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Wladimir I. Lenin 19050412 Die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft

Wladimir I. Lenin: Die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft

[Wperjod" Nr. 14. 30. März/12. April 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 270-280]

Die Frage der Beteiligung der Sozialdemokratie an der provisorischen revolutionären Regierung ist aktuell geworden, nicht so sehr durch den Gang der Ereignisse, als vielmehr durch theoretische Betrachtungen von Sozialdemokraten einer gewissen Richtung. In zwei Feuilletons (in Nr. 13 u. 14) haben wir die Ausführungen Martynows, der diese Frage als erster aufgerollt hat, untersucht. Es hat sich jedoch gezeigt, dass das Interesse für diese Frage so groß und die durch diese Ausführungen (siehe insbesondere die Nr. 93 der „Iskra") hervorgerufenen Missverständnisse so gewaltig sind, dass es geboten erscheint, noch einmal bei dieser Frage zu verweilen. Wie die Sozialdemokraten die Wahrscheinlichkeit, dass wir in naher Zukunft diese Frage nicht nur theoretisch werden entscheiden müssen, auch beurteilen mögen, auf jeden Fall ist Klarheit über die nächsten Ziele eine Notwendigkeit für die Partei. Ohne eine klare Antwort auf diese Frage ist schon jetzt eine konsequente, von Schwankungen oder Unklarheiten freie Propaganda und Agitation unmöglich.

Versuchen wir, das Wesen der Streitfrage zu rekonstruieren. Wenn wir nicht nur Zugeständnisse seitens des Absolutismus, sondern seinen wirklichen Sturz wollen, so müssen wir die Ersetzung der Zarenregierung durch eine provisorische revolutionäre Regierung anstreben, die einerseits auf Grund eines wirklich allgemeinen, direkten und gleichen Wahlrechts mit geheimer Stimmabgabe eine konstituierende Versammlung einberufen würde und die anderseits imstande wäre, vollständige Freiheit für die Zeit der Wahlen tatsächlich zu sichern. Und nun fragt es sich, ist es für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei statthaft, sich an einer solchen provisorischen revolutionären Regierung zu beteiligen? Diese Frage ist zum ersten Mal von den Vertretern des opportunistischen Flügels unserer Partei, namentlich von Martynow, noch vor dem 9. Januar aufgeworfen worden, wobei er und mit ihm auch die »Iskra" diese Frage negativ entschieden hat. Martynow suchte die Auffassungen (der revolutionären Sozialdemokraten ad absurdum zu führen, indem er sie damit schreckte, dass wir, falls die Organisierung der Revolution Erfolg haben und unsere Partei die Führung des bewaffneten Volksaufstandes übernehmen sollte, genötigt sein würden, uns an der provisorischen revolutionären Regierung zu beteiligen. Eine solche Beteiligung aber sei eine unzulässige „Machtergreifung", ein für eine sozialdemokratische Klassenpartei unstatthafter „vulgärer Jaurèsismus"1.

Verweilen wir bei den Betrachtungen der Anhänger dieser Auffassung. Wenn wir in der provisorischen Regierung sind, sagt man uns, werde die Sozialdemokratie die Macht in Händen halten; die Sozialdemokratie als Partei des Proletariats könne aber die Macht nicht in Händen halten, ohne den Versuch zu machen, unser Maximalprogramm zu verwirklichen, d. h. ohne zu versuchen, die sozialistische Umwälzung durchzuführen. Bei einem solchen Unterfangen aber würde sie heute unvermeidlich eine Niederlage erleiden und sich nur blamieren, nur der Reaktion in die Hände spielen. Darum sei die Teilnahme der Sozialdemokratie an der provisorischen revolutionären Regierung unzulässig.

Diese Überlegung beruht auf einer Verwechslung des demokratischen und des sozialistischen Umsturzes – des Kampfes für die Republik (unser ganzes Minimalprogramm mit einbegriffen) und des Kampfes für den Sozialismus. Wollte die Sozialdemokratie sich den sofortigen sozialistischen Umsturz zum Ziele setzen, so würde sie sich in der Tat nur blamieren. Gerade gegen solche verworrenen und unklaren Ideen unserer „Sozialrevolutionäre" hat jedoch die Sozialdemokratie stets gekämpft. Gerade deshalb betonte sie stets den bürgerlichen Charakter der Russland bevorstehenden Revolution, gerade deshalb forderte sie die strenge Trennung des demokratischen Minimalprogramms vom sozialistischen Maximalprogramm. Einzelne Sozialdemokraten, die dazu neigen, vor der Spontaneität zu kapitulieren, mögen all das während des Umsturzes vergessen, nicht aber die Partei als Ganzes. Die Anhänger dieser irrigen Meinung verfallen in eine Anbetung der Spontaneität, wenn sie glauben, der Gang der Dinge werde in einer solchen Lage die Sozialdemokratie zwingen, gegen ihren Willen an die Durchführung des sozialistischen Umsturzes zu gehen. Wäre dem so, dann wäre also unser Programm falsch, dann würde es dem „Gang der Dinge" nicht entsprechen: gerade das befürchten die Anbeter der Spontaneität, sie hegen Befürchtungen in Bezug auf die Richtigkeit unseres Programms. Aber ihre Furcht (deren psychologische Erklärung wir in unseren Feuilletons aufzuzeigen versuchten) ist im höchsten Grade unbegründet. Unser Programm ist richtig. Gerade der Gang der Dinge wird es unbedingt bestätigen, und je weiter, je mehr. Gerade der Gang der Dinge wird uns die unbedingte Notwendigkeit eines verzweifelten Kampfes um die Republik „aufdrängen", gerade er wird praktisch unsere Kräfte, die Kräfte des politisch aktiven Proletariats, in diese Richtung lenken. Gerade der Gang der Dinge wird uns unvermeidlich beim demokratischen Umsturz eine solche Menge von Bundesgenossen aus dem Kleinbürgertum und der Bauernschaft aufdrängen, deren reale Bedürfnisse gerade die Durchführung des Minimalprogramms erfordern werden, dass die Befürchtungen eines allzu raschen Überganges zum Maximalprogramm geradezu lächerlich sind.

Aber anderseits rufen eben diese Bundesgenossen aus der kleinbürgerlichen Demokratie neue Befürchtungen unter den Sozialdemokraten einer gewissen Richtung hervor, und zwar Befürchtungen wegen des „vulgären Jaurèsismus". Die Beteiligung an einer Regierung zusammen mit der bürgerlichen Demokratie sei durch die Resolution des Amsterdamer Kongresses verboten, das sei Jaurèsismus, d. h. unbewusster Verrat der Interessen des Proletariats, Verwandlung des Proletariats in ein Anhängsel der Bourgeoisie, seine Korrumpierung durch den Schein der Macht, die in Wirklichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft unerreichbar ist.

Diese Überlegung ist nicht minder irrig. Sie zeigt, dass ihre Urheber zwar gute Resolutionen auswendig gelernt, deren Bedeutung aber nicht begriffen haben; sie haben sich einige anti-jaurèsistische Schlagwörter eingepaukt, ohne sie durchdacht zu haben, und wenden sie daher ganz am unrechten Platze an; – sie haben sich den Buchstaben, aber nicht den Geist der letzten Lehren der internationalen revolutionären Sozialdemokratie angeeignet. Wer den Jaurèsismus vom dialektisch-materialistischen Standpunkt aus würdigen will, der muss die subjektiven Motive und die objektiven historischen Bedingungen streng auseinanderhalten. Subjektiv wollte Jaurès die Republik retten und schloss zu diesem Zweck ein Bündnis mit der bürgerlichen Demokratie. Die objektiven Bedingungen dieses „Experiments" bestanden darin, dass die Republik in Frankreich bereits Tatsache war und ihr keine ernste Gefahr mehr drohte; – dass die Arbeiterklasse die volle Möglichkeit für die Entwicklung einer selbständigen politischen Klassenorganisation hatte und diese Möglichkeit nicht genügend ausnützte, zum Teil gerade unter dem Einfluss der vielen parlamentarischen Spiegelfechtereien ihrer Führer; – dass in Wirklichkeit die Arbeiterklasse von der Geschichte objektiv bereits vor die Aufgabe des sozialistischen Umsturzes gestellt war, von der die Millerands das Proletariat durch das Versprechen winziger sozialer Reformen fort zu locken suchten.

Nehmen wir nun Russland. Subjektiv wollen solche revolutionären Sozialdemokraten, wie die Wperjodisten oder Parvus, die Republik durchsetzen und zu diesem Zwecke ein Bündnis mit der revolutionären bürgerlichen Demokratie schließen. Die objektiven Bedingungen sind von denen Frankreichs himmelweit verschieden. Objektiv hat jetzt der historische Gang der Dinge das russische Proletariat gerade vor die Aufgabe des demokratischen bürgerlichen Umsturzes gestellt (dessen Gesamtinhalt wir der Kürze halber mit dem Wort Republik bezeichnen); vor derselben Aufgabe steht das ganze Volk, d. h. die ganze Masse des Kleinbürgertums und der Bauernschaft; ohne diesen Umsturz ist eine halbwegs großzügige Entwicklung einer selbständigen Klassenorganisation für den sozialistischen Umsturz undenkbar.

Man stelle sich konkret den ganzen Unterschied der objektiven Bedingungen vor und sage dann: was soll man von Leuten halten, die diesen Unterschied vergessen und sich durch die Übereinstimmung einiger Worte, durch die Ähnlichkeit einiger Buchstaben, durch die Gleichheit der subjektiven Motivierung hinreißen lassen?

Weil Jaurès in Frankreich die bürgerliche Sozialreform anbetete und sich zu Unrecht mit dem subjektiven Ziel des Kampfes für die Republik drapierte, darum sollen wir russische Sozialdemokraten auf einen ernsten Kampf für die Republik verzichten! Darauf läuft ja die Weisheit der Anhänger der neuen „Iskra" hinaus.

In der Tat, ist es denn nicht klar, dass der Kampf um die Republik für das Proletariat undenkbar ist ohne ein Bündnis zwischen ihm und der kleinbürgerlichen Volksmasse? Ist es denn nicht klar, dass ohne die revolutionäre Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft nicht die leiseste Hoffnung auf einen Erfolg dieses Kampfes besteht? Einer der Hauptmängel dieser Auffassung besteht in ihrer Starrheit, ihrer Schablonenhaftigkeit, darin, dass die Bedingungen der revolutionären Zeit außer acht gelassen werden. Für die Republik kämpfen und gleichzeitig auf die revolutionäre demokratische Diktatur verzichten, ist dasselbe, als wenn Oyama beschlossen hätte, bei Mukden gegen Kuropatkin zu kämpfen, dabei aber von vornherein auf den Gedanken verzichtet hätte, selber in Mukden einzuziehen. Denn wenn wir, das revolutionäre Volk, d. h. das Proletariat und die Bauernschaft, den Absolutismus „vereint schlagen" wollen, so müssen wir ihn auch vereint erschlagen, ihn vereint totschlagen, vereint die unausbleiblichen Versuche seiner Restauration zurückschlagen! (Um mögliche Missverständnisse zu vermeiden, betonen wir nochmals, dass wir unter Republik nicht nur, und sogar nicht so sehr die Regierungsform verstehen, als vielmehr die Gesamtheit der demokratischen Reformen unseres Minimalprogramms.) Man muss eine wahrhaft schülerhafte Auffassung von der Geschichte haben, sich die Sache ohne „Sprünge" vorzustellen, als eine langsam oder gleichmäßig aufsteigende gerade Linie: zunächst sei die liberale Großbourgeoisie an der Reihe – Konzessiönchen des Absolutismus, dann das revolutionäre Kleinbürgertum – demokratische Republik, schließlich das Proletariat – sozialistische Umwälzung. Dieses Bild ist richtig im Großen und Ganzen, ist richtig à la longue, wie die Franzosen zu sagen pflegen, etwa für ein ganzes Jahrhundert (z. B. für Frankreich von 1789 bis 1905), um aber nach diesem Bilde einen eigenen Tätigkeitsplan in einer revolutionären Epoche aufzustellen – dazu muss man ein Virtuose des Philistertums sein. Wenn es dem russischen Absolutismus nicht gelingt, sich auch jetzt herauszuwinden und mit einer kümmerlichen Verfassung davonzukommen, wenn er nicht nur erschüttert, sondern tatsächlich gestürzt wird, so wird offenbar eine ungeheure Anspannung der revolutionären Energie aller fortschrittlichen Klassen erforderlich sein, um diese Errungenschaft zu behaupten. Dieses „Behaupten" ist eben nichts anderes als die revolutionäre Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft! Je mehr wir jetzt erkämpfen, je energischer wir das Erkämpfte verteidigen, um so weniger wird später die unausbleibliche künftige Reaktion zurückerobern können, um so kürzer werden diese Intervalle der Reaktion, um so leichter wird die Aufgabe der uns nachfolgenden proletarischen Kämpfer sein.

Und da kommen Leute, die im Voraus, noch vor dem Kampf, ein bescheidenes Stückchen der künftigen Errungenschaften mit der Elle „nach Ilowaiski" genau abmessen möchten – die vor dem Sturz des Absolutismus, ja sogar noch vor dem 9. Januar die Arbeiterklasse Russlands mit dem Popanz der schrecklichen revolutionären demokratischen Diktatur ins Bockshorn jagen wollten! Und diese Ritter der Elle erheben Anspruch auf den Namen revolutionärer Sozialdemokraten …

Gemeinsam mit der bürgerlichen revolutionären Demokratie an der provisorischen Regierung teilnehmen – jammern sie –, das heißt doch, die bürgerliche Gesellschaftsordnung sanktionieren, die Aufrechterhaltung der Gefängnisse und der Polizei, der Arbeitslosigkeit und des Elends, des Eigentums und der Prostitution. Es ist dies ein Argument, würdig entweder der Anarchisten oder der Narodniki. Die Sozialdemokratie wendet sich nicht von dem Kampfe um die politische Freiheit ab, weil das eine bürgerliche politische Freiheit ist. Die Sozialdemokratie betrachtet die „Sanktionierung" der bürgerlichen Gesellschaftsordnung vom geschichtlichen Standpunkt. Als man Feuerbach fragte, ob er den Materialismus Büchners, Vogts und Moleschotts sanktioniere, antwortete er: Rückwärts stimme ich den Materialisten vollkommen bei, aber nicht vorwärts. Genau so sanktioniert auch die Sozialdemokratie die bürgerliche Ordnung. Sie hat sich nie gescheut, und wird sich nie scheuen, auszusprechen, dass sie die republikanisch-demokratische bürgerliche Ordnung im Vergleich zum absolutistisch-feudalen bürgerlichen Regime sanktioniert. Aber sie „sanktioniert" die bürgerliche Republik lediglich als letzte Form der Klassenherrschaft, als die geeignetste Arena für den Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie, sie sanktioniert sie nicht wegen ihrer Gefängnisse und ihrer Polizei, ihres Eigentums und ihrer Prostitution, sondern zum Zweck eines umfassenden freien Kampfes gegen diese netten Einrichtungen.

Natürlich sind wir weit davon entfernt, zu behaupten, unsere Beteiligung an der revolutionären provisorischen Regierung bringe keinerlei Gefahren für die Sozialdemokratie mit sich. Es gibt keine Form des Kampfes, keine politische Lage und kann keine geben, die nicht Gefahren mit sich brächte. Fehlt der revolutionäre Klasseninstinkt, fehlt eine geschlossene, auf der Höhe der Wissenschaft stehende Weltanschauung, fehlt (die Genossen von der neuen „Iskra" mögen es mir nicht übelnehmen) Grütze im Kopf, dann ist auch die Teilnahme an Streiks gefährlich – sie kann zum Ökonomismus führen –, auch die Teilnahme am parlamentarischen Kampf – sie kann mit parlamentarischem Kretinismus enden –, auch die Unterstützung der liberalen Semstwodemokratie – sie kann zum „Plan der Semstwokampagne" führen. Dann ist es sogar gefährlich, die höchst nützlichen Werke von Jaurès und Aulard über die Geschichte der französischen Revolution zu lesen – das kann zu Martynows Broschüre über zwei Diktaturen führen.

Selbstverständlich, wenn die Sozialdemokratie auch nur einen Augenblick lang die Sonderstellung des Proletariats als Klasse dem Kleinbürgertum gegenüber vergäße, wenn sie zu unrechter Zeit ein für uns ungünstiges Bündnis mit der einen oder anderen kein Vertrauen verdienenden intelligenzlerischen, kleinbürgerlichen Partei schließen wollte, wenn die Sozialdemokratie auch nur für einen Augenblick ihre selbständigen Ziele sowie die Notwendigkeit (in allen politischen Situationen und bei allen politischen Konjunkturen, bei allen politischen Wendepunkten und Umwälzungen) außer Acht ließe, die Entwicklung des Klassenbewusstseins des Proletariats und seiner selbständigen politischen Organisation in den Vordergrund zu stellen, dann wäre die Beteiligung an der provisorischen revolutionären Regierung äußerst gefährlich. Aber unter dieser Voraussetzung, wir wiederholen es, ist jeder sonstige politische Schritt genau so gefährlich. Wie unbegründet eine Verknüpfung dieser möglichen Gefahren mit der jetzigen Behandlung der nächsten Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie ist, das wird jedem die einfachste Untersuchung zeigen. Wir wollen nicht von uns sprechen, wir wollen nicht die zahlreichen Erklärungen, Warnungen, Hinweise in der Zeitung Wperjod" über die in Rede stehende Frage wiedergeben – wir verweisen auf Parvus. Indem er sich für die Teilnahme der Sozialdemokratie an der provisorischen revolutionären Regierung ausspricht, betont er mit aller Energie die Bedingungen, die wir niemals vergessen dürfen: vereint schlagen, getrennt marschieren, die Organisationen nicht vermengen, den Bundesgenossen, wie den Feind beobachten usw. Wir wollen auf diese in dem Feuilleton bereits hervorgehobene Seite der Sache nicht näher eingehen.

Nein! Die wirkliche politische Gefahr für die Sozialdemokratie liegt jetzt durchaus nicht dort, wo die Anhänger der neuen Iskra" sie suchen. Nicht der Gedanke der revolutionären demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft darf uns schrecken, sondern jener Geist des Chwostismus und der Starrheit, der auf die Partei des Proletariats zersetzend wirkt und in allen möglichen Theorien über die Organisation als Prozess, die Bewaffnung als Prozess usw. zum Ausdruck kommt. Nehmen wir z. B. den neuesten Versuch der „Iskra", einen Unterschied zu machen zwischen der provisorischen revolutionären Regierung und der revolutionären demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft. Ist das nicht ein Musterbeispiel starrer Scholastik? Leute, die solche Unterschiede erfinden, sind zwar fähig, schöne Worte aneinanderzureihen, aber vollkommen unfähig, zu denken. Das Verhältnis zwischen den genannten Begriffen ist in Wirklichkeit ungefähr dasselbe, wie das Verhältnis zwischen der juristischen Form und dem Klasseninhalt. Wer „provisorische revolutionäre Regierung" sagt, der betont die staatsrechtliche Seite der Sache, die Entstehung der Regierung nicht aus dem Gesetz, sondern aus der Revolution, den provisorischen Charakter der Regierung, die an die zukünftige konstituierende Versammlung gebunden ist. Aber mag die Form, die Entstehung, mögen die Bedingungen sein wie sie wollen, es ist jedenfalls klar, dass die provisorische revolutionäre Regierung nicht umhin kann, sich auf bestimmte Klassen zu stützen. Es genügt, sich dieser Binsenwahrheit zu erinnern, um einzusehen, dass die provisorische revolutionäre Regierung nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft. Folglich zerrt der Unterschied, den die „Iskra" macht, die Partei zurück, zurück zu unfruchtbaren Wortgefechten, lenkt sie ab von der Aufgabe der konkreten Analyse der Klasseninteressen in der russischen Revolution.

Oder nehmen wir eine andere Auslassung der „Iskra". Über den Ausruf: Es lebe die revolutionäre provisorische Regierung! bemerkt sie belehrend: „Die Verbindung der Worte ,es lebe' und ,Regierung' befleckt die Lippen". Ist es nicht ein hohles Phrasengeklingel? Da reden sie vom Sturz des Absolutismus und haben Angst, sich durch ein Hoch auf die revolutionäre Regierung zu besudeln! Man muss sich wahrhaftig wundern, dass sie keine Angst haben vor einer Besudelung durch ein Hoch auf die Republik: setzt doch die Republik notwendig eine Regierung voraus, und kein Sozialdemokrat hat je daran gezweifelt, dass diese Regierung eben eine bürgerliche sein wird. Welcher Unterschied besteht denn zwischen einem Hoch auf die provisorische revolutionäre Regierung und einem Hoch auf die demokratische Republik? Muss denn die Sozialdemokratie, die politische Führerin der revolutionärsten Klasse, einer blutarmen hysterischen alten Jungfer gleichen, die geziert auf einem Feigenblatt besteht: das, was die Voraussetzung einer bürgerlich-demokratischen Regierung ist, darf man hochleben lassen, aber die provisorische revolutionär-demokratische Regierung direkt darf man nicht hochleben lassen?

Ein Bild: der Arbeiteraufstand in Petersburg hat gesiegt. Der Absolutismus ist gestürzt. Die provisorische revolutionäre Regierung ist proklamiert. Die bewaffneten Arbeiter jubeln bei dem Ruf: Es lebe die provisorische revolutionäre Regierung! Abseits stehen die Anhänger der neuen „Iskra" und, ihre keuschen Blicke gen Himmel richtend, sich an ihre moralisch feinfühligen Herzen schlagend, sprechen sie: Herrgott, sei gedankt, dass wir nicht sind, wie diese Zöllner, dass wir unsere Lippen nicht durch solche Wortverbindungen befleckt haben …

Nein und tausendmal nein, Genossen! Keine Angst, dass die energischste, vor nichts haltmachende Beteiligung an der republikanischen Umwälzung zusammen mit der revolutionären bürgerlichen Demokratie euch beflecken könnte. Übertreibt nicht die Gefahren dieser Beteiligung, mit denen unser organisiertes Proletariat sehr wohl fertig werden kann. Monate der revolutionären Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft werden mehr schaffen als Jahrzehnte der friedlichen, abstumpfenden Atmosphäre der politischen Stagnation. Wenn die russische Arbeiterklasse es nach dem 9. Januar verstanden hat, unter den Bedingungen der politischen Sklaverei mehr als eine Million Proletarier zu einer kollektiven, standhaften und konsequenten Aktion zu mobilisieren, so werden wir unter den Bedingungen einer revolutionär-demokratischen Diktatur Dutzende von Millionen der städtischen und ländlichen Armut mobilisieren, werden wir die russische politische Revolution zum Vorspiel der europäischen sozialistischen Umwälzung machen.

1 Die Worte „vulgärer Jaurèsismus" gebrauchte Martow in seinem Artikel in Nr. 93 der „Iskra". Es heißt da: „Die Aufgabe der ,Machteroberung' ist nur in zwei Formen denkbar: entweder das Proletariat bemächtigt sich des Staates als Klasse (,Arbeiterregierung'), dann tut es das Proletariat im Resultat des Kampfes gegen die gesamte bürgerliche Gesellschaft als Ganzes und führt seinen souveränen Willen durch gegen diese Gesellschaft mit dem unmittelbaren Ziel seiner Emanzipation. Aber dann ist es faktisch bereits an den Grenzen der ,bürgerlichen Revolution' angelangt. In diesem Falle war unsere – der russischen Sozialdemokraten – ganze Analyse der historischen Lage des russischen Proletariats und seiner Aufgaben unrichtig, und wir müssten unverzüglich unser Programm radikal revidieren. Oder aber es handelt sich um die Beteiligung der Sozialdemokratie – natürlich zum Wohle der Revolution – an der revolutionär-demokratischen Regierung, und dann könnte es uns nicht schaden, jetzt schon mit den Vertretern jener sozialen Kraft einen politischen ,Block' zu schließen, mit der zusammen wir die ,Diktatur' verwirklichen werden. In diesem Falle müssten wir sofort die Grundsätze unserer Taktik revidieren … Entweder – oder! Entweder vulgärster Jaurèsismus, oder aber Verneinung des bürgerlichen Charakters der jetzigen Revolution."

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