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Wladimir I. Lenin 19051123 Über die Reorganisierung der Partei

Wladimir I. Lenin: Über die Reorganisierung der Partei1

[Nowaja Schisn", Nr. 9, 13 und 14, 10./23., 15./28. und 16./29. November 1905. Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 8, S. 504-515]

I

Die Bedingungen für die Tätigkeit unserer Partei verändern sieh gründlich. Wir haben die Versammlungs-, Presse- und Koalitionsfreiheit erobert. Es ist klar, dass diese Errungenschaften durchaus unsicher sind, und es wäre ein Irrtum, wenn nicht gar ein Verbrechen, sich auf diese Freiheiten zu verlassen. Der entscheidende Kampf steht uns noch bevor, und die Vorbereitung dieses Kampfes muss jetzt an erster Stelle stehen. Der illegale Parteiapparat muss beibehalten werden. Gleichzeitig aber ist es unbedingt notwendig, das gegenwärtig verhältnismäßig viel breitere Betätigungsfeld im weitesten Maße auszunützen. Es ist unbedingt notwendig, neben dem illegalen Parteiapparat immer mehr und mehr neue legale und halblegale Partei- (und sich an die Partei anlehnende) Organisationen zu schaffen. Ohne diese zuletzt erwähnte Arbeit wird es unmöglich sein, unsere Tätigkeit den neuen Verhältnissen anzupassen und die neuen Aufgaben zu lösen …

Um die Organisation auf neue Grundlagen zu stellen, ist ein neuer Parteitag unumgänglich notwendig. Nach den Statuten soll er jährlich einmal stattfinden, diesmal im Mai 1906, aber jetzt ergibt sich die Notwendigkeit, ihn früher einzuberufen. Wenn wir den Augenblick nicht nützen, kommen wir in dem Sinne zu spät, dass das von den Arbeitern so stark empfundene Bedürfnis, Organisationen zu schaffen, fehlerhafte, gefährliche Formen zeitigen kann, wodurch irgendwelche „Unabhängige" usw. gestärkt werden könnten. Man muss das Organisieren auf neue Art beschleunigen, die neuen Methoden allgemein zur Diskussion stellen und den „neuen Kurs" kühn und entschlossen festlegen.

Der in der heutigen Nummer erschienene und vom Zentralkomitee unserer Partei unterzeichnete Aufruf an die Partei setzt diesen neuen Kurs nach meiner innersten Überzeugung vollständig richtig fest. Wir, die Vertreter der revolutionären Sozialdemokratie, die Anhänger der „Mehrheit", haben oft gesagt, dass die vollkommene Demokratisierung der Partei unter den Bedingungen der illegalen Arbeit unmöglich und das „Wahlprinzip" unter solchen Verhältnissen eine Phrase ist. Und die Erfahrung hat uns recht gegeben. Oft wurde in der Parteiliteratur (siehe die Broschüre „eines Arbeiters" mit dem Vorwort Axelrods, den Brief „Ein Arbeiter, einer von Vielen" in der „Iskra" und die Broschüre „Die Arbeiter über die Parteispaltung") schon von den ehemaligen Anhängern der „Minderheit" behauptet, dass es in Wirklichkeit nicht gelungen sei, irgendeine ernstliche Demokratisierung, irgendeine wirkliche Wählbarkeit durchzuführen. Aber die Notwendigkeit des Übergangs zum Wahlprinzip unter den neuen Verhältnissen, beim Übergang zur politischen Freiheit, haben wir Bolschewiki immer anerkannt. Die Protokolle des 3. Parteitages der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands beweisen das besonders überzeugend, wenn es dazu noch eines Beweises bedarf.

So können wir unsere Aufgabe klar sehen: den illegalen Parteiapparat einstweilen beibehalten und einen neuen, offenen organisieren. Für den Parteitag lautet diese Aufgabe (deren konkrete Durchführung unbedingt praktisches Wissen und Kenntnis der Orts- und Zeitverhältnisse erfordert) wie folgt: den 4. Parteitag den Bestimmungen des Statuts gemäß einberufen und sofort, unverzüglich mit der Anwendung des Wahlprinzips beginnen. Das Zentralkomitee hat diese Aufgabe gelöst: die Leiter des Parteikomitees, die formell die Vertreter der voll berechtigten Organisationen und real die Vertreter der Parteikontinuität sind, sind berechtigt, an dem Parteitag mit beschließender Stimme teilzunehmen. Die von allen Parteimitgliedern, folglich auch von der Masse der der Partei angehörenden Arbeiter zu wählenden Delegierten hat das Zentralkomitee auf Grund des ihm zustehenden Rechts als Teilnehmer mit beratender Stimme eingeladen. Das Zentralkomitee hat ferner erklärt, dass es dem Parteitag sofort den Vorschlag machen wird, diese beratenden Stimmen in beschließende zu verwandeln. Werden sich die voll berechtigten Delegierten der Parteikomitees damit einverstanden erklären?

Das Zentralkomitee erklärt, dass sie seiner Meinung nach unbedingt damit einverstanden sein werden. Ich für meine Person bin fest davon überzeugt. Man muss einer solchen Sache zustimmen. Es ist nicht anzunehmen, dass die Mehrheit der Führer des sozialdemokratischen Proletariats damit nicht einverstanden sein wird. Wir sind überzeugt, dass die von der Zeitung „Nowaja Schisn" mit großer Genauigkeit registrierten Stimmen der Parteifunktionäre die Richtigkeit unserer Ansicht sehr bald bestätigen werden. Und wenn auch dieser Schritt (die Verwandlung der beratenden Stimme in eine beschließende) zu einem Kampfe führen sollte, so ist dessen Ausgang doch unzweifelhaft.

Betrachtet diese Frage von einem anderen Gesichtspunkt, nicht von der formalen, sondern von der sachlichen Seite! Droht der Sozialdemokratie bei der Durchführung des von uns vorgelegten Planes irgendeine Gefahr?

Eine Gefahr könnte man darin sehen, dass plötzlich große Massen von Nichtsozialdemokraten in die Partei eindringen. Dann würde die Partei in der Masse aufgehen, sie würde aufhören, die zielbewusste Avantgarde der Klasse zu sein, und ins Schlepptau der Masse geraten. Das wäre unbedingt eine beklagenswerte Periode der Partei. Und diese Gefahr könnte zweifelsohne die ernsteste Bedeutung erlangen, wenn die Neigung zur Demagogie bei uns vorhanden wäre oder wenn die Grundlagen der Partei (Programm, taktische Regeln, organisatorische Erfahrung) entweder ganz fehlten oder unzulänglich und schwankend wären. Aber die ganze Sache ist eben die, dass dieses „wenn" nicht vorhanden ist. Bei uns, den Bolschewiki, gab es nicht nur keine Neigung zur „Demagogie", sondern im Gegenteil, wir haben die ganze Zeit entschieden, offen und direkt gegen den geringsten Versuch der Demagogie gekämpft, haben von den in die Partei Eintretenden Klassenbewusstsein verlangt, wir haben an der gewaltigen Bedeutung der Kontinuität in der Parteientwicklung festgehalten, Disziplin gelehrt und für alle Parteimitglieder die Schulung in einer der Parteiorganisationen gefordert. Wir haben ein offiziell von allen Sozialdemokraten anerkanntes Programm, das feststeht und in keinem seiner wesentlichen Grundsätze eine Kritik hervorgerufen hat (eine Kritik der einzelnen Punkte und Formulierungen ist in jeder lebendigen Partei eine vollständig berechtigte und unumgänglich notwendige Sache). Wir haben taktische Resolutionen, die vom 2. und 3. Parteitag sowie durch die mehrjährige Arbeit der sozialdemokratischen Presse konsequent und systematisch herausgearbeitet wurden. Ebenso haben wir so manche organisatorische Erfahrungen und eine wirkliche Organisation, die bei uns eine erzieherische Rolle gespielt und auch schon unzweifelhaft Früchte getragen hat, die, wenn sie auch nicht besonders auffallend sind, doch nur von Blinden und Verblendeten geleugnet werden können.

Nein, Genossen, wir wollen diese Gefahr nicht übertreiben. Die Sozialdemokratie hat sich einen Namen gemacht, hat eine Richtung geschaffen, hat Kader sozialdemokratischer Arbeiter geschaffen. Und im jetzigen Augenblick, wo das heroische Proletariat seine Kampfbereitschaft und seine Fähigkeit zu kämpfen, solidarisch und ausdauernd für klar erkannte Ziele und im rein sozialdemokratischen Geiste zu kämpfen, durch die Tat bewiesen hat – in einem solchen Augenblick wäre es direkt lächerlich, daran zu zweifeln, dass die Arbeiter, die in unsere Partei eintreten und die morgen auf die Aufforderung des Zentralkomitees hin in die Partei eintreten werden, in 99 von 100 Fällen Sozialdemokraten sind. Die Arbeiterklasse ist instinktiv und elementar sozialdemokratisch gesinnt, und die mehr als zehnjährige Arbeit der Sozialdemokratie hat schon nicht wenig dazu beigetragen, diesen elementaren Instinkt in Bewusstsein zu verwandeln. Nur keine eingebildeten Schrecken, Genossen! Vergesst nicht, dass es in jeder lebendigen und sich entwickelnden Partei immer unbeständige, wankelmütige und schwankende Elemente geben wird. Aber diese Elemente ordnen sich selbst unter und werden sich dem erprobten und fest zusammengeschweißten sozialdemokratischen Kern unterordnen.

Unsere Partei ist in der Illegalität erstarrt. Sie ist in den letzten Jahren in ihr fast erstickt, wie sich ein Delegierter auf dem 3. Parteitag ganz richtig ausdrückte.2 Die Illegalität geht zu Ende. Darum mutig vorwärts, ergreift neue Waffen, verteilt sie an neue Leute, erweitert eure Stützpunkte, ruft die ganze sozialdemokratische Arbeiterschaft zu euch, schließt sie zu Hunderten und Tausenden in die Reihen der Parteiorganisation ein. Mögen ihre Delegierten die Reihen unserer Zentralstellen neu beleben, möge durch sie der neue Geist des jungen revolutionären Russland einströmen. Bis jetzt hat die Revolution alle grundlegenden theoretischen Thesen des Marxismus und alle wesentlichen Losungen der Sozialdemokratie immer wieder gerechtfertigt. Die Revolution hat auch unsere, die sozialdemokratische Arbeit sowie unsere Hoffnung und unseren Glauben an den wahrhaft revolutionären Geist des Proletariats gerechtfertigt. Werfen wir bei der unumgänglich notwendigen Reorganisierung der Partei alle Kleinlichkeit beiseite, beschreiten wir sofort den neuen Weg! Das wird uns nicht unseren alten illegalen Apparat nehmen (die Bestätigung und Anerkennung desselben durch die sozialdemokratische Arbeiterschaft steht außer Zweifel, das ist durch das Leben und den Gang der Revolution hundertmal eindringlicher bewiesen worden, als es Entscheidungen und Bestimmungen beweisen könnten). Das wird uns auch neue, junge Kräfte geben, die dem tiefsten Innern der allein, unbedingt und konsequent revolutionären Klasse entspringen, die Russland die Freiheit bereits halb erobert hat, die ihm noch die volle Freiheit erobern und es durch diese Freiheit zum Sozialismus führen wird.

II.

Der Beschluss des Zentralkomitees unserer Partei über die Einberufung des 4. Parteitags der SDAPR, der in Nr. 9 der „Nowaja Schisn" abgedruckt ist, ist ein entscheidender Schritt zur vollen Verwirklichung des demokratischen Prinzips in unserer Parteiorganisation. Die Wahl der Delegierten zum Parteitag (die vorerst nur beratende Stimme haben, aber später zweifellos mit beschließender teilnehmen werden) soll in einem Monat durchgeführt werden. Alle Parteiorganisationen haben deshalb so schnell wie möglich an die Besprechung der Frage der Personen der Kandidaten und der Aufgaben des Parteitages heranzutreten. Mit der Möglichkeit neuer Versuche des absterbenden Absolutismus, die versprochenen Freiheiten zu entziehen, über die revolutionären Arbeiter und vor allem über ihre Führer herzufallen, muss man unbedingt rechnen. Darum ist es (vielleicht mit Ausnahme besonderer Fälle) kaum statthaft, die richtigen Namen der Delegierten zu veröffentlichen. Auf die Pseudonyme, die zu gebrauchen uns die politische Sklaverei gelehrt hat, darf man nicht verzichten, so lange die Reaktionäre an der Macht sind. Es wäre auch angebracht, nach althergebrachter Weise „für den Fall der Aushebung" außer den Delegierten auch Ersatzmänner zu wählen. Wir werden uns nicht bei all diesen konspirativen Vorsichtsmaßnahmen aufhalten, denn die Genossen, die mit den lokalen Verhältnissen ihrer Tätigkeit bekannt sind, werden sich bei allen ihnen da erwachsenden Schwierigkeiten leicht zu helfen wissen. Die Genossen, die in der revolutionären Arbeit unter den Bedingungen des Absolutismus erfahren sind, sollen allen denen mit ihren Ratschlägen zu Hilfe kommen, die die sozialdemokratische Arbeit unter den neuen, „freien" („freien" einstweilen noch unter Anführungszeichen) Verhältnissen beginnen. Es versteht sich von selbst, dass diese Arbeit von den Mitgliedern unserer Komitees sehr viel Takt erfordert: die früheren formellen Prärogative verlieren jetzt unvermeidlich ihre Bedeutung, und es ist unumgänglich notwendig, wiederum auf Schritt und Tritt „von Anfang" an zu beginnen und den breiten Schichten der neuen Parteigenossen die große Wichtigkeit eines konsequenten sozialdemokratischen Programms und einer ebensolchen Taktik und Organisation zu beweisen. Man darf nicht vergessen, dass wir es bisher zumeist mit Revolutionären zu tun hatten, die nur aus einer bestimmten sozialen Schicht hervorgegangen waren, wogegen wir es jetzt mit typischen Vertretern der Massen zu tun haben werden. Diese Veränderung erfordert eine Änderung unserer Methoden nicht nur der Propaganda und Agitation (Notwendigkeit größerer Popularität, die Fähigkeit, an die Fragen heranzutreten, die Kunst, die grundsätzlichen Wahrheiten des Sozialismus auf sehr einfache, anschauliche und wirklich überzeugende Weise zu erklären), sondern auch der Organisation.

Ich möchte hier auf eine dieser Organisationsaufgaben eingehen. Der Beschluss des Zentralkomitees lädt die Delegierten aller Parteiorganisationen zum Parteitag ein und fordert alle sozialdemokratischen Arbeiter auf, diesen Organisationen beizutreten. Um diesen nützlichen Wunsch in der Tat verwirklichen zu können, ist die bloße „Einladung" an die Arbeiter, ist die bloße Erhöhung der Zahl der Organisationen des früheren Typus unzureichend. Nein, dazu ist die selbständige, schöpferische und gemeinschaftliche Ausarbeitung neuer Organisationsformen durch alle Genossen notwendig. Hier kann man keine im Voraus bestimmten Normen geben, denn die ganze Sache ist etwas Neues: hier soll die Kenntnis der örtlichen Umstände, vor allem aber die Initiative aller Parteimitglieder, in Anwendung kommen. Die neue Organisationsform oder, richtiger, die neue Form der grundlegenden Organisationszelle der Arbeiterpartei soll, im Vergleich mit den früheren Zirkeln, unbedingt breiter sein. Vermutlich wird die neue Zelle außerdem auch eine weniger straff geformte, eine mehr „lose"3 Organisation sein müssen. Bei voller Vereinsfreiheit, und wenn die Bürgerrechte der Bevölkerung vollständig gesichert wären, müssten wir selbstverständlich überall sozialdemokratische (nicht nur gewerkschaftliche, sondern auch politische, der Partei angehörende) gründen. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen muss man auf allen möglichen Wegen und mit allen zu Gebote stehenden Mitteln diesem Ziele näher zu kommen suchen.

Man muss sofort die Initiative aller Parteifunktionäre und aller mit der Sozialdemokratie sympathisierenden Arbeiter wecken. Ferner ist es notwendig, überall Referate, Besprechungen, Versammlungen und Meetings über den 4. Parteitag der SDAPR abzuhalten, die Aufgaben dieses Parteitages in populärer und leichtverständlicher Form darzulegen, auf die neue Form der Organisation des Parteitags hinzuweisen und alle Sozialdemokraten einzuladen, an dem Aufbau einer wirklich proletarischen sozialdemokratischen Partei auf neuer Grundlage teilzunehmen. Diese Arbeit wird eine Menge Erfahrungen geben, wird in zwei bis drei Wochen (wenn die Sache energisch betrieben wird) aus der Mitte der Arbeiter neue sozialdemokratische Kräfte hervorbringen und das Interesse der breitesten Schichten für die sozialdemokratische Partei wecken, die wir jetzt in Gemeinschaft mit allen Genossen aus den Reihen der Arbeiter zu reorganisieren entschlossen sind. Unverzüglich wird in allen Versammlungen die Frage der Gründung von Vereinen, Organisationen und Gruppen der Partei gestellt werden. Jeder Verein, jede Organisation und Gruppe wird sofort ein Büro, eine Leitung oder einen leitenden Ausschuss, mit einem Worte, eine ständige Zentralstelle wählen zur Führung der Organisationsgeschäfte, zur Verbindung mit den lokalen Parteiinstanzen, zur Übernahme und Verbreitung der Parteiliteratur, zur Erhebung der Beiträge für die Parteiarbeit, zur Veranstaltung von Versammlungen, Lektionen und Referaten und schließlich zur Vorbereitung der Wahlen der Delegierten für den Parteitag. Die Parteikomitees werden sich selbstverständlich bemühen, diesen Organisationen zu helfen und sie mit Materialien zu versorgen, die sie darüber aufklären, was die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands ist, und sie mit ihrer Geschichte und ihren gegenwärtigen großen Aufgaben bekannt machen.

Ferner wäre es an der Zeit, für die Errichtung von sozusagen lokalen wirtschaftlichen Stützpunkten der sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen in der Form von durch Parteimitglieder bewirtschafteten Speisehäusern, Teestuben, Bierhallen, Bibliotheken, Lesezimmern, Tirs* usw. zu sorgen. Man darf nicht vergessen, dass nicht nur die „absolutistische" Polizei, sondern auch die „absolutistischen" Unternehmer die sozialdemokratischen Arbeiter verfolgen und die Agitatoren aus der Arbeit entlassen werden, und darum ist die Errichtung einer von der Willkür der Fabrikanten möglichst unabhängigen Basis sehr wichtig.

Überhaupt sollen wir Sozialdemokraten die gegenwärtige Erweiterung der Aktionsfreiheit auf jede nur mögliche Weise ausnützen. Je mehr diese Freiheit gesichert sein wird, um so entschiedener werden wir die Losung „Hinein ins Volk!" ausgeben. Jetzt wird sich die Initiative der Arbeiter selbst in einem solchen Maße zeigen, wie es wir, die gestrigen Konspiratoren und „Zirkelmenschen", nicht einmal zu träumen wagten. Jetzt wird die Wirkung der sozialistischen Ideen auf die Massen des Proletariats Wege einschlagen, auf denen ihr zu folgen uns oft ganz unmöglich sein wird. Dementsprechend wird es notwendig sein, für eine richtigere Verteilung der sozialdemokratischen Intelligenz Sorge zu tragen,** damit sie nicht herum sitzt, wo die Bewegung schon auf eigenen Füßen steht und, wenn man sich so ausdrücken darf, mit den eigenen Kräften auskommt. Die Intellektuellen sollen „nach unten" gehen, wo die Arbeit schwieriger ist, die Bedingungen härter sind und der Mangel an erfahrenen und gebildeten Leuten größer ist, wo es bedeutend weniger Lichtquellen gibt und das politische Leben schwächer pulsiert. „Ins Volk" müssen wir sowohl im Falle der Wahlen gehen, an denen die ganze Bevölkerung, sogar die aus den entlegensten Winkeln teilnehmen wird, als auch (und das ist noch viel wichtiger) im Falle des offenen Kampfes, um die Reaktion der provinziellen Vendée paralysieren zu können und um im ganzen Lande bei allen Proletariermassen die Verbreitung der von den großen Zentren ausgehenden Losungen zu sichern.

Gewiss, jede Übertreibung ist schädlich; zur dauerhaften und möglichst „mustergültigen" Organisierung der Arbeit werden wir auch jetzt noch öfters unsere besten Kräfte an diesem oder jenem wichtigen Zentrum zusammenziehen müssen. Die Erfahrung wird uns lehren, welche Proportionen da zu beobachten sein werden. Unsere Aufgabe besteht jetzt nicht so sehr darin, Normen für die Organisation nach den neuen Grundsätzen aufzustellen, als vielmehr darin, eine möglichst breit angelegte und kühne Arbeit zu entfalten, um auf dem 4. Parteitag die Schlussfolgerungen aus der bisherigen Erfahrung richtig zu ziehen und zu formulieren.

III.

In den ersten beiden Abschnitten haben wir uns mit der allgemeinen Bedeutung des Wahlprinzips in der Partei und der Notwendigkeit neuer Organisationszellen und -formen beschäftigt. Jetzt werden wir noch eine äußerst dringende Frage: die der Vereinigung der Partei, näher betrachten.

Es ist für niemanden ein Geheimnis, dass die gewaltige Mehrheit der sozialdemokratischen Arbeiterschaft mit der Parteispaltung höchst unzufrieden ist und den Zusammenschluss verlangt. Ebenso ist es kein Geheimnis, dass diese Spaltung bei den sozialdemokratischen Arbeitern (oder bei denen, die es zu werden bereit sind) in ihrem Verhältnis zur Sozialdemokratischen Partei eine gewisse Abkühlung hervorgerufen hat.

Dass sich die „Spitzen" der Partei selbst zusammenschließen werden, das zu erhoffen haben die Arbeiter fast aufgehört. Die Notwendigkeit des Zusammenschlusses wurde offiziell sowohl auf dem 3. Parteitag der SDAPR als auch auf der diesjährigen Konferenz der Menschewiki im Mai anerkannt. Seitdem ist ein halbes Jahr verflossen und der Zusammenschluss ist fast um keinen Schritt vorwärtsgekommen. Darum ist es gar nicht verwunderlich, dass die Arbeiter Ungeduld zu zeigen begannen. Es ist auch nicht verwunderlich, dass der „Arbeiter, einer unter vielen", der in der „Iskra" und in einer von der Mehrheit herausgegebenen Broschüre („Die Arbeiter über die Parteispaltung", Ausgabe des ZK, Genf 1905) über die Einigung schrieb, schließlich den sozialdemokratischen Intellektuellen mit der „Faust von unten" drohte. Den einen Sozialdemokraten (den Menschewiki) missfiel damals diese Drohung, die anderen (die Bolschewiki) haben sie als gerechtfertigt und im Grunde vollständig richtig anerkannt.

Mir scheint, dass jetzt der richtige Moment gekommen ist, wo die klassenbewussten sozialdemokratischen Arbeiter ihre Absichten (ich sage nicht „Drohung", denn dieses Wort riecht nach Beschuldigungen und Demagogie, wir aber müssen das eine wie das andere vermeiden) durchführen können und müssen. In der Tat ist jetzt die Zeit gekommen, auf jeden Fall wird sie aber jetzt kommen, wo man das Wahlprinzip nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch in den Parteiorganisationen wird anwenden können, und zwar nicht wie eine schöne, leere Phrase, sondern als ein wirklich neues Prinzip, das die Verbindungen der Partei wirklich erneuert, erweitert und festigt. Die „Mehrheit" hat durch das Zentralkomitee zur sofortigen Annahme und Anwendung des Wahlprinzipes aufgefordert. Die „Minderheit" geht denselben Weg. Und die sozialdemokratische Arbeiterschaft bildet die gewaltige und überwiegende Mehrheit in allen sozialdemokratischen Organisationen, Institutionen, Versammlungen usw.

Das heißt, dass jetzt die Möglichkeit besteht, nicht nur zur Vereinigung zu überreden, nicht nur Versprechungen, sich zu vereinigen, zu erreichen, sondern sich wirklich zu vereinigen, und zwar durch einen einfachen Beschluss der Mehrheit der organisierten Arbeiter beider Fraktionen. Man braucht keine „Verpflichtungen aufzuerlegen", denn die Notwendigkeit der Einheit wurde im Prinzip von allen anerkannt und die Arbeiter haben die prinzipiell bereits entschiedene Frage nur praktisch durchzuführen.

Man kann ja das Verhältnis zwischen den Funktionen der Intellektuellen und denen des Proletariats (der Arbeiter) in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung ziemlich genau mit der allgemeinen Formel ausdrücken: Die Intellektuellen lösen die Fragen gut „prinzipiell", zeichnen gut Schemata und beurteilen auch sehr gut die Notwendigkeit ihrer Durchführung die Arbeiter jedoch handeln und setzen die graue Theorie in lebendige Praxis um.

Und ich glaube, mich nicht im Geringsten der Demagogie schuldig zu machen, die gewaltige Rolle des Bewusstseins in der Arbeiterbewegung keineswegs zu unterschätzen und auf keinen Fall die gigantische Bedeutung der marxistischen Theorie und der marxistischen Prinzipien abzuschwächen, wenn ich jetzt sage: wir haben sowohl auf dem Parteitag als auch auf der Konferenz die „graue Theorie" der Einigung der Partei aufgestellt; Arbeiter, Genossen! helft uns, diese graue Theorie in lebendige Praxis umzusetzen! Tretet in Massen unseren Parteiorganisationen bei! Macht aus unserem 4. Parteitage und aus der zweiten menschewistischen Konferenz einen achtunggebietenden und großartigen Parteitag der sozialdemokratischen Arbeiterschaft! Beschäftigt euch im Verein mit uns mit der Frage des Zusammenschlusses – möge es bei dieser Frage ausnahmsweise (es wird das eine solche Ausnahme sein, die die entgegengesetzte Regel bestätigt!) ein Zehntel Theorie und neun Zehntel Praxis geben! Dieser Wunsch ist doch wahrhaftig gerecht, historisch notwendig und psychologisch begreiflich. Wir haben so lange in der Emigrantenatmosphäre „theoretisiert" (manchmal, gestehen wir's nur, im leeren Raum), dass es uns bei Gott nichts schaden würde, wenn wir ein ganz kleines bisschen, ein ganz klein wenig „den Bogen nach der anderen Seite überspannen" und die Praxis etwas mehr in den Vordergrund rücken würden. In der Frage der Vereinigung, bei deren Behandlung wir in Verbindung mit den Ursachen der Spaltung eine Unmenge Tinte und einen Haufen Papier verschwendet haben, ist ein solches Vorgehen unbedingt am Platze. Besonders wir Emigranten haben uns nach der Praxis gesehnt. Und wir haben dabei doch ein schon sehr gutes und vollständiges Programm der ganzen demokratischen Revolution fertiggestellt. Vereinigen wir uns also zur Durchführung dieser Revolution!

1 Der Artikel „Über die Reorganisation der Partei" war der erste, den Lenin nach seiner Rückkehr aus der Emigration nach Russland für die „Nowaja Schisn" schrieb. Dieser Artikel (es waren eigentlich drei Feuilletons, die unter der gleichen Überschrift erschienen) diente zur Begründung einer denselben Titel tragenden Resolution, die auf der Tammerforser Konferenz angenommen wurde.

[Ausgewählte Werke, Band 3, Anm. 150:] Der Artikel „Über die Reorganisation der Partei“, abgedruckt in den Nummern 9, 13 und 14 der „Nowaja Schisn“ vom 10./23., 15./28. und 16./29. November 1905, war der erste Artikel, den Lenin nach seiner Rückkehr nach Russland im Zusammenhang mit der Notwendigkeit der Umorganisierung der Partei unter den neuen Verhältnissen ihrer Arbeit schrieb.

2 Die zitierten Worte wurden von Krassin in dem Bericht gebraucht, den er im Namen des ZK der SDAPR auf dem 3. Parteitage erstattete.

3 „lose" bei Lenin deutsch. D. Red.

* Ich weiß dafür kein zutreffendes russisches Wort und bezeichne mit „Tir" ein Lokal, wo man nach der Scheibe schießt, wo alle Waffengattungen vorrätig sind, und schießlustige Besucher gegen geringes Entgelt mit Revolvern und Karabinern nach der Scheibe schießen können. In Russland ist die Versammlungs- und Koalitionsfreiheit proklamiert. Die Bürger sind berechtigt, sich zur Abhaltung von Schießübungen zu versammeln, und es kann daraus niemandem eine Gefahr erwachsen. In jeder europäischen Großstadt findet man solche allgemein zugängliche Schießstellen in Kellerlokalen, zuweilen außerhalb der Stadt usw. Und für die Arbeiter ist das Erlernen des Schießens, des Waffengebrauches ganz und gar nicht überflüssig. Es ist selbstverständlich, dass wir diese Sache nur dann ernsthaft und in größerem Maßstabe betreiben können, wenn die Koalitionsfreiheit gesichert sein wird und man jeden Polizeischuft, der sich unterstehen sollte, diese Vereine aufzulösen, gerichtlich wird verfolgen können. [„Tir" nennt man auch heute in der Sowjetunion sowohl die größeren militärischen als auch die kleineren Schießstätten, die in jedem Ort, jedem Betrieb, jedem Klub anzutreffen sind. D. Red.]

** Ich habe auf dem 3. Parteitag den Wunsch geäußert, dass in den Parteikomitees auf acht Arbeiter zwei Intellektuelle kommen sollen. Wie veraltet ist dieser Wunsch! Jetzt wäre zu wünschen, dass in den neuen Parteiorganisationen auf einen der Sozialdemokratie angehörenden Intellektuellen einige hundert sozialdemokratische Arbeiter entfallen.

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