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Wladimir I. Lenin 19050603 Über die provisorische revolutionäre Regierung

Wladimir I. Lenin: Über die provisorische revolutionäre Regierung

[Proletarij" Nr. 2 u. 3, 21. Mai/3. Juni und 27. Mai/9. Juni 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 425-448]

Erster Artikel. Plechanows historische Feststellung

Der III. Parteitag hat eine Resolution über die Frage der provisorischen revolutionären Regierung angenommen. Diese Resolution bringt gerade jene Stellung zum Ausdruck, die wir in der Zeitung „Wperjod" eingenommen haben. Wir wollen jetzt alle Einwände gegen unsere Stellung einer eingehenden Prüfung unterziehen und den eigentlichen prinzipiellen Sinn und die praktische Bedeutung der Parteitagsresolution von allen Seiten aufhellen. Wir beginnen mit dem Versuch Plechanows, diese Frage auf einen streng prinzipiellen Boden zu stellen. Plechanow überschrieb seinen Artikel: „Zur Frage der Machtergreifung". Er kritisiert „die Taktik, die (offenbar ist der „Wperjod" gemeint) gerichtet wird auf die Ergreifung der politischen Macht durch das Proletariat". In Wirklichkeit hat der „Wperjod", wie jeder, der diese Zeitung kennt, sehr gut weiß, die Frage der Machtergreifung nie aufgerollt und keinerlei „Taktik auf die Machtergreifung gerichtet". Plechanow sucht, an die Stelle der tatsächlich behandelten Frage eine andere, erdichtete zu schieben; um sich davon zu überzeugen, genügt es, sich den Hergang des Streites in Erinnerung zu rufen.

Martynow hatte als erster die Frage in seinen berühmten „Zwei Diktaturen" aufgerollt. Er behauptete, wenn unsere Partei sich an dem Aufstand führend beteilige, werde sich daraus für sie, im Falle des Erfolges, die Notwendigkeit ergeben, an der provisorischen revolutionären Regierung teilzunehmen, eine solche Teilnahme sei aber prinzipiell unzulässig und könne zu nichts als einem vernichtenden und kompromittierenden Ausgang führen. Die „Iskra" verteidigte diese Stellung. Der „Wperjod" erwiderte, dass ein solcher Ausgang im Gegenteil der wünschenswerteste sei, dass die Beteiligung der Sozialdemokratie an der provisorischen revolutionären Regierung, die mit der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft gleichbedeutend ist, zulässig sei, dass ohne eine solche Diktatur es nicht gelingen werde, die Republik zu behaupten. Also, bei der Beantwortung der von Martynow gestellten Frage gingen beide streitende Teile von zwei gleichen Voraussetzungen aus, gelangten aber zu verschiedenen Schlüssen aus diesen Voraussetzungen: beide setzten voraus: 1. die führende Teilnahme der Partei des Proletariats am Aufstand; 2. den Sieg des Aufstandes und den vollständigen Sturz des Absolutismus; sie gingen auseinander in der Beurteilung der taktischen Schlüsse aus diesen Voraussetzungen. Hat das etwa Ähnlichkeit mit einer „Taktik, die gerichtet wird (!!) auf die Ergreifung (??) der Macht"? Ist es nicht klar, dass Plechanow der Martynowschen Fragestellung, wie sie in der „Iskra" und dem „Wperjod" behandelt wurde, auszuweichen sucht? Wir stritten darüber, ob eine siegreiche Durchführung des Aufstandes gefährlich und verderblich sei, da sie zu der Notwendigkeit führen könne, an der provisorischen revolutionären Regierung teilzunehmen. Plechanow möchte darüber streiten, ob man die Taktik auf die Machtergreifung richten solle. Wie fürchten, der Wunsch Plechanows (der nur vom Standpunkt einer Vertuschung der Martynowschen Fragestellung aus zu verstehen ist) wird ein frommer Wunsch bleiben, denn über dieses Thema wurde und wird nicht gestritten.

Welche Bedeutung diese Verwechslung der Frage in der ganzen Argumentation Plechanows hat, geht besonders anschaulich aus der Episode mit den „Virtuosen des Philistertums" hervor. Dieser vom „Wperjod" gebrauchte Ausdruck lässt Plechanow keine Ruhe. Siebenmal kommt er auf ihn zurück und redet auf seine Leser streng und zornig ein, der „Wperjod" habe sich erdreistet, Marx und Engels mit diesem nicht allzu schmeichelhaften Beinamen zu belegen, der „Wperjod" beginne, Marx zu „kritisieren" usw. usf. Wir verstehen sehr wohl, dass es ihm, der sich in den Kopf gesetzt hat, Martynow zu rehabilitieren und den „Wperjod" „herunterzureißen", sehr angenehm wäre, wenn der „Wperjod" etwas gesagt hätte, was dem Unsinn, den Plechanow ihm zuschreibt, auch nur ähnlich wäre. Aber das ist es ja gerade, dass der „Wperjod" nichts dergleichen gesagt hat, und jeder aufmerksame Leser wird Plechanow, der eine interessante prinzipielle Frage durch eine ganz nichtige und kleinliche Nörgelei verwirrt hat, mit Leichtigkeit durchschauen.

So langweilig es auch ist, auf Nörgeleien zu antworten, muss man doch ausführlich erklären, worin tatsächlich diese Episode mit den „Virtuosen des Philistertums" bestand. Der Gedankengang des „Wperjod" war folgender. Wir alle sprechen von der Erkämpfung der Republik. Um sie wirklich zu erkämpfen, ist notwendig, dass wir den Absolutismus „vereint schlagen", – wir, d. h. das revolutionäre Volk, das Proletariat und die Bauernschaft. Aber das genügt noch nicht. Es genügt sogar nicht, den Absolutismus „vereint zu erschlagen", d. h. die absolutistische Regierung gänzlich zu stürzen. Es ist noch notwendig, die unvermeidlich bevorstehenden verzweifelten Versuche, den gestürzten Absolutismus wiederherzustellen, „vereint zurückzuschlagen". Dieses „vereinte Zurückschlagen", angewendet auf die revolutionäre Epoche, ist nichts anderes als die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft, ist die Teilnahme des Proletariats an der revolutionären Regierung. Leute, die die Arbeiterklasse mit der möglichen Perspektive dieser Diktatur schrecken, d. h. Leute wie Martynow und L. Martow in der neuen „Iskra"1, geraten darum in Widerspruch zu ihrer eigenen Losung des Kampfes für die Republik und der Vollendung der Revolution. Im Grunde genommen argumentieren diese Leute so, als ob sie ihren Kampf für die Freiheit begrenzen und beschneiden wollten, als ob sie sich im Voraus ein ganz bescheidenes Stückchen der Errungenschaften, irgendeine jämmerliche Verfassung anstatt der Republik abzirkeln möchten. Solche Leute, sagte der „Wperjod", verflachen philisterhaft die bekannte marxistische These von den drei Hauptkräften der Revolution des 19. (und 20.) Jahrhunderts und ihrer drei Grundstadien. Nach dieser These ist das erste Stadium der Revolution die Einschränkung des Absolutismus, durch die das Bürgertum befriedigt wird; das zweite – die Erkämpfung der Republik, wodurch das „Volk", d. h. die Bauernschaft und das Kleinbürgertum überhaupt, befriedigt wird; das dritte – der sozialistische Umsturz, der allein fähig ist, das Proletariat zu befriedigen. „Dieses Bild ist richtig im Großen und Ganzen", schrieb der „Wperjod". Wir haben vor uns in der Tat einen Aufstieg zu diesen drei verschiedenen schematischen Stufen, verschieden je nach den Klassen, welche uns bei diesem Aufstieg bestenfalls begleiten können. Wenn wir aber dieses richtige marxistische Schema der drei Stufen so auffassten, dass man sich vor jedem Aufstieg im Voraus ein bescheidenes Maß, z. B. nicht mehr als eine Stufe, abzirkeln müsste, wenn wir nach diesem Schema, vor jedem Aufstieg „einen Tätigkeitsplan in einer revolutionären Epoche aufstellen" wollten, wären wir Virtuosen des Philistertums.

Das war der Gedankengang des „Wperjod" in Nr. 14. Und an den letzten, durch Sperrdruck hervorgehobenen Worten begann nun Plechanow herumzunörgeln. Der „Wperjod" – erklärt er triumphierend – habe somit Marx einen Philister genannt, denn Marx habe gerade nach diesem Schema einen Tätigkeitsplan in der revolutionärsten Epoche aufgestellt!

Beweis? Der Beweis besteht darin, dass im Jahre 1850, als das revolutionäre Volk Deutschlands in dem Kampfe der Jahre 1848/49 eine Niederlage erlitten hatte, weil es nicht vermochte, den Absolutismus totzuschlagen, als die liberale Bourgeoisie schon eine kümmerliche Verfassung bekommen hatte und auf die Seite der Reaktion übergegangen war, – kurz, als die deutsche demokratisch-revolutionäre Bewegung sich nur auf die eine, erste Stufe erhoben hatte und stehengeblieben war, ohnmächtig zum weiteren Aufstieg, dass damals … damals Marx gesagt hat, der neue revolutionäre Aufstieg werde ein Aufstieg zu der zweiten Stufe sein.

Sie lächeln, lieber Leser? In der Tat, der Syllogismus Plechanows ist ein wenig … wie soll ich mich da recht milde ausdrücken? „dialektisch" geraten. Weil Marx in der entsprechenden konkreten Situation einer konkreten demokratischen Revolution gesagt hat, dass nach erfolgtem Aufstieg zur ersten Stufe der Aufstieg zur zweiten bevorstehe, deshalb könnten nur „Kritiker" von Marx die Leute als Philister bezeichnen, die, bevor noch der Aufstieg zur ersten Stufe erfolgt ist, uns mit der furchtbaren Perspektive schrecken, dass (im Falle eines besonders glücklich organisierten und durchgeführten Aufstandes) ein Sprung über zwei Stufen auf einmal in Aussicht stehe.

Ja, ja, Marx „kritisieren" ist nicht schön … aber eine verfehlte Berufung auf Marx ist auch nicht sehr schön. Martynow hat Marx unglücklich interpretiert. Plechanow hat Martynow unglücklich verteidigt.

Ein wortklauberischer Leser darf jedoch aus unsern Worten nicht den Schluss ziehen, dass wir eine „Taktik" propagieren, die darauf „gerichtet" ist, unbedingt eine Stufe zu überspringen, unabhängig von dem Wechselverhältnis der gesellschaftlichen Kräfte. Nein, eine solche Taktik propagieren wir keineswegs. Wir kämpfen nur gegen die Beeinflussung des Proletariats durch Leute, die es fertig bringen, von der Republik und von der Vollendung der Revolution zu reden und gleichzeitig sich und anderen mit der Möglichkeit, an der demokratischen Diktatur teilnehmen zu müssen, Angst zu machen suchen. Wir haben bereits in Nr. 14 des „Wperjod" bemerkt, dass nach dem jetzigen revolutionären Aufschwung eine Reaktion natürlich unvermeidlich ist, dass diese aber uns von der Freiheit um so weniger wird nehmen können, je mehr wir jetzt erringen und je schonungsloser wir in der Epoche der möglichen (und wünschenswerten) demokratischen Diktatur die konterrevolutionären Kräfte unterdrückt und vernichtet haben werden. Wir haben ferner in Nr. 14 des „Wperjod" bemerkt, dass die Frage dieser Diktatur selbst nur dann einen Sinn hat, wenn man einen Verlauf der Ereignisse voraussetzt, bei dem die demokratische Revolution bis zum vollständigen Sturz des Absolutismus, bis zur Republik geht und nicht auf halbem Wege stehen bleibt.

Gehen wir nun von der Episode mit den „Virtuosen des Philistertums" zum Inhalt der von Plechanow zitierten berühmten „Ansprache" (der Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten an den Bund vom März 1850) über. In dieser außerordentlich interessanten und lehrreichen „Ansprache" (die man ungekürzt ins Russische übersetzen sollte), untersucht Marx die konkrete politische Situation in Deutschland im Jahre 1850. Er verweist auf die Wahrscheinlichkeit einer neuen politischen Explosion, stellt fest, dass im Falle einer Revolution die Macht unvermeidlich auf die republikanische, kleinbürgerliche demokratische Partei übergehen werde und analysiert die Taktik des Proletariats. Marx untersucht gesondert die Taktik vor der Revolution, während der revolutionären Kämpfe und nach dem Sieg der kleinbürgerlichen Demokratie; er besteht darauf, dass es notwendig sei, „eine selbständige geheime und öffentliche Organisation der Arbeiterpartei" zu schaffen, er kämpft mit allen Kräften gegen ihr Herabsinken „zum Anhängsel der offiziellen bürgerlichen Demokratie", er unterstreicht die Wichtigkeit der Bewaffnung der Arbeiter, der Bildung einer selbständigen proletarischen Garde, der strengen Kontrolle der Proletarier über die verräterische kleinbürgerliche Demokratie usw.

In der ganzen „Ansprache" wird weder über die Beteiligung der Arbeiterpartei an der provisorischen revolutionären Regierung noch über die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft ein Wort gesagt. Daraus folgert Plechanow, Marx habe, „wie man sieht, nicht einmal den Gedanken zugelassen, dass die politischen Vertreter des revolutionären Proletariats gemeinsam mit den Vertretern des Kleinbürgertums an der Schaffung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung arbeiten könnten". Die Logik dieser Schlussfolgerung hinkt. Die Frage der Beteiligung der Arbeiterpartei an einer provisorischen revolutionären Regierung wird von Marx gar nicht aufgerollt, und daraus schließt Plechanow, Marx löse diese Frage überhaupt und prinzipiell in absolut negativem Sinne. Marx spricht nur von der konkreten Situation, Plechanow aber zieht einen allgemeinen Schluss und untersucht überhaupt nicht die Frage in ihrer Konkretheit. Indessen genügt es, auf einige von Plechanow weggelassene Stellen der „Ansprache" einen Blick zu werfen, um die völlige Unrichtigkeit seiner Schlüsse einzusehen.

Die „Ansprache" wurde geschrieben auf Grund der Erfahrung von zwei Jahren der revolutionären Epoche, von 1848 und 1849. Die Resultate dieser Erfahrung formuliert Marx folgendermaßen:

Zu gleicher Zeit (d. h. in den Jahren 1848 u. 1849) wurde die frühere feste Organisation des Bundes bedeutend gelockert. Ein großer Teil der Mitglieder, in der revolutionären Bewegung direkt beteiligt, glaubte die Zeit der geheimen Gesellschaften vorüber und das öffentliche Wirken allein hinreichend. Die einzelnen Kreise und Gemeinden ließen ihre Verbindungen mit der Zentralbehörde erschlaffen und allmählich einschläfern. Während also die demokratische Partei, die Partei der Кleinbürgersсhaft, sich in Deutschland immer mehr organisierte, verlor die Arbeiterpartei ihren einzigen festen Halt, blieb höchstens in einzelnen Lokalitäten zu lokalen Zwecken organisiert und geriet dadurch in der allgemeinen Bewegung vollständig unter die Herrschaft und Leitung der kleinbürgerlichen Demokraten."*

Und auf der folgenden Seite der „Ansprache" heißt es bei Marx:

„… die Zentralbehörde hält für höchst wichtig, dass in diesem Augenblick … wo eine neue Revolution bevorsteht,… die Arbeiterpartei also möglichst organisiert, möglichst einstimmig und möglichst selbständig auftreten muss, wenn sie nicht wieder wie 1848 von der Bourgeoisie exploitiert und ins Schlepptau genommen werden soll."

Man denke sich in die Bedeutung dieser kategorischen Behauptungen richtig hinein! Nach zwei Jahren offener Revolution, nach dem Sieg des Volksaufstandes in Berlin, nach der Einberufung des Revolutionsparlaments, nach einer Zeit, wo ein Teil des Landes sich in offenem Aufstand befand und die Macht zeitweilig in die Hände revolutionärer Regierungen überging, – konstatiert Marx, dass das revolutionäre Volk eine Niederlage erlitten hat, und dass hinsichtlich der Parteiorganisation die kleinbürgerliche Demokratie gewonnen, die Arbeiterpartei verloren hat. Ist das nicht der deutlichste Beweis, dass es sich um eine politische Situation handelte, wo gar kein Anlass vorlag, die Frage der Beteiligung der Arbeiterpartei an der Regierung überhaupt zu stellen? Nach zwei Jahren einer revolutionären Epoche, während deren Marx neun Monate lang offen eine höchst revolutionäre Zeitung der Arbeiterpartei herausgegeben hatte, musste man konstatieren, dass diese Partei vollständig desorganisiert war, dass eine einigermaßen scharf ausgeprägte proletarische Richtung in der allgemeinen Bewegung überhaupt nicht vorhanden war (die Arbeiterbrüderschaften Stephan Borns waren zu unbedeutend), dass das Proletariat nicht nur unter die Herrschaft, sondern auch unter die Leitung der Bourgeoisie geraten war! Die ökonomischen Verhältnisse waren offenbar noch äußerst unentwickelt, eine Großindustrie fehlte fast vollständig, eine selbständige Arbeiterbewegung von einigermaßen nennenswertem Umfange gab es nicht, das Kleinbürgertum herrschte unangefochten. Da ist es verständlich, dass ein Schriftsteller, der die konkrete Situation untersuchte, unter solchen Umständen nicht einmal den Gedanken aufkommen lassen konnte, dass eine Beteiligung der Arbeiterpartei an der provisorischen Regierung möglich wäre. Da ist es verständlich, dass Marx in seiner „Ansprache" den Mitgliedern des Bundes der Kommunisten solche Wahrheiten einbläuen musste (man verzeihe mir diesen Ausdruck), die uns jetzt Binsenwahrheiten zu sein scheinen. Marx musste erst die Notwendigkeit beweisen, dass die Arbeiter bei den Wahlen eigene Kandidaten aufstellen, unabhängig von der bürgerlichen Demokratie. Marx musste die demokratischen Phrasen widerlegen, dass die Absonderung der Arbeiter die demokratische Partei „spalte" (wohlgemerkt! spalten kann man nur, was gestern noch einig war und was ideell noch einig ist!). Marx musste die Mitglieder des Bundes der Kommunisten davor warnen, sich durch diese Phrasen irre machen zu lassen. Marx musste im Namen der Zentralbehörde des Bundes versprechen, bei der ersten Gelegenheit einen Kongress der Arbeiterpartei einzuberufen, um die Arbeiterklubs zu zentralisieren – in den Revolutionsjahren 1848/49 fehlten noch die Bedingungen, die den Gedanken an die Möglichkeit eines besonderen Kongresses der Arbeiterpartei hätten aufkommen lassen!

Die Schlussfolgerung daraus ist klar: in der berühmten „Ansprache" berührt Marx die Frage, ob eine Beteiligung des Proletariats an der provisorischen revolutionären Regierung prinzipiell zulässig sei, überhaupt nicht. Marx untersucht ausschließlich die konkrete Situation Deutschlands im Jahre 1850. Marx sagt dabei deshalb kein Wort von einer Beteiligung des Bundes der Kommunisten an der revolutionären Regierung, weil unter den damaligen Verhältnissen der Gedanke an eine solche Beteiligung im Namen der Arbeiterpartei zum Zwecke der demokratischen Diktatur nicht einmal aufkommen konnte.

Marx' Gedanke ist folgender: wir deutschen Sozialdemokraten von 1850 sind nicht organisiert, wir haben in der ersten Periode der Revolution eine Niederlage erlitten, wir sind vollständig ins Schlepptau der Bourgeoisie geraten; wir müssen uns selbständig organisieren, auf jeden Fall, unbedingt und unter allen Umständen selbständig, – sonst werden wir auch bei dem künftigen Sieg der organisatorisch erstarkten und mächtigen kleinbürgerlichen Partei wieder ins Hintertreffen geraten.

Martynows Gedanke war folgender: wir russischen Sozialdemokraten von 1905 sind in einer selbständigen Partei organisiert und wollen zum ersten Sturmangriff auf die Feste des Zarismus, an der Spitze des kleinbürgerlichen Volkes marschieren. Wenn wir aber den Sturmangriff gar zu gut organisieren und – was Gott verhüten möge – siegreich durchführen, so würden wir am Ende noch an der provisorischen revolutionären Regierung oder gar an der demokratischen Diktatur teilnehmen müssen. Diese Teilnahme ist jedoch prinzipiell unzulässig.

Und Plechanow will allen Ernstes irgend jemand weismachen, man könne Martynow an Hand von Marx verteidigen? Plechanow scheint die Leser der „Iskra" für Kinder zu halten. Wir können nur eins sagen: Marxismus und Martynowismus. sind zwei verschiedene Dinge.

Um mit der „Ansprache" zu Ende zu kommen, muss noch folgende falsche Meinung Plechanows richtiggestellt werden. Mit Recht weist er darauf hin, dass Marx im März 1850, als die „Ansprache" geschrieben wurde, an die Gebrechlichkeit des Kapitalismus glaubte und die sozialistische Revolution ihm „ganz nahe" bevorzustehen schien. Marx hat sehr schnell seinen Fehler korrigiert: schon am 15. September 1850 trennte er sich von Schapper (Schapper blieb mit Willich in der Minderheit des Bundes und trat aus diesem aus), der dem bürgerlich-demokratischen Revolutionarismus oder Utopismus so sehr erlag, dass er sagte: „Wir müssen gleich zur Herrschaft kommen oder wir können uns schlafen legen." Marx erwiderte Schapper, dass man nicht statt der wirklichen Verhältnisse den eigenen bloßen Willen für das Triebrad der Revolution halten dürfe. Das Proletariat werde vielleicht fünfzehn, zwanzig, fünfzig Jahre Bürgerkrieg und Völkerkämpfe durchmachen müssen, „nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um sich selbst (die Proletarier) zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen".

Plechanow schildert kurz diese Meinungsänderung und folgert:

Die politischen Aufgaben des Proletariats wären von ihnen (von Marx und Engels nach dieser „Meinungsänderung") bereits in jener Annahme umschrieben, dass die demokratische Ordnung während einer längeren Zeitperiode vorherrschend bleiben werde. Aber gerade deshalb hätten sie die Beteiligung der Sozialisten an einer kleinbürgerlichen Regierung noch entschiedener verurteilt" („Iskra" Nr. 96).

Diese Folgerung Plechanows ist ganz falsch. Sie läuft eben auf eine Verwechselung der sozialistischen und der demokratischen Diktatur hinaus, die wir L. Martow und Martynow schon mehrfach zum Vorwurf machen mussten. Marx und Engels haben 1850 keinen Unterschied zwischen demokratischer und sozialistischer Diktatur gemacht, oder richtiger, sie haben von der ersten gar nicht gesprochen, weil der Kapitalismus ihnen hinfällig, der Sozialismus nahe schien. Sie haben deshalb zu jener Zeit auch keinen Unterschied zwischen Minimalprogramm und Maximalprogramm gemacht. Macht man aber diesen Unterschied (wie wir Marxisten es jetzt alle tun, die wir gegen den bürgerlich-demokratischen Revolutionarismus der „Sozialrevolutionäre" kämpfen, weil sie diesen Unterschied verkennen), so muss man die Frage der sozialistischen und der demokratischen Diktatur getrennt behandeln. Plechanow handelt inkonsequent, wenn er es nicht tut. Indem er eine ausweichende Formulierung wählt und von der „Beteiligung der Sozialisten an einer kleinbürgerlichen Regierung" überhaupt spricht, unterschiebt er gerade damit die Frage der sozialistischen Diktatur an die Stelle der klar, bestimmt und präzise gestellten Frage der demokratischen Diktatur. Er verwechselt um den Vergleich des „Wperjod" zu gebrauchen die Teilnahme Millerands an der Regierung neben Gallifet in einer Epoche des Vorabends des sozialistischen Umsturzes mit der Teilnahme Varlins an der revolutionären Regierung neben den kleinbürgerlichen Demokraten, die die Republik verfochten und durchgesetzt haben.

Marx und Engels betrachteten im Jahre 1850 den Sozialismus als nahe bevorstehend, und deshalb unterschätzten sie die demokratischen Errungenschaften, die ihnen im Hinblick auf den unzweifelhaften Sieg der kleinbürgerlichen demokratischen Partei gesichert schienen. 25 Jahre später, im Jahre 1875, wies Marx auf die undemokratische Staatsordnung Deutschlands hin, die er einen „mit parlamentarischen Formen verbrämten Militärdespotismus" nannte. 35 Jahre später, im Jahre 1885, prophezeite Engels, dass bei der nächsten europäischen Erschütterung die kleinbürgerliche Demokratie in Deutschland ans Ruder kommen werde2. Daraus ergibt sich das gerade Gegenteil von dem, was Plechanow beweisen will: hätten Marx und Engels eine verhältnismäßig längere Periode der demokratischen Ordnung als unvermeidlich betrachtet, sie würden dann eine um so größere Bedeutung der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft beigemessen haben, um die Republik zu festigen, um alle Spuren des Absolutismus vollständig zu vernichten und die Bahn für den Kampf um den Sozialismus völlig freizumachen. Sie würden dann erst recht die Chwostisten verurteilen, die es fertig bringen, am Vorabend des demokratischen Umsturzes das Proletariat mit der Möglichkeit der revolutionär-demokratischen Diktatur zu schrecken.

Plechanow fühlt wohl selbst die Schwäche seiner Position, die auf einer falschen Auslegung der „Ansprache" beruht. Deshalb macht er vorsichtshalber den Vorbehalt, dass er mit seiner Feststellung nicht den Anspruch erhebe, die Frage zu erschöpfen – obschon er seine Schlussfolgerungen mit „erschöpfender" Entschiedenheit zieht, wobei er nichts vorbringt als eine Feststellung, die mit der Sache nichts zu tun hat, und nicht einmal den Versuch macht, die konkrete Fragestellung des „Wperjod" zu prüfen. Plechanow sucht dem „Wperjod" anzudichten, dieser wolle Marx „kritisieren" und vertrete den Standpunkt von Mach und Avenarius. Dieser Versuch kann uns nur ein Lächeln abnötigen: es muss schlecht um Plechanows Position bestellt sein, wenn er unter den tatsächlichen Behauptungen des „Wperjod" keine Zielscheibe finden kann und diese aus einem Gegenstand erfinden muss, der mit der Zeitung „Wperjod" sowohl wie mit der zur Erörterung stehenden Frage nicht das Geringste zu tun hat. Schließlich beruft sich Plechanow auf noch einen Beweis, der ihm „unwiderlegbar scheint". In Wirklichkeit ist dieser Beweis (Engels' Brief an Turati vom Jahre 1894) ganz und gar verfehlt.

Wie aus der Plechanowschen Darstellung dieses Briefes hervorgeht (Plechanow bringt leider nicht den Wortlaut des Briefes und erwähnt nicht, ob er veröffentlicht worden ist und wo), musste Engels Turati beweisen, dass zwischen der sozialistischen und der kleinbürgerlichen Revolution ein Unterschied besteht. Damit ist alles gesagt, Genosse Plechanow! Turati ist ein italienischer Millerand, ein Bernsteinianer, dem Giolitti ein Portefeuille in seinem Kabinett angeboten hatte. Turati verwechselte offenbar die zwei Umwälzungen mit ganz verschiedenem Klasseninhalt. Er bildete sich ein, die Herrschaftsinteressen des Proletariats durchsetzen zu können, und Engels machte ihm klar, dass in der gegebenen Situation in Italien im Jahre 1894 (d. h. einige Jahrzehnte nach Italiens Aufstieg zur „ersten Stufe", nach der Eroberung der politischen Freiheit, die dem Proletariat gestattete, sich offen, breit und selbständig zu organisieren!), er, Turati, in der Regierung der siegreichen kleinbürgerlichen Partei in Wirklichkeit die Interessen einer fremden Klasse, des Kleinbürgertums, vertreten und durchführen werde. Wir haben es also mit einem der Fälle des Millerandismus zu tun; der „Wperjod" hatte sich ausdrücklich gegen eine Verwechslung des Millerandismus mit der demokratischen Diktatur gewandt, und Plechanow hat die Argumente des „Wperjod" nicht einmal gestreift. Wir haben ein charakteristisches Beispiel jener schiefen Lage vor uns, vor der Engels schon lange die Führer der extremen Parteien gewarnt hatte, nämlich, wo sie den wahren Charakter des Umsturzes verkennen und unbewusst die Interessen einer „fremden" Klasse durchführen. Um Himmels willen, Genosse Plechanow, hat das mit der Frage, die von Martynow angeschnitten und vom „Wperjod" erörtert wurde, auch nur das Geringste zu tun? Kann denn die Gefahr der Verwechslung der zweiten und dritten Stufe durch Leute, die die erste Stufe hinaufgestiegen sind, als Rechtfertigung dafür dienen, dass man uns vor dem Aufstieg zur ersten Stufe mit der Perspektive eines möglichen Aufstieges über zwei Stufen auf einmal schreckt??

Nein, Plechanows „kleine historische Feststellung" beweist rein gar nichts. Seine prinzipielle Schlussfolgerung: „an der revolutionären Regierung zusammen mit den Vertretern des Kleinbürgertums teilnehmen, heißt das Proletariat verraten", wird in keiner Weise bestätigt durch die Hinweise auf die Situationen in Deutschland 1850 und in Italien 1894, die grundverschieden waren von der Situation in Russland im Januar und im Mai 1905. Diese Hinweise besagen gar nichts über die Frage der demokratischen Diktatur und der provisorischen revolutionären Regierung. Sollte aber Plechanow seine Schlussfolgerung auf diese Frage anwenden wollen, sollte er jede Beteiligung des Proletariats an der revolutionären Regierung bei dem Kampfe um die Republik, beim demokratischen Umsturz, für prinzipiell unzulässig halten, so machen wir uns anheischig, ihm zu beweisen, dass dies ein „Prinzip" des Anarchismus ist, das von Engels in unzweideutigster Weise verurteilt wurde. Diesen Beweis werden wir im folgenden Artikel erbringen.

Zweiter Artikel. Nur von unten, oder von unten und von oben?

Im vorigen Artikel haben wir Plechanows historische Feststellung untersucht und gezeigt, dass Plechanow unbegründet allgemeine und prinzipielle Schlüsse aus Worten von Marx zieht, die sich ganz und gar auf die konkrete Situation in Deutschland im Jahre 1850 beziehen. Diese konkrete Situation erklärt vollauf, warum Marx damals die Frage der Beteiligung des Bundes der Kommunisten an einer provisorischen revolutionären Regierung nicht aufrollte und gar nicht aufrollen konnte. Nun wollen wir die allgemeine und prinzipielle Frage, ob eine solche Beteiligung zulässig sei, untersuchen.

Eine strittige Frage muss vor allem genau formuliert werden. In dieser Beziehung können wir glücklicherweise eine Formulierung benutzen, die von unseren Opponenten stammt, um dadurch jede Auseinandersetzung über das Wesen des Streites zu vermeiden. In Nr. 93 der „Iskra" heißt es:

Der beste Weg für eine solche Organisation (das Proletariat zu einer Partei zu organisieren, die dem bürgerlich-demokratischen Staat oppositionell gegenübersteht) ist der Weg der Entwicklung der bürgerlichen Revolution von unten (von der „Iskra" gesperrt), durch den Druck des Proletariats auf die am Ruder stehende Demokratie."

Und weiter sagt die „Iskra" vom „Wperjod":

Er will, dass der Druck des Proletariats auf die Revolution nicht nur ,von unten', nicht nur von der Straße her komme, sondern auch von oben, von den Palästen der provisorischen Regierung."

Die Frage ist also klar gestellt. Die „Iskra" will den Druck von unten, der „Wperjod" – „nicht nur von unten, sondern auch von oben". Der Druck von unten ist der Druck der Staatsbürger auf die revolutionäre Regierung. Der Druck von oben ist der Druck der revolutionären Regierung auf die Staatsbürger. Die einen beschränken ihr Wirken auf den Druck von unten. Die andern sind mit einer solchen Beschränkung nicht einverstanden und fordern die Ergänzung des Druckes von unten durch den Druck von oben. Der Streit läuft somit eben auf die Frage hinaus, die wir im Untertitel gestellt haben: nur von unten, oder von unten und von oben? Der Druck von oben, „von den Palästen der provisorischen Regierung", ist für das Proletariat in der Epoche der demokratischen Revolution prinzipiell unzulässig, sagen die einen. Es ist für das Proletariat in der Epoche der demokratischen Revolution prinzipiell unzulässig, auf den Druck von oben, auf die Beteiligung an der provisorischen revolutionären Regierung unbedingt zu verzichten, sagen die andern. Es handelt sich also nicht darum, ob der Druck von oben bei der gegebenen Konjunktur wahrscheinlich, ob er bei dem und dem Kräfteverhältnis zu verwirklichen ist. Nein, wir analysieren jetzt überhaupt keine konkrete Situation, und angesichts der wiederholten Versuche an Stelle der einen Streitfrage eine andere zu schieben, bitten wir die Leser dringend, dies im Auge zu behalten. Wir haben es mit der allgemeinen prinzipiellen Frage zu tun, ob in der Epoche der demokratischen Revolution der Übergang von dem Druck von unten zum Druck von oben zulässig ist.

Zur Klärung dieser Frage wenden wir uns zunächst an die Geschichte der taktischen Anschauungen der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus. Hat es nicht in dieser Geschichte Streitigkeiten gerade über die allgemeine Frage der Zulässigkeit des Druckes von oben gegeben? Doch, einen solchen Streit hat es gegeben. Die Veranlassung dazu bot der spanische Aufstand im Sommer 1873. Engels wertete die Lehren, die das sozialistische Proletariat aus diesem Aufstand zu ziehen hatte, in einem Artikel „Die Bakunisten an der Arbeit", der in der deutschen sozialdemokratischen Zeitung „Der Volksstaat" im Jahre 1873 veröffentlicht und 1894 in der Broschüre „Internationales aus dem Volksstaat" nachgedruckt wurde. Sehen wir zu, welche allgemeinen Schlüsse Engels gezogen hat.

Am 9. Februar 1873 dankte der spanische König Amadeo ab – „der erste streikende König", wie Engels witzig bemerkt. Am 12. Februar wurde die Republik ausgerufen, bald darauf brach in den baskischen Provinzen ein Karlistenaufstand los. Am 10. April wurde die konstituierende Versammlung gewählt, die am 8. Juni die föderative Republik proklamierte. Am 11. Juni konstituierte sich ein neues Ministerium unter Pi y Margall. Bei der Wahl des Ausschusses, der die neue Verfassung entwerfen sollte, wurden die extremen Republikaner, die sogenannten „Intransigenten" (die Unversöhnlichen) ausgeschaltet. Und als nun am 3. Juli die neue Verfassung proklamiert wurde, machten die Intransigenten einen Aufstand. In den Tagen vom 5. bis 11. Juli siegten sie in den Provinzen Sevilla, Granada, Alcoy, Valencia, sowie in einer Reihe anderer Provinzen. Die Regierung Salmeron, der den zurückgetretenen Pi у Margall ablöste, ließ gegen die aufständischen Provinzen Militär marschieren. Nach einem mehr oder minder hartnäckigen Widerstand wurde der Aufstand unterdrückt: Cadiz fiel am 26. Juli 1873, Cartagena – am 11. Januar 1874. Das sind die kurzen chronologischen Angaben, die Engels seiner Darstellung voran schickt

Bei der Bewertung der Lehren dieser Vorgänge betont Engels vor allem, dass der Kampf für die Republik in Spanien keineswegs ein Kampf für den sozialistischen Umsturz war und es auch nicht sein konnte.

Spanien“ – sagt Engels – „ist ein in der Industrie so sehr zurückgebliebenes Land, dass dort von einer sofortigen vollständigen Emanzipation der Arbeiterklasse noch gar nicht die Rede sein kann. Ehe es dahin kommt, muss Spanien noch verschiedene Vorstufen der Entwicklung durchmachen und eine ganze Reihe von Hindernissen aus dem Wege räumen. Den Verlauf dieser Vorstufen in die kürzestmögliche Zeitdauer zusammenzudrängen, diese Hindernisse rasch zu beseitigen – dazu bot die Republik die Gelegenheit. Diese Gelegenheit konnte aber nur benutzt werden durch tätiges politisches Eingreifen der spanischen Arbeiterklasse. Dies fühlte die Masse der Arbeiter; sie drang überall darauf. dass man sich an den Ereignissen beteilige, dass man die Gelegenheit zum Handeln benutze, statt, wie bisher, den besitzenden Klassen das Feld für ihre Aktion und ihre Intrigen frei zu lassen."

Es handelte sich also um den Kampf für die Republik, für die demokratische Republik, nicht um die sozialistische Revolution. Die Frage des Eingreifens der Arbeiter in die Ereignisse wurde damals auf zweierlei Weise gestellt: einerseits wurde von den Bakunisten (oder „Allianzisten", den Begründern der „Allianz" zum Kampfe gegen die marxistische „Internationale") die politische Tätigkeit, die Teilnahme an den Wahlen usw. negiert. Anderseits waren sie gegen die Beteiligung an einer Revolution, die nicht die sofortige vollständige Emanzipation der Arbeiterklasse zum Ziele habe, gegen jede Beteiligung an einer revolutionären Regierung. Vom Standpunkt unserer Streitfrage ist gerade diese letzte Seite der Angelegenheit für uns von besonderem Interesse. Nebenbei war dies auch der Anlass zur Formulierung des prinzipiellen Unterschiedes zwischen den zwei taktischen Losungen.

Die Bakunisten“ – sagt Engels – „hatten seit Jahren gepredigt, jede revolutionäre Aktion von oben nach unten sei verderblich, alles müsse von unten nach oben organisiert und durchgesetzt werden."

Also, das Prinzip: „nur von unten" ist ein anarchistisches Prinzip.

Engels zeigt gerade, wie dieses Prinzip in der Zeit einer demokratischen Revolution doppelt sinnlos ist. Aus ihm ergibt sich natürlich und unvermeidlich jene praktische Schlussfolgerung, dass die Errichtung revolutionärer Regierungen ein Verrat an der Arbeiterklasse sei. Und die Bakunisten zogen in der Tat diesen Schluss, sie erhoben es zum Prinzip, dass „die Errichtung einer revolutionären Regierung nur eine neue Prellerei und ein neuer Verrat an der Arbeiterklasse sei".

Wie der Leser sieht, haben wir gerade jene zwei „Prinzipien" vor uns, zu denen sich auch die neue „Iskra" verstiegen hat, nämlich: 1. zulässig sei nur die revolutionäre Aktion von unten, im Gegensatz zu der Taktik „sowohl von unten als auch von oben"; 2. die Beteiligung an der provisorischen revolutionären Regierung sei ein Verrat an der Arbeiterklasse. Diese beiden Prinzipien der neuen „Iskra" sind anarchistische Prinzipien. Der tatsächliche Verlauf des Kampfes um die Republik in Spanien hat gerade den ganzen Widersinn und den ganzen reaktionären Charakter dieser beiden Prinzipien aufgezeigt.

Engels beweist dies an Hand einzelner Episoden der spanischen Revolution. Da bricht z. B. die Revolution in der Stadt Alcoy aus. Alcoy ist eine Fabrikstadt neueren Datums von etwa 30.000 Einwohnern. Trotz der Leitung der Bakunisten, die von der Idee, die Revolution zu organisieren, prinzipiell nichts wissen wollten, siegt der Arbeiteraufstand. Hinterher begannen die Bakunisten zu prahlen, sie seien „Herren der Situation" geworden. Und was machten die „Herren" aus ihrer „Situation", fragt Engels. Erstens errichteten sie in Alcoy einen „Wohlfahrtsausschuss", d. h. eine revolutionäre Regierung. Dabei hatten dieselben Allianzisten (Bakunisten) auf ihrem Kongress am 15. September 1872, d. h. erst zehn Monate vor der Revolution, beschlossen, „dass jede Organisation einer politischen, sogenannten provisorischen oder revolutionären Gewalt nur eine neue Prellerei sein kann und für das Proletariat ebenso gefährlich sein würde, wie alle jetzt bestehenden Regierungen". Statt diese anarchistischen Phrasen zu widerlegen, beschränkt sich Engels auf die sarkastische Bemerkung, dass gerade die Anhänger der Revolution „Mitglieder dieser provisorischen und revolutionären Regierungsgewalt" in Alcoy waren. Engels behandelt diese Herrschaften mit der ihnen gebührenden Verachtung, weil sie, an die Macht gelangt, „absolute Rat-, Tat- und Hilflosigkeit" an den Tag legten. Mit derselben Verachtung hätte Engels auf die von den Girondisten der Sozialdemokratie beliebten Beschuldigungen des „Jakobinismus" geantwortet. Er zeigt, dass in einer Reihe anderer Städte, z. B. in San Lucar de Barrameda (eine Hafenstadt in der Nähe von Cadiz mit 26.000 Einwohnern), „die Allianzisten auch hier, ganz gegen ihre anarchischen Grundsätze eine revolutionäre Regierung gebildet" hatten.

Was er ihnen zum Vorwurf macht, ist, dass sie „mit ihrer Herrschaft nichts anzufangen wussten". Engels, der sehr gut weiß, dass die bakunistischen Arbeiterführer an den provisorischen Regierungen zusammen mit den Intransigenten, d. h. zusammen mit den Republikanern, den Vertretern des Kleinbürgertums, teilgenommen haben, macht den Bakunisten nicht ihre Beteiligung an der Regierung zum Vorwurf (wie man es nach den „Prinzipien" der neuen „Iskra" tun müsste), sondern die mangelhafte Оrganisatiоn, die mangelhafte Energie bei der Beteiligung und die Unterordnung der Bakunisten unter die Leitung der Herren bürgerlichen Republikaner. Mit welch vernichtendem Sarkasmus Engels jene Leute überschüttet hätte, die in der Zeit der Revolution die Bedeutung der „technischen" und militärischen Leitung herabwürdigen, ist unter anderem daraus zu ersehen, dass Engels den bakunistischen Arbeiterführern Vorwürfe machte, weil sie, die in der revolutionären Regierung saßen, die „politische und militärische Leitung" den Herren bürgerlichen Republikanern überließen und selber die Arbeiter mit schönen Phrasen und papierenen Projekten „sozialer" Reformen abfertigten.

Als echter Jakobiner der Sozialdemokratie, wusste Engels die Wichtigkeit der Aktion von oben nicht nur zu schätzen, er hielt die Beteiligung an der revolutionären Regierung zusammen mit der republikanischen Bourgeoisie nicht nur für zulässig, sondern er forderte eine solche Beteiligung und die energische militärische Initiative der revolutionären Macht. Engels hielt sich dabei für verpflichtet, praktische richtunggebende militärische Ratschläge zu erteilen.

Trotzdem“ – sagt er – „hatte der, wenn auch hirnlos eingeleitete, Aufstand immer noch große Aussicht auf Erfolg, wäre er nur mit einigem Verstand geleitet worden**, selbst nur nach der Weise der spanischen Militärrevolten, wo die Garnison einer Stadt sich erhebt, zur nächsten zieht, die schon vorher bearbeitete Garnison dieser Stadt mit sich fortreißt und lawinenartig anschwellend gegen die Hauptstadt vordringt, bis ein glückliches Gefecht oder der Übertritt der gegen sie gesandten Truppen den Sieg entscheidet. Diese Methode war diesmal ganz besonders anwendbar. Die Insurgenten waren überall seit längerer Zeit in Freiwilligenbataillone organisiert, deren Disziplin zwar erbärmlich war, aber sicher nicht erbärmlicher als die der Reste der alten, größtenteils auseinandergegangenen spanischen Armee. Die einzig zuverlässigen Truppen der Regierung waren die Gendarmen, und diese waren über das ganze Land zerstreut. Es kam vor allem darauf an, die Zusammenziehung der Gendarmen zu verhindern, und dies konnte nur geschehen, indem man angriffsweise verfuhr und sich aufs offene Feld wagte; viel Gefahr war nicht dabei, da die Regierung den Freiwilligen nur ebenso undisziplinierte Truppen entgegenstellen konnte, wie sie selbst waren. Und wollte man siegen, so gab's kein anderes Mittel."

So urteilte der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, wenn er Aufgaben des Aufstandes und des unmittelbaren Kampfes in der Epoche einer revolutionären Explosion vor sich hatte! Trotzdem der Aufstand von den kleinbürgerlichen Republikanern begonnen wurde; trotzdem für das Proletariat weder die Frage des sozialistischen Umsturzes noch die der elementar notwendigen politischen Freiheit stand – trotz alledem schätzte Engels die aktivste Beteiligung der Arbeiter an dem Kampfe um die Republik ungemein hoch ein, Engels forderte von den Führern des Proletariats, dass sie ihre gesamte Tätigkeit der Notwendigkeit unterordnen, in dem begonnenen Kampfe zu siegen; Engels, als einer der Führer des Proletariats, ging dabei selber sogar auf Details der militärischen Organisation ein, Engels verschmähte auch die veralteten Kampfmethoden der Militärrevolten nicht, wenn dies für den Sieg notwendig war, Engels rückte in den Vordergrund das angriffsweise Vorgehen und die Zentralisation der revolutionären Kräfte. Die bittersten Vorwürfe richtete er gegen die Bakunisten deswegen, weil sie das, „was im deutschen Bauernkrieg und in den deutschen Aufständen vom Mai 1849 ein unvermeidliches Übel war – die Zersplitterung und Vereinzelung der revolutionären Kräfte, die denselben Regierungstruppen erlaubte, einen Aufstand nach dem andern niederzuschlagen", zum Prinzip erhoben hatten. Die Auffassungen von Engels über die Durchführung des Aufstandes, über die Organisierung der Revolution, über die Ausnützung der revolutionären Staatsmacht sind von den chwostistischen Auffassungen der neuen „Iskra" himmelweit entfernt.

Die Lehren der spanischen Revolution zusammenfassend, stellt Engels vor allem fest: „Die Bakunisten waren gezwungen, sobald sie einer ernsthaften revolutionären Lage gegenüberstanden, ihr ganzes bisheriges Programm über Bord zu werfen". Und zwar mussten sie erstens den Grundsatz der politischen und der Wahlenthaltung, den Grundsatz der „Abschaffung des Staates" fallen lassen. Zweitens „ließen sie den Grundsatz fallen, dass die Arbeiter sich an keiner Revolution beteiligen dürften, die nicht die sofortige vollständige Emanzipation des Proletariats zum Zweck habe, und beteiligten sich an einer eingestandenermaßen rein bürgerlichen Bewegung". Drittens – und diese Schlussfolgerung gibt gerade die Antwort auf unsere Streitfrage – „schlugen sie ihrem kaum erst proklamierten Glaubenssatz ins Gesicht: dass die Errichtung einer revolutionären Regierung nur eine neue Prellerei und ein neuer Verrat an der Arbeiterklasse sei – indem sie ganz gemütlich in den Regierungsausschüssen der einzelnen Städte figurierten, und zwar fast überall als ohnmächtige, von den Bourgeois überstimmte und politisch exploitierte Minderzahl". Unfähig, den Aufstand zu leiten, die revolutionären Kräfte zersplitternd, statt sie zu zentralisieren, die Leitung der Revolution den Herren Bourgeois überlassend, die solide und starke Organisation der Internationale auflösend, „haben uns die Bakunisten in Spanien ein unübertreffliches Muster davon geliefert, wie man eine Revolution nicht machen muss".

Das oben Dargelegte zusammenfassend, kommen wir zu folgenden Schlussfolgerungen:

1. Die prinzipielle Beschränkung der revolutionären Aktion auf den Druck von unten und der Verzicht auf den Druck auch von oben ist Anarchismus.

2. Wer die neuen Aufgaben in der Revolutionszeit, die Aufgaben der Aktion von oben nicht begreift, wer die Bedingungen und das Programm einer solchen Aktion nicht zu bestimmen weiß, der hat keine Ahnung von den Aufgaben des Proletariats in jeder demokratischen Revolution.

3. Das Prinzip, dass für die Sozialdemokratie die Teilnahme an einer provisorischen revolutionären Regierung zusammen mit der Bourgeoisie unzulässig, dass jede solche Teilnahme ein Verrat an der Arbeiterklasse sei, ist ein Prinzip des Anarchismus.

4. Jede „ernsthafte revolutionäre Lage" stellt die Partei des Proletariats vor die Aufgabe der zielbewussten Durchführung des Aufstandes, der Organisierung der Revolution, der Zentralisation aller revolutionären Kräfte, der kühnen militärischen Offensive, der tatkräftigsten Ausnützung der revolutionären Staatsmacht.

5. Marx und Engels hätten die Taktik der neuen „Iskra" in dem jetzigen revolutionären Moment nie gebilligt und auch nicht billigen können, denn diese Taktik besteht gerade in der Wiederholung aller oben aufgezählten Fehler. Marx und Engels hätten die prinzipielle Stellung der neuen „Iskra" als eine Kontemplation des „Hintern" des Proletariats und eine Wiederholung der anarchistischen Irrtümer bezeichnet.

Im folgenden Artikel wollen wir die Aufgaben der provisorischen revolutionären Regierung untersuchen.3

1 Gemeint sind die Artikel von A. Martynow: „Revolutionäre Perspektiven" („Iskra", Nr. 90, 93 und 95) und von L. Martow: „Die Arbeiterpartei und die Machtergreifung' als unsere nächste Aufgabe" („Iskra", Nr. 93).

2 Friedrich Engels schrieb 1885 in der Einleitung zu Karl Marx' „Enthüllungen über den Kommunistenprozess zu Köln": „Die von Marx und mir redigierte Ansprache ist noch heute von Interesse, weil die kleinbürgerliche Demokratie auch jetzt noch diejenige Partei ist, welche bei der nächsten europäischen Erschütterung, die nun bald fällig wird in Deutschland unbedingt zunächst ans Ruder kommen muss, als Retterin der Gesellschaft vor den kommunistischen Arbeitern" („Enthüllungen", 4. Aufl., Berlin 1914, S. 45).

** Wäre er nur mit einigem Verstand geleitet worden. Armer Engels! Schade, dass er die neue „Iskra" nicht kannte! Er hätte dann gewusst, wie verhängnisvoll, verderblich, utopisch, bürgerlich, technisch einseitig und verschwörerisch eng die „jakobinische" Idee ist, den Aufstand „leiten" zu wollen!

3 Zur Ausführung dieses Vorhabens ist Lenin offenbar nicht gekommen: die hier angekündigte Fortsetzung der Artikelserie ist nicht erschienen.

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