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Wladimir I. Lenin 19050323 Der erste Schritt

Wladimir I. Lenin: Der erste Schritt

[Wperjod" Nr. 11 10./23. März 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 232-237]

Klopfet an, so wird euch aufgetan – sagten wir, als wir in Nummer 91 der „Iskra" den Beschluss des Parteirates vom 10. März 1905 gelesen hatten. Kaum sind die Nachrichten über den Beschluss des Parteirates vom 8. März 1905 und unsere Antwort in Nr. 10 des „Wperjod" nach Russland gelangt, und schon ist eine neue und merkwürdige Schwenkung des Parteirates zu verzeichnen, eine Schwenkung, die wir nur herzlich begrüßen können, wobei wir gern wünschen, dass die Genossen von der neuen „Iskra" in dieser Richtung einen weiteren Schritt tun.

Der Beschluss des Parteirates vom 10. März 1905 ist ein Appell an die Mitglieder des vom russischen Büro einberufenen dritten Parteitages, worin dem Parteitag vorgeschlagen wird, die Vermittlung der deutschen Partei und Bebels zur Wiederherstellung der Parteieinheit anzunehmen, und die Bereitschaft erklärt wird, zwei Vertreter des Parteirates zum Parteitag zu schicken, die über die Durchführung der Idee eines Schiedsgerichts verhandeln sollen.

Bei seinem ersten Schritt „auf dem neuen Weg" konnte der Parteirat selbstverständlich einige seiner alten Kunstgriffe nicht entbehren, er konnte sich nicht verkneifen, die alte Unwahrheit zu wiederholen, deren inneren Widersinn wir bereits in Nr. 10 des „Wperjod" aufgezeigt haben – nämlich, dass der von der Mehrheit der russischen Komitees einberufene Parteitag kein Parteitag sei, dass „eine unbedeutende Gruppe von Parteimitgliedern ihre Beschlüsse der wirklichen Mehrheit der Partei aufzwingen" wolle. Diese Ausflüchte wären erbärmlich, wenn sie nicht lächerlich wären, und noch einmal darauf eingehen möchten wir nicht. Wir möchten dies um so weniger, als sich naturgemäß die ganze Aufmerksamkeit dem neuen Schritt des Parteirates zuwendet, der endlich (endlich!) die Bedeutung des Parteitages für die Beilegung der Parteikrise begriffen hat, endlich den ersten Versuch, zwar einen kleinen, schüchternen, inkonsequenten, aber immerhin doch einen Versuch gemacht hat, die Dinge einfach zu sehen, sie beim richtigen Namen zu nennen und einen Weg auszuprobieren – einen „neuen Weg" der Wiederherstellung der Parteieinheit mit Hilfe unmittelbarer Verhandlungen zwischen den beiden nach dem zweiten Parteitag entstandenen Teilen der Partei.

Glückauf! Das hätte man längst tun sollen – der Partei des Proletariats wären dadurch viele Monate einer qualvollen, sinnlosen, sich hinschleppenden Krise und einer geheimen Spaltung erspart geblieben. Ein etwas ernsterer und aufrichtigerer Wunsch, dem Willen der in Russland tätigen Parteiarbeiter direkt und offen Rechnung zu tragen – und die Sozialdemokratie Russlands wäre aus ihrem zeitweiligen Verfall schon vor einem Jahre herausgekommen. Jawohl, vor einem Jahre, sogar früher als vor einem Jahre.

Es war Ende Januar 1904. Der Parteirat trat zum ersten Mal zusammen, um die neue Lage in der Partei und die Parteikrise zu besprechen; es waren da Plechanow, Axelrod, Martow, Wassiljew und Lenin. Die beiden Letztgenannten, Mitglieder des ZK und Anhänger der Mehrheit, sahen klar, dass die Partei faktisch durch die Minderheit bereits gespalten ist und dass der geheime Charakter dieser Spaltung eine unsägliche Demoralisation in die Partei hinein trägt, sie ganz demoralisiert, indem sie der einen Seite für die zügellosesten Methoden der „Rauferei" die Hände freimacht, die andere Seite aber durch die Verpflichtung zur Innehaltung der gemeinsamen Beschlüsse bindet. Die geheime Parteispaltung verhält sich zur offenen (ihrer moralisch-politischen Bedeutung und ihren moralisch-politischen Wirkungen nach) ungefähr so, wie der geheime Ehebruch zur offenen freien Liebe.

Die erwähnten Mitglieder des Parteirates brachten daher eine Resolution ein (am 28. Januar 1904), die von Schachow im Wortlaut abgedruckt wurde („Der Kampf um den Parteitag", S. 81) und in der die Bolschewiki, trotzdem ihre Gegner in der Redaktion sowohl wie im Parteirat, d. h. in der höchsten Parteikörperschaft, die Oberhand hatten, als erste von der Notwendigkeit des Friedens in der Partei angesichts der äußerst ernsten Aufgaben des historischen Moments zu sprechen beginnen. Die Bolschewiki machen dort einen scharfen Unterschied zwischen dem notwendigen und unvermeidlichen ideologischen Kampf und der „unwürdigen Rauferei", der Desorganisation, den Streitereien um den Vorrang, dem Boykott und dergleichen. Die Bolschewiki forderten den Parteirat auf, alle Parteimitglieder aufzurufen, „schnellstens allen gegenseitigen kleinlichen Streit fallen zu lassen und ein für allemal den ideologischen Kampf in einen solchen Rahmen zu stellen, dass er nicht zu Verletzungen des Statuts führe und die praktische Tätigkeit sowie die positive Arbeit nicht hemme." Es gibt bei uns so viele vergessliche Parteimitglieder, die mit Vorliebe über die Selbsttätigkeit der Partei reden, aber müßige Klatschereien einem Studium der Dokumente der Parteispaltung vorziehen, dass wir allen Genossen, die sich in den Parteiangelegenheiten auskennen möchten, dringend empfehlen, sich die S. 81 der Broschüre „Der Kampf um den Parteitag" anzusehen.

Die Menschewiki haben natürlich die Resolution von Lenin und Wassiljew abgelehnt und sie (Plechanow, Martow und Axelrod) haben eine Resolution angenommen, die das ZK auffordert, die Menschewiki zu „kooptieren". Da das ZK am 26. November 1903 sich bereit erklärte, zwei Menschewiki nach seinem, des ZK, eigenen Ermessen zu kooptieren, so bedeutete diese Resolution des Parteirates nichts anderes, als dass dem ZK drei bestimmte Personen aufgezwungen werden sollen. Jetzt ist bereits die gesamte Partei dokumentarisch darüber unterrichtet (aus der „Erklärung" Lenins), dass gerade wegen der „Drei" prinzipielle Meinungsverschiedenheiten erfunden wurden und eine „unwürdige Rauferei" bis November 1904 geführt wurde. Als Antwort auf die Resolution über die Kooptation gaben Lenin und Wassiljew eine Sondererklärung ab (Schachow, S. 84), die wir, den Uninformierten oder Vergesslichen zur Belehrung, ebenfalls durchzulesen empfehlen, und in der erklärt wird, dass „ein anderes Mittel, einen ehrlichen und richtigen Ausweg aus den gegenwärtigen Parteizwistigkeiten zu finden, ein anderes Mittel, diesen unzulässigen Kampf wegen der Zusammensetzung der Zentralinstanzen zu beenden, als die sofortige Einberufung eines Parteitages", diese Mitglieder des ZK „absolut nicht sehen".

Die Menschewiki hintertreiben selbstverständlich den Parteitag. Alle Ermahnungen, dass auf dem Parteitag jeder Kompromiss zulässig sei, dass sonst der Kampf ebensolche widerliche Formen annehme, wie die heimliche und käufliche Liebe, blieben auf sie ohne Wirkung. Nebenbei bemerkt, wenn von Seiten der Menschewiki, nachdem sie einmal beschlossen hatten, sich wegen der käuflichen Liebe" keinen Zwang anzutun, diese Taktik natürlich und verständlich ist, so war sie von Seiten des Versöhnlers Plechanow ein ungeheurer Fehler, dessen Handgreiflichkeit der weitere Verlauf der Krise gezeigt hat. Jetzt sieht jedermann, jetzt weiß man aus den Tatsachen (nämlich aus den Tatsachen des späteren Verhaltens von Glebow und Konsorten), dass, wenn Plechanow im Januar 1904 für den Parteitag gestimmt hätte, der Parteitag sehr schnell einberufen worden wäre und auf dem Parteitage sich eine so eindrucksvolle versöhnlerische Partei gebildet hätte, die in keinem Falle der Mehrheit oder der Minderheit allein das Übergewicht gebracht hätte. Wir wiederholen: das ist keine leere Vermutung, sondern eine Erwägung, die durch den tatsächlichen Verlauf der späteren Ereignisse absolut bewiesen ist. Aber auch Plechanow zog die „käufliche Liebe", d. h. die geheime Spaltung, dem Versuch, sich direkt und offen auseinanderzusetzen und bis zum letzten auszusprechen, vor.

Und was sehen wir nun jetzt? Die Menschewiki sind gezwungen, wenn auch schüchtern, inkonsequent, wenn auch spät, den von den Bolschewiki vorgeschlagenen Ausweg zu beschreiten. Die Bolschewiki beharrten auf ihrem Standpunkt und erreichten die Einberufung des Parteitages, indem sie mit Recht sagten: wenn den beiden „Ehehälften" nicht mehr beschieden ist, „zusammenzuleben", so muss man offen auseinandergehen.

Gewiss, besser spät als niemals, und selbst den schüchternen Schritt des Parteirates, die Bereitschaft, zwei seiner „Vertreter" zu entsenden, begrüßen wir von Herzen. Aber wir protestieren unbedingt gegen die Schüchternheit und die Inkonsequenz dieses Schrittes. Warum, Herrschaften, wollt ihr nur zwei Vertreter des ausländischen Rates zum Parteitag schicken? Warum nicht die Vertreter aller Parteiorganisationen? Haben doch die Mitglieder des russischen Büros der Komitees der Mehrheit alle zum Parteitag eingeladen und im Besonderen haben sie Einschreibebriefe an die Redaktion und an den Parteirat und an die Liga gesandt! Warum dieser seltsame und unerklärliche Widerspruch: auf der einen Seite habt ihr um eines heuchlerischen Friedens willen mit den drei Helden vom ZK (ausdrücklich gegen den Willen der Komitees der Mehrheit) euch nicht auf die Entsendung von „zwei Vertretern" des Parteirates beschränkt, sondern habt sämtliche Komitees und Organisationen der Minderheit befragt, wie das in Nummer 83 der „Iskra" offen erklärt wurde1. Auf der andern Seite aber entsendet ihr um des wirklichen Friedens mit der gesamten Partei willen zu „unmittelbaren Verhandlungen" nur zwei Vertreter des ausländischen Parteirates allein. Wo bleiben die russischen Menschewiki, mit denen eine Verständigung für uns hundertmal wichtiger ist als mit einer Gesellschaft von Literaten? Wo bleiben die Arbeiter, die Mitglieder und Vertreter der Organisationen, jene Arbeiter, die ihr gegen den zweiten Parteitag gehetzt und von deren Selbsttätigkeit ihr so viel geschrieben habt?? Wo bleiben die Genossen Akimow und Brucker, Machow und Jegorow (oder ihre Freunde und Gesinnungsgenossen), die von ihrem Standpunkt aus ganz konsequent die Menschewiki unterstützt haben, ohne sich jedoch zu kompromittieren, d. h. ohne sich an den Intrigen wegen der Kooptation zu beteiligen? Wo bleiben der Genosse Kritschewski und die anderen ehemaligen „Ökonomisten, mit denen ihr euch ausgesöhnt haben wollt, wie Plechanow in der neuen „Iskra" versichert hat, und viele andere? Wo bleibt Genosse Rjasanow, mit dem eure Solidarität in vielem uns ebenfalls verständlich ist, der es jedoch abgelehnt hat, der Liga als einer menschewistischen Organisation beizutreten?

Oder werdet ihr sagen, alle diese Genossen hätten keine Mandate? Aber ihr schreibt ja einen Brief an den Parteitag „unter Вeiseitesсhiebung aller formalen Erwägungen"!!

Nein, Herrschaften, wir lassen uns nicht mit halben Maßnahmen abfinden und mit schönen Worten abspeisen. Wenn ihr wirklich – wir sagen es rund heraus und ohne „formale Erwägungen" – gemeinsam mit uns, in den Reihen einer Organisation, arbeiten wollt, dann kommt alle zum Parteitag und ruft auch alle Genossen, von denen uns lediglich ideologische und keine Kooptationserwägungen trennen. Dann solltet ihr Rechnung tragen dem „guten Willen des Revolutionärs", auf den ihr euch so ungeschickt, vor dem Parteitag kneifend, berufen habt, und der einzig und allein vollständig und unbedingt über das Schicksal der ganzen Partei, die durch den Parteitag vertreten ist, entscheiden kann. Dann sucht nach Vermittlern, die fähig sind, diesen „guten Willen" aller Parteitagsmitglieder zu beeinflussen. Wir würden jeden solchen Vermittler aufrichtig begrüßen.

Klopft an, so wird euch aufgetan … Die Bolschewiki haben durch ihren offenen Kampf erreicht, dass wir jetzt hart an einen möglichen direkten, unzweideutigen Ausweg aus der Krise angelangt sind. Wir haben den Parteitag durchgesetzt. Wir haben erreicht eine Abkehr der Menschewiki von dem Feldwebelton des ohne Partei gebliebenen Parteirates zum direkten und offenen Vorschlag unmittelbarer Verhandlungen. Ob beim Parteirat der Verstand und die Ehrlichkeit, einen zweiten Schritt auf dem „neuen Weg" zu tun, ausreichen wird oder nicht – wir sind überzeugt, dass wir jedenfalls den völligen Sieg des Parteiwesens über das Zirkelwesen durchsetzen werden.

1 In Nr. 83 der „Iskra" vom 7./20. Januar 1905 war eine Erklärung abgedruckt, in der es hieß: „Auf einer Konferenz des Zentralkomitees mit Vertretern der Minderheit haben letztere … erklärt, dass sie jetzt die vollkommene Einstellung der organisatorischen Absonderung für möglich hielten. Der Beschluss der Bevollmächtigten wurde allen Anhängern der Minderheit, die in den Komitees von Kiew, Charkow, Don, Kuban, Petersburg, Odessa, in den Verbänden des Donezbeckens und der Krim und in anderen Parteiorganisationen tätig sind, zur Besprechung vorgelegt".

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