitee und an die auf dem Lande tätigen Genossen

Genossen! Die Bezirksorganisation des Moskauer Parteikomitees nimmt die Arbeit innerhalb der Bauernschaft unmittelbar in Angriff. Die mangelnde Erfahrung hinsichtlich der Organisierung einer solchen Arbeit, die besonderen Bedingungen unseres zentralrussischen Dorfes, ferner die ungenügend klaren Weisungen der Resolutionen des 3. Parteitages zu dieser Frage und das fast vollständige Fehlen von Material über die Arbeit unter der Bauernschaft sowohl in der periodischen als auch in der Parteiliteratur überhaupt veranlassen uns, uns an das Zentralkomitee mit der Bitte zu wenden, uns eingehende Weisungen sowohl prinzipiellen als auch praktischen Charakters zugehen zu lassen. Euch aber, Genossen, die ihr auf dem Gebiet arbeitet, bitten wir, uns die bei eurer Arbeit gesammelten praktischen Erfahrungen zur Kenntnis zu bringen.

Wir halten es für notwendig, die Bedenken, die uns beim Lesen der Resolution des 3. Parteitages „über das Verhältnis zur Bauernbewegung" aufgestiegen sind, und den Organisationsplan mitzuteilen, den wir bei uns auf dem Dorfe bereits anzuwenden beginnen.

§ a) In den breitesten Schichten des Volkes zu propagieren, dass die Sozialdemokratie sich die tatkräftigste Unterstützung aller revolutionären Maßnahmen der Bauernschaft zur Aufgabe setzt, die geeignet sind, ihre Lage zu verbessern, bis zur Konfiskation der gutsherrlichen, staatlichen, kirchlichen, klösterlichen und Apanagenländereien" (aus der Resolution des 3. Parteitages der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands).

In diesem Paragraphen ist vor allem unklar, auf welche Weise die Parteiorganisationen die Propaganda führen werden und führen müssen. Die Propaganda erfordert vor allem eine Organisation, die zu denen, welche aufgeklärt werden sollen, in naher Beziehung steht. Ob Ausschüsse des Landproletariats diese Organisation sein werden, oder ob noch andere Organisationsmöglichkeiten zur mündlichen sowie schriftlichen Propaganda vorhanden sind, bleibt eine offene Frage.

Dasselbe ist von dem Versprechen einer tatkräftigen Unterstützung zu sagen. Eine Unterstützung, und dazu eine tatkräftige, ist auch nur beim Vorhandensein lokaler Organisationen möglich. Die Frage der „tatkräftigen Unterstützung" scheint uns überhaupt äußerst unklar zu sein. Kann die Sozialdemokratie die Enteignung solcher gutsherrlichen Ländereien unterstützen, bei deren Bebauung die intensivsten Methoden (Maschinen, Anlage höherer Kulturen usw.) zur Anwendung gelängen? Der Übergang solcher Ländereien in den Besitz kleinbürgerlicher Eigentümer – mag deren Lage eine Verbesserung noch so wichtig erscheinen lassen – bedeutet im Sinne der kapitalistischen Entwicklung einer solchen Wirtschaft einen Rückschritt. Und wir als Sozialdemokraten müssten unserer Meinung nach diesem Punkt von der „Unterstützung" den folgenden Vorbehalt hinzufügen: „Wenn die Enteignung dieser Ländereien zugunsten des bäuerlichen (kleinbürgerlichen) Grundbesitzes eine höhere Entwicklungsform der gegebenen Bewirtschaftung der zu enteignenden Ländereien bedeutet."

Ferner:

§ d Darauf bedacht zu sein, das Landproletariat selbständig zu organisieren, es mit dem städtischen Proletariat unter der Fahne der sozialdemokratischen Partei zu verschmelzen und Vertreter des Landproletariats m die Bauernkomitees hinein zu wählen."

Der letzte Teil dieses Paragraphen ruft Zweifel hervor. Die Sache ist die, dass bürgerlich-demokratische Organisationen, wie z.B. der „Bauernverband, und reaktionär-utopistische Organisationen, wie die Sozialrevolutionäre, sowohl bürgerliche als auch proletarische Elemente der Bauernschaft unter ihrer Fahne vereinigen. Wenn wir unsere Vertreter der Organisationen des Landproletariats in solche „Bauern"-Komitees entsenden, werden wir uns selbst, unseren Ansichten über den Block usw., widersprechen.

Auch hier sind, wie uns scheint, Verbesserungen, und zwar recht ernsthafte, vonnöten.

Dies sind einige Bemerkungen zu der Resolution des 3. Parteitages, es wäre wünschenswert, sie möglichst schnell und möglichst eingehend zu untersuchen

Was nun den Plan einer „ländlichen" Organisation innerhalb unserer Bezirksorganisation anbelangt, so sind wir gezwungen, unter Bedingungen zu arbeiten, die von der Resolution des 3. Parteitages mit vollkommenem Stillschweigen übergangen werden. Vor allem muss vermerkt werden, dass der Bezirk unserer Tätigkeit – das Moskauer Gouvernement und die angrenzenden Kreise der benachbarten Gouvernements – vorwiegend industriell ist bei verhältnismäßig schwach entwickelter bäuerlicher Hausindustrie und mit einem sehr geringfügigen Teil der Bevölkerung, der sich ausschließlich mit Landwirtschaft beschäftigt. Riesige Betriebe mit 10.000 bis 15.000 Arbeitern wechseln mit kleinen Fabriken ab, die 500 bis 1000 Arbeiter beschäftigen und über entlegene größere und kleinere Dörfer verstreut sind. Man sollte annehmen, dass unter diesen Umständen die Sozialdemokratie hier ein sehr geeignetes Betätigungsfeld findet, aber die Wirklichkeit hat bewiesen, dass solche Voraussetzungen aus der Vogelperspektive keiner Kritik standhalten. Unser „Proletariat" hat sich in seiner großen Mehrheit bis heute noch nicht vom Grund und Boden losgelöst, obwohl manche Fabriken bereits 40 bis 50 Jahre bestehen. Das „Dorf" haftet so fest an ihm, dass alle jene psychologischen und sonstigen Voraussetzungen, die im Prozess der kollektiven Arbeit im „reinen Proletariat" geschaffen werden, in unserem Proletariat nicht zur Entwicklung gelangen. Die Landwirtschaft unserer „Proletarier" weist gewisse Zwitterformen auf. Ein in der Fabrik beschäftigter Weber stellt einen Knecht zur Bewirtschaftung seiner Zwergparzelle ein. Auf dem gleichen Stückchen Land arbeiten seine Frau (wenn sie nicht in der Fabrik beschäftigt ist), die Kinder, die Alten, die Gebrechlichen, und er selbst wird darauf arbeiten, wenn er alt oder invalid sein, oder wenn man ihn wegen ungestümen oder unzuverlässigen Verhaltens entlassen haben wird. Solche „Proletarier" kann man schwerlich als Proletarier bezeichnen. Ihrer wirtschaftlichen Lage nach sind sie Paupers. Ihrer Ideologie nach – Kleinbürger. Sie sind unwissend und konservativ. Aus ihnen wirbt man die Elemente der „Schwarzen Hunderte". Aber auch ihr Selbstbewusstsein beginnt in der letzten Zeit zu erwachen. Mit Hilfe der Fäden, die sie mit dem „reinen" Proletariat verbinden, wecken wir – nicht ohne Erfolg – diese unwissende Masse aus jahrhundertelangem Schlaf. Die Fäden werden dichter, sie festigen sich stellenweise, diese Paupers geraten unter unseren Einfluss und nehmen sowohl in der Fabrik als auch auf dem Lande unsere Ideologie in sich auf. Und wir glauben, dass die Gründung von Organisationen in nicht „rein" proletarischer Umgebung dem orthodoxen Standpunkt nicht widerspricht. Wir haben keine andere Umgebung, und wenn wir auf dem orthodoxen Standpunkt, nur das ländliche „Proletariat" zu organisieren, bestehen, so werden wir unsere Organisation und die uns benachbarten Organisationen auflösen müssen. Wir wissen, dass es uns schwer sein wird, gegen das Verlangen anzukämpfen, das von den Gutsbesitzern vernachlässigte Ackerland mit allem Zubehör oder jene Ländereien zu enteignen, die von den Klosterbrüdern nicht gehörig bewirtschaftet werden. Wir wissen, dass die bürgerliche Demokratie, von der „demokratisch"-monarchistischen Fraktion (eine solche gibt es im Bezirk Rusa) bis zum „Bauern"-Bund, mit uns um den Einfluss auf die „Paupers" kämpfen wird, aber wir werden diese gegen jene wappnen. Wir werden alle sozialdemokratischen Kräfte im Umkreis, sowohl die der Intellektuellen als auch die der Industrieproletarier, ausnutzen, um unsere sozialdemokratischen Ausschüsse aus den „Paupers" zu bilden und zu festigen. Und wir werden es nach folgendem Plane machen. In jeder Kreisstadt oder in jedem industriellen Zentrum werden wir Kreisausschüsse aus den Gruppen der Bezirksorganisationen errichten. Der Kreisausschuss organisiert außer den Fabriken und Betrieben seines Gebietes auch „Bauern"-Ausschüsse. Solche Ausschüsse dürfen aus konspirativen Gründen nicht viele Mitglieder haben, und ihre Zusammensetzung wird von den am meisten revolutionär gesinnten und fähigsten bäuerlichen Paupers bestimmt. Wo sowohl Fabriken als auch Bauern vorhanden sind, ist es notwendig, sie gemeinsam in einem Untergruppenausschuss zu organisieren.

Vor allem muss ein solcher Ausschuss klar und deutlich in den örtlichen Bedingungen Bescheid wissen; diese sind:

A) Agrarverhältnisse: 1. Bäuerliche Landanteile, Pacht, Formen des Besitzes (Gemeindegut, Hofgut usw.). 2. Ländereien im Umkreis: a) wem sie gehören; b) wie viel Land vorhanden ist; c) wie das Verhältnis der Bauern zu diesen Ländereien ist; d) wie die Bedingungen der Nutznießung an diesen Ländereien sind: 1. Abarbeit, 2. übermäßiger Pachtzins für die „abgetrennten Bodenstücke usw.; e) die Verschuldung beim Kulak, beim Gutsbesitzer usw.

B) Abgaben, Umlagen, Höhe der die Ländereien der Bauern und Gutsbesitzer belastenden Grundsteuer.

C) Saison- und Heimarbeit, Pässe, Winterbeschäftigung u.a.m.

D) Fabriken und Betriebe am Orte: ihre Arbeitsbedingungen: 1. Arbeitslöhne, 2. Arbeitstag, 3. Verhalten der Verwaltung, 4. Wohnungsverhältnisse usw.

E) öffentliche Verwaltung: Bezirkshauptleute, Gemeindeälteste, Schreiber, Amtsrichter, Dorfpolizei, Geistliche.

F) Semstwo: Vertreter der Bauern, die Semstwoangestellten: Lehrer, Ante, Bibliotheken, Schulen, Teehäuser.

G) Bezirkstage: ihre Zusammensetzung und die Führung ihrer Geschäfte.

H) Organisationen: „Bauernbund", Sozialrevolutionäre, Sozialdemokraten.

Nachdem sich der sozialdemokratische Bauernausschuss mit all diesen Angelegenheiten vertraut gemacht hat, ist er verpflichtet, auf den Bezirkstagen die Beschlüsse zur Geltung zu bringen, die sich aus der einen oder der anderen abnormalen Lage der Dinge ergeben. Gleichzeitig leitet ein solcher Ausschuss auch die Propaganda und die Agitation für die Ideen der Sozialdemokratie in der Masse, er veranstaltet Zirkel, fliegende Meetings, Massenversammlungen, verbreitet Proklamationen und Agitationsmaterial, sammelt Geld für die Parteikasse und unterhält durch die Bezirksgruppen Beziehungen zur Kreisorganisation.

Wenn es uns gelingt, eine ganze Reihe solcher Ausschüsse zu errichten, dann wird der Erfolg der Sozialdemokratie gesichert sein.

Ein Bezirksorganisator."

Wir werden selbstverständlich nicht die Aufgabe auf uns nehmen, die ins Einzelne gehenden praktischen Weisungen auszuarbeiten, von denen der Genosse spricht; das ist Sache der in den lokalen Organisationen tätigen Genossen und der praktisch leitenden russischen Zentralinstanz. Wir wollen den inhaltsreichen Brief des Moskauer Genossen dazu benutzen, die Resolution des 3. Parteitages und die dringendsten Aufgaben der Partei überhaupt zu erläutern. Aus dem Brief ist zu ersehen, dass die durch die Resolution des 3. Parteitages hervorgerufenen Bedenken nur zum Teil in theoretischen Zweifeln begründet sind. Ihre zweite Quelle ist die neue, früher nicht aufgeworfene Frage des Verhältnisses zwischen den „revolutionären Bauernausschüssen" und den innerhalb der Bauernschaft wirkenden „sozialdemokratischen Ausschüssen". Schon allein die Tatsache, dass diese Frage aufgeworfen wurde, zeugt von dem bedeutenden Fortschritt der sozialdemokratischen Tätigkeit innerhalb der Bauernschaft. Auf die Tagesordnung gelangen bereits verhältnismäßig detaillierte Fragen; sie wurden von den praktischen Bedürfnissen der „ländlichen" Agitation hervorgerufen, die sich zu kräftigen und feste, beständige Formen anzunehmen begann. Und der Verfasser des Briefes vergisst mehrfach, dass er, wenn er der Resolution des Parteitages Unklarheit vorwirft, eigentlich eine Frage beantwortet haben will, die der Parteitag nicht gestellt hat und nicht stellen konnte.

So ist beispielsweise die Meinung des Verfassers nicht ganz richtig, dass sowohl die Propaganda unserer Ideen als auch die Unterstützung der Bauernbewegung „nur" beim Vorhandensein lokaler Organisationen möglich seien. Gewiss sind solche Organisationen wünschenswert und beim Anwachsen der Tätigkeit notwendig, aber die angeführte Arbeit ist auch dort, wo solche Organisationen fehlen, möglich und notwendig. In unserer ganzen Tätigkeit, sogar nur im Stadtproletariat, dürfen wir die Bauernfrage nicht außer acht lassen und müssen die von der ganzen Partei des klassenbewussten Proletariats durch den 3. Parteitag abgegebene Erklärung verbreiten: Wir unterstützen den Bauernaufstand. Die Bauern müssen das wissen – aus der Literatur, durch die Arbeiter, durch besondere Organisationen usw. Die Bauern müssen wissen, dass das sozialdemokratische Proletariat dabei vor keiner Konfiskation des Bodens (d.h. Enteignung ohne Entschädigung der Eigentümer) haltmachen wird.

Der Verfasser des Briefes wirft hier eine theoretische Frage auf: ob nicht die Enteignung der großen Güter zugunsten des „bäuerlichen, kleinbürgerlichen Eigentums" durch einen besonderen Vorbehalt zu beschränken sei. Aber indem der Verfasser diesen Vorbehalt vorschlug, schränkte er den Sinn der Resolution des 3. Parteitages willkürlich ein. In der Resolution ist mit keinem Wort gesagt, dass sich die sozialdemokratische Partei verpflichte, den Übergang der konfiszierten Ländereien gerade in die Hände kleinbürgerlicher Eigentümer zu unterstützen. Die Resolution sagt: wir unterstützen „bis zur Konfiskation", d.h. bis zur Enteignung ohne Entschädigung, aber die Frage, wem das Enteignete zu übergeben sei, wird von der Resolution gar nicht beantwortet. Es ist kein Zufall, dass diese Frage offen gelassen wurde: aus den Artikeln der Zeitung „Wperjod" (Nr. 11, 12, 15) ist ersichtlich, dass es als unklug anerkannt wurde, diese Frage ein für allemal zu beantworten.

Es wurde dort z.B. darauf hingewiesen, dass die Sozialdemokratie in einer demokratischen Republik in Bezug auf die Nationalisierung des Bodens sich auf nichts festlegen und sich nicht die Hände binden kann.

In der Tat ist für uns, zum Unterschied von den kleinbürgerlichen Sozialrevolutionären, der Schwerpunkt heute die revolutionär-demokratische Seite der Bauernaufstände und die besondere Organisierung des Landproletariats in einer Klassenpartei. Das Wesen der Frage liegt heute nicht in den Projekten der „Schwarzen Umteilung" oder der Nationalisierung, sondern in der Erkenntnis und Verwirklichung der revolutionären Zerstörung der alten Ordnung durch die Bauernschaft. Deshalb drängen die Sozialrevolutionäre auf „Sozialisierung" u.a.m., wir aber auf revolutionäre Bauernausschüsse; ohne diese, sagen wir, sind alle Reformen nichts. Mit ihnen und auf sie gestützt, ist der Sieg des Bauernaufstandes möglich.

Wir müssen dem Bauernaufstand auf jegliche Weise helfen, bis zur Konfiskation der Ländereien – aber durchaus nicht bis zu allerhand kleinbürgerlichen Projekten. Wir unterstützen die Bauernbewegung, soweit sie revolutionär-demokratisch ist. Wir bereiten uns vor (und zwar sofort, unverzüglich), sie zu bekämpfen, sobald sie sich als reaktionär, als antiproletarisch offenbaren wird. Das ganze Wesen des Marxismus liegt in dieser zweifachen Aufgabe, die nur von Leuten, die den Marxismus nicht verstehen, vereinfacht und zu einer einheitlichen und gewöhnlichen Aufgabe verflacht wird.

Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Wir wollen voraussetzen, dass der Bauernaufstand gesiegt hat. Die revolutionären Bauernausschüsse und die provisorische revolutionäre Regierung (die sich zum Teil eben auf diese Ausschüsse stützt) können jede beliebige Konfiskation des Großbesitzes durchführen. Wir treten für die Konfiskation ein, das haben wir bereits erklärt. Wem sollen nach unserem Rat die konfiszierten Ländereien abgegeben werden? In dieser Hinsicht haben wir uns nicht gebunden und werden wir uns nie durch Erklärungen von der Art binden, wie sie der Verfasser des Briefes unvorsichtigerweise vorschlägt. Der Verfasser hat vergessen, dass dieselbe Resolution des 3. Parteitages erstens von der „Reinigung des revolutionär-demokratischen Inhalts der Bauernbewegung von allen reaktionären Beimischungen" und zweitens von der Notwendigkeit einer „selbständigen Organisation des Landproletariats in allen Fällen und unter allen Umständen" spricht. Das sind unsere Weisungen. Die Bauernbewegung wird immer reaktionäre Bestandteile haben, und wir erklären ihnen von vornherein den Krieg. Der Klassenantagonismus zwischen Landproletariat und Bauernbourgeoisie ist unvermeidlich, und wir enthüllen ihn von vornherein, wir erläutern ihn, wir bereiten uns zum Kampfe auf seiner Grundlage vor. Zu einem Anlass dieses Kampfes kann die Frage werden, wem und wie die konfiszierten Ländereien zu übergeben sind. Und wir vertuschen diese Frage nicht, wir versprechen keine ausgleichende Aufteilung, „Sozialisierung" u.a.m., sondern sagen: auf diesem Gebiete werden wir noch kämpfen, von neuem kämpfen, auf neuem Kampfboden und mit anderen Bundesgenossen kämpfen; da werden wir unbedingt mit dem Landproletariat, mit der ganzen Arbeiterklasse gegen die Dorfbourgeoisie stehen. Praktisch kann das sowohl den Übergang des Bodens an die Klasse der kleinen Landwirte bedeuten, und zwar da, wo der knechtende, halb feudale Großgrundbesitz besteht, wo die materiellen Bedingungen der sozialistischen Großproduktion noch fehlen – als auch die Nationalisierung, und zwar unter der Bedingung eines vollen Sieges der demokratischen Revolution – oder auch die Übergabe der großen kapitalistischen Güter an Arbeiterassoziationen; denn wir werden sofort nach der demokratischen Revolution, und zwar in dem Maße unserer Kraft, der Kraft des klassenbewussten und organisierten Proletariats, den Übergang zur sozialistischen Revolution in Angriff nehmen. Wir sind für die permanente Revolution. Wir werden nicht auf halben Wege stehen bleiben. Wenn wir nicht sofort und unvermittelt allerhand „Sozialisierungen" versprechen, so gerade deshalb, weil wir die wirklichen Bedingungen dieser Aufgabe kennen und den im Schoße der Bauernschaft reifenden neuen Klassenkampf nicht vertuschen, sondern aufdecken.

Am Anfang unterstützen wir bis zum Ende, mit allen Mitteln, bis zur Konfiskation, den Bauer überhaupt gegen den Gutsherrn; danach aber (sogar nicht danach, sondern gleichzeitig) unterstützen wir das Proletariat gegen den Bauer überhaupt. Es wäre eine leere Utopie, jetzt schon die Kombination der Kräfte innerhalb der Bauernschaft „am nächsten Tage" nach der (demokratischen) Revolution berechnen zu wollen. Ohne in Abenteurertum zu verfallen, ohne unserem wissenschaftlichen Gewissen untreu zu werden und ohne nach billiger Popularität zu haschen, können und werden wir nur eines sagen: wir werden aus allen Kräften der gesamten Bauernschaft helfen, die demokratische Revolution durchzuführen, damit wir, die Partei des Proletariats, es dann um so leichter haben, möglichst schnell an die neue und höhere Aufgabe, die sozialistische Revolution, heranzugehen. Wir versprechen uns vom Siege des jetzigen Bauernaufstandes keinerlei Harmonie, keinerlei Ausgleich, keinerlei „Sozialisierung", im Gegenteil, wir „versprechen" neuen Kampf, neue Ungleichheit und eine neue Revolution, nach der wir auch streben. Unsere Lehre ist weniger „süß" als die Märchen der Sozialrevolutionäre; wer aber nur mit süßen Tränklein gelabt werden will, der gehe zu den Sozialrevolutionären, wir werden ihm eine gute Reise wünschen.

Dieser marxistische Standpunkt löst nach unserer Meinung auch die Frage der Ausschüsse. Nach unserer Ansicht darf es keine sozialdemokratischen Bauernausschüsse geben: ist der Ausschuss sozialdemokratisch, dann ist er nicht nur bäuerlich, ist er bäuerlich, dann ist er kein rein proletarischer, kein sozialdemokratischer. Wohl viele gibt's, die beides zu verweben sehr gern bereit sind – uns ist's nicht gegeben.2 Wir werden überall, wo dies möglich ist, bestrebt sein, unsere eigenen Ausschüsse, Ausschüsse der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, zu organisieren. Diesen Ausschüssen werden ebenso die Bauern wie die Paupers, sowohl Intellektuelle als auch Prostituierte (vor kurzem fragte uns ein Arbeiter in einem Briefe, warum man nicht bei den Prostituierten agitiere), sowohl Soldaten als auch Lehrer und Arbeiter – mit einem Wort, alle Sozialdemokraten und niemand außer den Sozialdemokraten angehören. Diese Ausschüsse werden die gesamte sozialdemokratische Arbeit in ihrem ganzen Umfang ausführen, wobei sie jedoch bestrebt sein werden, speziell und insbesondere das Landproletariat zu organisieren, denn die Sozialdemokratie ist die Klassenpartei des Proletariats. Es ist der allergrößte Irrtum, die Organisierung jenes Proletariats, das sich noch nicht von allerlei Überbleibseln der Vergangenheit befreit hat, als etwas „Unorthodoxes" anzusehen, und wir möchten gern annehmen, dass die sich darauf beziehenden Stellen des Briefes auf einem einfachen Missverständnis beruhen. Das Stadt- und Industrieproletariat wird unvermeidlich der Hauptkern unserer sozialdemokratischen Arbeiterpartei sein, doch müssen wir, wie auch unser Programm besagt, alle Werktätigen und Ausgebeuteten ohne Ausnahme heranziehen, aufklären und organisieren: die Heimarbeiter, die Paupers, die Bettler, die Dienstboten, die Landstreicher, die Prostituierten – selbstverständlich unter der notwendigen und obligatorischen Bedingung, dass sie sich der Sozialdemokratie anschließen, nicht aber die Sozialdemokratie an sie; dass sie zum Standpunkt des Proletariats übergehen, nicht aber das Proletariat auf ihren Standpunkt.

Was aber haben die revolutionären Bauernausschüsse damit zu tun? – wird der Leser fragen. Bedeutet das, dass sie nicht nötig sind? Doch, sie sind nötig. Unser Ideal ist, überall in den Dörfern rein sozialdemokratische Ausschüsse zu haben, die dann mit allen revolutionär-demokratischen Elementen, Gruppen und Bauernzirkeln ein Übereinkommen über die Gründung revolutionärer Ausschüsse abschließen. Hier haben wir also eine vollständige Analogie zur Selbständigkeit der sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Stadt und ihrem Bündnis mit allen revolutionären Demokraten zum Zwecke des Aufstandes. Wir sind für den Aufstand der Bauernschaft. Wir sind unbedingt gegen die Vermengung und Verschmelzung verschiedenartiger Klassenelemente und verschiedenartiger Parteien. Wir sind dafür, dass die Sozialdemokratie zum Zwecke des Aufstandes die ganze revolutionäre Demokratie ansporne, dass sie der ganzen revolutionären Demokratie helfe, sich zu organisieren, und dass sie, ohne sich mit ihr zu verschmelzen, Schulter an Schulter mit ihr in den Städten auf die Barrikaden und auf dem Lande gegen die Grundherren und die Polizei gehe.

1 Siehe über den 3. Parteitag auch den Art. „Der 3. Parteitag“ sowie „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution“ (Kap. 2, §1) [Fußnote der „Ausgewählten Werke“, Band 3]

2 Lenin variiert hier ein von ihm oft gebrauchtes Zitat aus dem alten klassischen Lustspiel des russischen Dichters A. S. Gribojedow: „Verstand bringt Leiden." Die zitierte Stelle lautet:

Bin ich am Werk, dann meid' ich Lustbarkeit.

Ist es getan, bin ich zu Spaß bereit.

Wohl viele gibt's, die beides zu verweben

die Fertigkeit besitzen; mir ist's nicht gegeben."

[Fußnote der „Ausgewählten Werke“, Band 3:] Zitat aus dem Lustspiel „Verstand bringt Leiden“ von Gribojedow. D. Red.

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