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Wladimir I. Lenin 19061223 Das Proletariat und sein Alliierter in der russischen Revolution

Wladimir I. Lenin: Das Proletariat und sein Alliierter in der russischen Revolution

[Proletarij" Nr. 10, 2. Januar 1907 (20. Dezember 1906). Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 272-284]

So hat K. Kautsky das letzte Kapitel seines in den letzten Heften der „Neuen Zeit" erschienenen Artikels „Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution" überschrieben.1 Ohne Zweifel wird dieser Artikel, ebenso wie andere Arbeiten Kautskys, bald in russischer Übersetzung erscheinen. Alle Sozialdemokraten müssen diesen Artikel unbedingt kennen lernen – nicht weil man von einem deutschen Theoretiker des Marxismus eine Antwort auf die brennenden Fragen unserer Taktik erwarten kann (das wären schlechte russische Sozialdemokraten, die solche Antworten aus der Ferne erwarten) –, sondern weil Kautsky mit ausgezeichneter Logik die Grundlagen der gesamten sozialdemokratischen Taktik in der bürgerlichen russischen Revolution untersucht. Solche Arbeiten überlegender, wissender und erfahrener Sozialdemokraten, die es ermöglichen, sich über den Alltag zu erheben, in die Grundfragen der Taktik des Proletariats einzudringen, sich klarer zu werden über die prinzipiellen Tendenzen und die Denkmethoden selbst in den verschiedenen Strömungen der Sozialdemokratie – sie sind für alle Mitglieder unserer Partei, für alle klassenbewussten Arbeiter, die mit der Kleinarbeit des Alltags überhäuft sind, denen die abgedroschenen Plattheiten grundsatzloser, liberal-bürgerlicher Schreiberseelen in den Ohren dröhnen, ganz besonders wichtig.

Der letzte Artikel Kautskys ist in dieser Hinsicht ganz besonders wichtig, da er die Möglichkeit gibt, den Charakter der Fragen, die Plechanow Kautsky (und anderen ausländischen Sozialisten) gestellt hat, mit der Methode zu vergleichen, die Kautsky bei der Beantwortung von einigen dieser Fragen anwendet.

Plechanow, den der Kadett Melgunow im heutigen „Towarischtsch" (vom 23. [10.] Dezember) so treffend als „früheren Führer und Theoretiker der Russischen Sozialdemokratie"2 bezeichnet hat, befragt Kautsky 1. über den „allgemeinen Charakter" der russischen Revolution: ob es eine bürgerliche oder eine sozialistische Revolution sei, 2. über das Verhältnis der Sozialdemokratie zur bürgerlichen Demokratie und 3. über die Taktik der Sozialdemokratie bei den Dumawahlen.

Der Führer der russischen Opportunisten wollte bei Kautsky eine Billigung der Blocks mit den Kadetten erschleichen. Der Führer der deutschen revolutionären Sozialdemokraten durchschaute die Absicht des Fragestellers, ihm eine Antwort zu entlocken auf etwas, wovon in den Fragen nicht direkt gesprochen wird, und zog es vor, Plechanow in seiner ruhigen, ausführlichen und propagandistisch geschriebenen Erläuterung auseinanderzusetzen, wie ein Marxist Fragen über die bürgerliche Revolution und über die bürgerliche Demokratie überhaupt stellen muss. Schauen wir uns diese Erläuterung Kautskys etwas aufmerksamer an.

Es wäre oberflächlich, die russische Revolution als eine Bewegung zu betrachten, die auf den Sturz des Absolutismus gerichtet ist. Man muss sie als ein Erwachen breiter Volksmassen zu selbständiger politischer Tätigkeit betrachten. Das ist der Grundgedanke, von dem Kautsky ausgeht.

Das bedeutet folgendes: Oberflächlich wäre eine Analyse der Sozialdemokratie, die sich darauf beschränkt, auf die Erkämpfung der politischen Freiheit (den Sturz des Absolutismus) sowie auf die „Gemeinsamkeit" dieser Aufgaben für verschiedene Klassen hinzuweisen. Man muss die Lage der Massen betrachten, ihre objektiven Lebensbedingungen, den Unterschied der Klassen innerhalb dieser Massen, den realen Inhalt der Freiheit, die sie tatsächlich erstreben. Nicht aus einer allgemeinen Phrase muss man die Gemeinsamkeit der Interessen ableiten, nicht von der „politischen Freiheit" überhaupt auf den gemeinsamen Kampf verschiedener Klassen schließen, – sondern umgekehrt, aus der genauen Analyse der Lage und der Interessen der verschiedenen Klassen muss man folgern, inwieweit und worin ihr Kampf für die Freiheit, ihr Streben nach Freiheit identisch ist oder zusammenfällt (und ob es zusammenfällt?). Nicht kadettisch, nicht liberal muss man urteilen, nicht so wie die Herren Prokopowitsch und Konsorten, sondern marxistisch.

Ferner, wenn der Ausgangspunkt die Interessen der Massen sind, so ist der Angelpunkt der russischen Revolution die Agrar-(Boden-)Frage. Auf Niederlage oder Sieg der Revolution darf man nicht schließen auf Grund von Gewaltakten der Regierung oder von Symptomen der „Reaktion" (die die Aufmerksamkeit von vielen kadettenähnlichen Sozialdemokraten ganz in Anspruch nimmt), sondern auf Grund der Berücksichtigung der Lage der Massen im Kampf um den Boden.

Die Landwirtschaft ist die Grundlage der Volkswirtschaft Russlands. Die Landwirtschaft verkommt, die Bauern sind ruiniert. Sogar die Liberalen (Kautsky zitiert die Kadetten Petrunkewitsch und Manuilow3) erkennen das. Kautsky begnügt sich jedoch nicht mit einem Hinweis darauf, dass die Liberalen und die Sozialisten diese Ansicht miteinander gemein haben. Er erlaubt sich nicht, hieraus den kadettischen Schluss zu ziehen: „Also müssen die Sozialdemokraten die Kadetten unterstützen." Er geht sofort über zur Analyse der Klasseninteressen und zeigt auf, dass die Halbheit der Liberalen in der Agrarfrage unvermeidlich ist. Die Liberalen geben zwar das Verkommen der Landwirtschaft im Allgemeinen zu, begreifen jedoch nicht den kapitalistischen Charakter der Landwirtschaft und die sich daraus ergebende Frage, aus welchen besonderen Ursachen sich gerade die kapitalistische und nicht irgendeine andere Evolution verzögert hat.

Und Kautsky untersucht ausführlich eine dieser besonderen Ursachen, nämlich den Kapitalmangel in Russland. Das ausländische Kapital spielt bei uns eine besonders hervorragende Rolle. Dies hemmt die kapitalistische Entwicklung der Landwirtschaft. Kautsky folgert: „Das Verkommen der Landwirtschaft, das ist neben dem Aufkommen des industriellen Proletariats die Hauptursache der jetzigen russischen Revolution."4

Man sieht: Kautsky studiert aufmerksam und vorsichtig den besonderen Charakter der bürgerlichen Revolution in Russland. Im Gegensatz zu den Kadetten und den kadettenähnlichen Sozialdemokraten umgeht er diese Besonderheiten nicht mit einem doktrinären Hinweis auf den „allgemeinen" Charakter jeder bürgerlichen Revolution.

Weiter untersucht Kautsky die Lösung der Agrarfrage. Er begnügt sich auch hier nicht mit der abgedroschenen liberalen Phrase: Siehe da, auch die Kadettenduma will den Bauern Land geben (siehe die Schriften Plechanows5). Nein. Er zeigt, dass eine Vergrößerung des Landanteils des Bauern ohne größte finanzielle Hilfe für die Bauern nichts bedeutet. Der Absolutismus ist nicht imstande, der Bauernschaft wirklich zu helfen. Und die Liberalen? Sie verlangen die Ablösung. Die Ablösung aber muss die Bauern zugrunde richten. „Nur bei Konfiskation des großen Grundbesitzes (von Kautsky gesperrt) ist es möglich, den Bodenanteil des Bauern erheblich zu vergrößern, ohne ihm neue Lasten aufzubürden."6 Die Liberalen aber sträuben sich aufs entschiedenste gegen die Konfiskation.

Es verlohnt sich, bei dieser Argumentation Kautskys zu verweilen. Wer auch nur einigermaßen mit den Parteischattierungen in den revolutionären Kreisen Russlands vertraut ist, weiß, dass die Opportunisten beider revolutionären Parteien gerade in der Frage der Ablösung nicht nur mit der liberalen Ansicht infiziert sind, sondern überdies auch Kautsky entstellt haben. Unsere Menschewiki haben sowohl auf dem Vereinigungsparteitag als auch in einer ganzen Reihe von Versammlungen in Petersburg (z. B. Dan im Sommer dieses Jahres in den Versammlungen, wo er vor Petersburger Arbeitern über den Parteitag Bericht erstattet hat) darauf hingewiesen, dass jener Punkt des Agrarprogramms falsch sei, der mit Hilfe der Bolschewiki angenommen wurde, die verlangten, unbedingt an Stelle des Wortes „Enteignung" (siehe den ursprünglichen Entwurf Maslows7) das Wort Konfiskation zu gebrauchen. Unsere Menschewiki erklärten, dass das verkehrt sei, dass nur vulgärer Revolutionarismus auf Konfiskation bestehen könne, dass die Frage der Ablösung für den sozialen Umsturz unwichtig sei, und beriefen sich hierbei auf Kautskys Broschüre „Die soziale Revolution", in der Kautsky in Bezug auf die sozialistische Revolution überhaupt die Zulässigkeit der Ablösung auseinandersetzt.8 Die Sozialrevolutionären Menschewiki, Halbkadetten, Volkssozialisten, verteidigten genau so ihre Schwenkung zum Liberalismus in der Frage der Ablösung (in einem der Hefte der „Narodno-sozialistitscheskoje Obosrenije9) und beriefen sich ebenfalls auf Kautsky.

Kautsky kennt wahrscheinlich weder die Stellung der Menschewiki in dieser Frage noch die Bedeutung der Politik der Volkssozialisten und ihrer Gruppe. Durch die Art aber, wie er die Frage der Ablösung in der russischen Revolution stellte, hat er wiederum allen unseren Opportunisten eine vorzügliche Lehre darüber erteilt, wie man nicht argumentieren darf. Man darf nicht aus allgemeinen Voraussetzungen über die Beziehung von Ablösung und Konfiskation in verschiedenen Revolutionen oder in der sozialistischen Revolution überhaupt auf die Notwendigkeit der Ablösung im Russland der Jahre 1905/06 schließen. Man muss umgekehrt verfahren. Man muss untersuchen, welche Klassen es bei uns in Russland notwendig gemacht haben, die Frage der Ablösung so zu stellen, wie wir es tun, man muss aus den Interessen dieser Klassen die politische Bedeutung der gegebenen Frage in der gegebenen Revolution ableiten und erst dann über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Auffassungen der verschiedenen Parteien urteilen.

Es versteht sich von selbst, dass Kautsky auf diesem Weg nicht zur Vertuschung des Unterschieds zwischen den Liberalen und den Revolutionären in der Ablösungsfrage (wie stets die Anhänger Plechanows und die Volkssozialisten) gelangte, sondern zur Betonung der Tiefe dieses Unterschieds. Plechanow stellte Kautsky seine Fragen und verhüllte durch Vermeidung konkreter Fragen den Unterschied zwischen der „oppositionellen" und der „revolutionären" Bewegung. Kautsky riss diese Plechanowschen Hüllen herunter, zog die wichtige Ablösungsfrage ans Tageslicht und zeigte Plechanow, dass nicht nur die Schwarzhunderter, sondern auch die Liberalen „auf ihre Weise" gegen die revolutionäre Bewegung der Bauern kämpfen.

Ohne Aufhebung des stehenden Heeres" – schreibt Kautsky –, „der Flottenrüstungen, ohne Konfiskation des gesamten Vermögens der kaiserlichen Familie, der Klöster, ohne Staatsbankrott, ohne Konfiskation der großen Monopole, soweit sie noch privat betrieben werden – der Eisenbahnen, Petroleumquellen, Bergwerke, Eisenhütten und dergleichen –, werden nicht die ungeheuren Summen aufgebracht werden können, deren die russische Landwirtschaft bedarf, soll sie aus ihrer furchtbaren Verkommenheit herausgerissen werden."10

Man erinnere sich der üblichen menschewistischen Reden über den Utopismus und die Phantasterei der Bolschewiki, z. B. an Plechanows Reden auf dem Parteitag über die Forderung, die Agrarfrage und die politische Frage zu vereinigen (Aufhebung des stehenden Heeres, Wahl der Staatsbeamten durch das Volk und so weiter). Plechanow lächelte über die Aufhebung des stehenden Heeres und die Wahl der Beamten durch das Volk! Die Plechanowsche „Sowremjennaja Schisn" billigt die Richtung des „Nasche Djelo", bezeichnet politischen Opportunismus als „politischen Materialismus" (??) und stellt ihn der „revolutionären Romantik" gegenüber.11

Es stellt sich heraus, dass der vorsichtige Kautsky viel weiter geht als der radikalste Bolschewik, viel „utopischere" und (vom Standpunkt des Opportunisten) „romantischere" Forderungen in Zusammenhang mit der Agrarfrage aufstellt.

Kautsky fordert nicht nur die Konfiskation der Ländereien des großen Grundbesitzes, nicht nur die Aufhebung des stehenden Heeres, sondern auch die Konfiskation der großen kapitalistischen Monopole!

Und Kautsky bemerkt ganz folgerichtig sofort nach der oben

angeführten Stelle:

Dass aber die Liberalen vor so riesenhaften Aufgaben, vor so einschneidenden Umwälzungen der bestehenden Eigentumsverhältnisse zurückschrecken, ist klar. Im Grunde wollen sie nichts als die bestehende Politik weiterführen, ohne die Grundlagen der Ausbeutung Russlands durch das ausländische Kapital anzutasten. Sie halten fest am stehenden Heere, das allein in ihren Augen die Ordnung sichern und ihr Eigentum retten kann …“12

Plechanow protestiert: man habe ihm Unrecht getan; er habe Kautsky nur über die Unterstützung von oppositionellen Parteien bei den Dumawahlen befragt, und die Antwort gehe nicht auf dies Thema ein! Dumawahlen und – Abschaffung des stehenden Heeres! Welche Absonderlichkeit des anarchistischen Gedankengangs eines Phantasten, welch revolutionäre Romantik an Stelle des von den Opportunisten geforderten „politischem Materialismus".

Kautsky aber fährt „taktlos" fort, als Antwort auf die Frage über die Dumawahlen die Liberalen zu kritisieren. Er wirft ihnen vor, dass sie auch weiterhin jahraus jahrein eine Milliarde Rubel für den Militarismus und für die Verzinsung der Staatsschuld aus dem russischen Volke herauspumpen wollen.

Sie (die Liberalen) glauben, die Einrichtung einer Duma genüge, um Milliarden aus dem Boden zu zaubern.“13 „Ebenso wenig wie der Zarismus vermag dies (die russischen Bauern zufriedenzustellen) der Liberalismus.“14

Kautsky widmet der Klarstellung der Beziehungen des Liberalismus zur Sozialdemokratie ein besonderes Kapitel. Er weist darauf hin, dass es in Russland eine bürgerliche Demokratie nach der alten Schablone, in der das städtische Kleinbürgertum Jahre hindurch eine beständige Stellung einnahm, nicht gibt. Im Gegensatz zu Westeuropa wird in Russland das städtische Kleinbürgertum „eine sichere Stütze der revolutionären Parteien nicht bilden.15

So fehlt in Russland das feste Rückgrat einer bürgerlichen Demokratie".16 Diese Folgerung Kautskys gründet sich auf eine Untersuchung der besonderen Lage des städtischen Kleinbürgertums sowie auf die Berücksichtigung der Tatsache, dass der Klassenantagonismus zwischen den Kapitalisten und dem Proletariat in Russland unvergleichlich stärker entwickelt ist als in den Epochen der bürgerlichen Revolutionen „alter Schablone". Die Bedeutung dieser Folgerung ist ungeheuer. Gerade in diesem Punkt liegt das Schwergewicht der ganzen „Korrektur", die Kautsky an Plechanows Fragestellung vorgenommen hat – einer Korrektur, die einer grundlegenden Änderung gleichkommt.

Plechanow operiert in seinen Fragen mit der alten Schablone der bürgerlichen Demokratie, nichts mehr. Er gebraucht ein abgedroschenes Wort und vergisst dabei vollständig, auf Grund der russischen Tatsachen zu bestimmen, welchen Grad von Demokratismus die verschiedenen Schichten haben, die gegenwärtig in Russland als bürgerliche Demokratie auftreten, wie fest dieser Demokratismus ist usw. Das Verdienst Kautskys besteht darin, dass er diese Hauptsünde Plechanows vermerkt hat, und darangegangen ist, ihm praktisch die Methode zu erklären, mit der man zu einem wirklichen Verständnis der bürgerlichen Demokratie in Russland gelangen muss. Und die gediegene Analyse Kautskys lässt aus der alten abgewetzten Schablone die Umrisse der lebendigen gesellschaftlichen Kräfte Russlands hervortreten: des städtischen Kleinbürgertums, der Klasse der Grundbesitzer, die für einen Sechser liberalisieren und für einen Taler die Konterrevolution der Schwarzhunderter unterstützen, der Kapitalisten, die das Proletariat mehr als das Feuer fürchten – und schließlich der Bauernschaft.

Die nebelhafte Frage der Stellung zur „bürgerlichen Demokratie" (vom französischen Typus der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts?) ist verschwunden. Der Nebel wurde zerstreut. Aber gerade mit diesem Nebel haben unsere Propokowitsch, Kuskowa, Isgojew, Struve und andere Liberalen, denen Plechanow in die Hand arbeitet, das Volk blind gemacht. An Stelle des Nebels der alten Schablone hat uns die wirklich marxistische Analyse das ganz besondere Wechselverhältnis des Demokratismus der verschiedenen Schichten und Elemente der russischen Bourgeoisie gezeigt.

Mit Hilfe dieser Analyse bestimmt Kautsky jenes besondere Verhältnis zwischen dem russischen Liberalismus und dem Revolutionarismus der Bauern, das die Kadetten bewusst verheimlichen und viele Sozialdemokraten in ihrer Blindheit nicht sehen!

Indes, je revolutionärer der Bauer wird, desto reaktionärer der Großgrundbesitzer; desto mehr verliert der Liberalismus in ihm die Stütze, die er früher besaß, desto haltloser werden die liberalen Parteien, desto mehr schwenken auch die liberalen Professoren und Advokaten der Städte nach rechts, um nicht völlig die Verbindung mit ihrer bisherigen Stütze aufzugeben."17

Dieser Prozess „beschleunigt nur den Bankrott des Liberalismus".

Erst nachdem Kautsky die Wurzeln dieses Bankrotts des Liberalismus in der gegenwärtigen russischen Revolution aufgedeckt hat, geht er zur unmittelbaren Antwort auf die Fragen Plechanows über. Bevor man darauf antwortet, ob die „Opposition“ unterstützt werden soll, muss man zu begreifen verstehen (setzt Kautsky auseinander), worin die Klassengrundlage und die Klassennatur dieser „Opposition" (oder des russischen Liberalismus) besteht und in welchem Verhältnis die Entwicklung der Revolution und der revolutionären Klassen zur Lage und zu den Interessen des Liberalismus steht. Nachdem Kautsky in erster Linie dies klargestellt hat, gelangt er zunächst zum Bankrott des Liberalismus und erst dann klärt er den Leser über die Plechanow interessierende Frage auf: Soll die Opposition bei den Dumawahlen unterstützt werden? Es nimmt nicht wunder, dass Kautsky zwei Drittel der Plechanowschen Fragen nicht zu beantworten brauchte …

Dafür aber helfen die Antworten Kautskys, die Plechanow nicht befriedigen mögen, der großen Masse der russischen Sozialdemokraten, über diese Dinge ins Reine zu kommen.

1. Ist die Revolution in Russland eine bürgerliche oder eine sozialistische Revolution?

Man darf die Frage nicht so stellen, sagt Kautsky. Das ist eine alte Schablone. Die russische Revolution ist natürlich keine sozialistische Revolution. Von einer sozialistischen Diktatur des Proletariats (seiner „Alleinherrschaft") kann gar keine Rede sein. Aber diese Revolution ist auch keine bürgerliche Revolution, denn „die Bourgeoisie gehört nicht zu den Triebkräften der heutigen revolutionären Bewegung Russlands". „Wo aber das Proletariat selbständig auftritt, hört die Bourgeoisie auf, eine revolutionäre Klasse zu sein."18

Und Kautsky erklärt mit einer Entschiedenheit, die die üblichen bolschewistischen „Taktlosigkeiten" gegenüber den Liberalen übertrifft, dass unsere Bourgeoisie die Revolution mehr fürchtet als die Reaktion, dass sie den Absolutismus hasst, weil er die Revolution hervorgerufen hat, dass sie nach politischer Freiheit verlangt, um der Revolution ein Ende zu machen! Plechanow aber hat in seinen Fragen den Kampf der Opposition gegen das alte Regime naiv mit dem Kampf gegen die Versuche der Regierung gleichgesetzt, die die revolutionäre Bewegung zu zerschlagen trachtet.

Diese erste Antwort Kautskys ist die glänzendste Bestätigung der gesamten entscheidenden Grundlage der Taktik des Bolschewismus. Bereits in den Genfer Zeitungen „Wperjod" und „Proletarij" und dann in der Broschüre „Zwei Taktiken" haben die russischen Bolschewiki stets die Grundlage ihres Kampfes gegen den Menschewismus in dem Kampf gegen die Entstellung des Begriffs „bürgerliche Revolution" durch die rechten Sozialdemokraten gesehen. Hundertmal haben wir erklärt und an der Hand zahlloser Äußerungen der Menschewiki nachgewiesen, dass man den Marxismus vulgarisiert, wenn man die Kategorie „bürgerliche Revolution" in dem Sinne versteht, dass man der Bourgeoisie die Hegemonie und die führende Rolle in der russischen Revolution zuerkennt. Bürgerliche Revolution trotz der Unbeständigkeit der Bourgeoisie, mittels Paralysierung der Unbeständigkeit der Bourgeoisie, – so formulierten die Bolschewiki die Grundaufgabe der Sozialdemokratie in der Revolution.

Die Analyse Kautskys befriedigt uns vollständig. Was wir für uns in Anspruch nahmen – die Verteidigung der Positionen der revolutionären Sozialdemokratie gegen den Opportunismus, keineswegs die Schaffung irgendeiner „originellen" bolschewistischen Richtung –, hat Kautsky vollauf bestätigt, und diese Bestätigung ist um so wertvoller, als sie durch eine Darstellung des Wesens der Sache und nicht durch eine einfache befehlsmäßige „Gutheißung" der einen oder der anderen Fraktion gegeben wird.

2. Kautsky hält es nicht nur für „sehr wohl möglich", dass im „Fortgange der Revolution der Sieg der sozialdemokratischen Partei zufällt", sondern erklärt es auch für eine Pflicht der Sozialdemokraten, „ihre Anhänger mit dieser Siegeszuversicht zu erfüllen, denn man kann nicht erfolgreich kämpfen, wenn man von vornherein auf den Sieg verzichtet".19

Diese Folgerung Kautskys ist eine zweite glänzende Bestätigung der Taktik des Bolschewismus. Wer auch nur einigermaßen mit der Literatur der beiden Richtungen innerhalb der Sozialdemokratie vertraut ist, der muss wissen, dass die Menschewiki mit allen Kräften die Möglichkeit und die Zweckmäßigkeit des Sieges der Sozialdemokratie in der gegenwärtigen russischen Revolution bestritten haben. Die Menschewiki haben noch auf ihrer Konferenz im Frühjahr 1905 (unter Mitwirkung Plechanows, Axelrods u. a.) eine Resolution angenommen, laut der die sozialdemokratische Partei nicht nach Eroberung der Macht streben soll. Und seit dieser Zeit zieht sich der Gedanke: die Sozialdemokraten dürfen in der bürgerlichen Revolution nicht den Sieg der Sozialdemokratie anstreben, wie ein roter (oder schwarzer?) Faden durch die gesamte Literatur und die gesamte Politik des Menschewismus.

Diese Politik ist Opportunismus. Der Sieg der Sozialdemokratie in der jetzigen russischen Revolution ist sehr wohl möglich. Wir sind verpflichtet, alle Anhänger der Arbeiterpartei mit dieser Siegeszuversicht zu erfüllen. Man kann nicht erfolgreich kämpfen, wenn man von vornherein auf den Sieg verzichtet.

Diese einfachen und klaren Wahrheiten, die durch die Plechanowsche Sophistik und Scholastik verunreinigt sind, muss unsere gesamte Partei durchdenken und sich zu eigen machen.

3. Annehmen, dass „alle jene Klassen und Parteien, die die politische Freiheit anstreben, einfach zusammenzuwirken hätten, um sie zu erringen" – heißt „nur die politische Oberfläche der Geschehnisse in Betracht ziehen".20

Das ist die dritte Bestätigung des Bolschewismus. Man darf nicht lediglich aus der Berufung darauf, dass die Kadetten „in ihrer Art für die Freiheit kämpfen", folgern, dass man mit ihnen zusammenwirken müsse. Das gehört zum Abc des Marxismus, das nur zeitweilig durch die Plechanow und Axelrod und ihre Verehrer verunreinigt worden ist.

4. Welches ist nun die Klasse, die dem sozialdemokratischen Proletariat helfen kann, in der jetzigen Revolution zu siegen, die es zu unterstützen, die die Grenzen der allmählich verwirklichbaren Umwandlungen zu bestimmen vermag? Diese Klasse ist nach Meinung Kautskys die Bauernschaft.

Eine solide ökonomische Interessengemeinschaft für die ganze Zeit des revolutionären Kampfes besteht aber nur zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft." „In der Interessengemeinschaft zwischen dem industriellen Proletariat und der Bauernschaft liegt die revolutionäre Kraft der russischen Sozialdemokratie und die Möglichkeit ihres Sieges, zugleich aber auch die Grenze der Möglichkeit seiner Ausbeutung."21

Das bedeutet: Nicht sozialistische Diktatur des Proletariats, sondern demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft. Mit anderen Worten: Kautsky hat den uralten Grundsatz der gesamten Taktik formuliert, den die revolutionären Sozialdemokraten im Gegensatz zu Opportunisten und „Vernarrten" vertreten. Jeder wirkliche und volle Sieg der Revolution kann nur die Diktatur sein, sagte Marx22, wobei er natürlich die Diktatur (d. h. die durch nichts begrenzte Herrschaft) der Masse über ein Häuflein und nicht umgekehrt im Auge hatte. Uns ist selbstverständlich nicht die eine oder andere Formulierung der Taktik durch die Bolschewiki wichtig, sondern das Wesen dieser Taktik, das von Kautsky voll bestätigt wird.

Wer sich die Rolle des Proletariats in unserer Revolution, ihren möglichen und notwendigen Allüerten marxistisch und nicht kadettisch vorstellen will, der muss zu den Auffassungen der revolutionären und nicht der opportunistischen Sozialdemokratie über die Grundlagen der proletarischen Taktik gelangen.

1 Der Artikel Kautskys wurde unter Redaktion Lenins ins Russische übersetzt: Karl Kautsky, „Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution“. („Neue Zeit", Nr. 9 und 10, 25. Jahrg., Bd. 1.) Redaktion und Vorwort von N. Lenin, Moskau, 1907. Verlag „Nowaja Epocha" („Neue Epoche").

In seinem Artikel fasste K. Kautsky seine von ihm in einer Reibe von Artikeln ausgesprochenen Anschauungen über die sozial-historischen Bedingungen, die Verlauf und Entwicklung der russischen Revolution bestimmten; zusammen. Eine Reihe dieser Artikel ist in russischer Übersetzung erschienen. Z. B. „Der russische und der amerikanische Arbeiter" – Redaktion und Vorwort von Lunatscharski. Verlag „Wperjod" ('..Vorwärts') St. Petersburg 1906.

Der Artikel Kautskys war eine Antwort auf den Fragebogen, mit dem sich G. V. Plechanow an die prominentesten Sozialdemokraten Europas: Kautsky, Guesde, Vandervelde und andere gewandt hatte. Der Fragebogen enthielt folgende Fragen:

1. Wie stellt sich der allgemeine Charakter der russischen Revolution dar? Stehen wir hier vor einer bürgerlichen oder vor der sozialistischen Revolution?

2. Welche Haltung hat die sozialdemokratische Partei zur bürgerlichen Demokratie einzunehmen, die auf ihre Weise um die politische Freiheit kämpft?

3. Welche Taktik hat die sozialdemokratische Partei bei den Wahlen zur Duma einzuschlagen, um, ohne den Boden der Amsterdamer Resolution zu verlassen, die Kräfte der bürgerlichen Oppositionsparteien zum Kampf gegen unser altes Regime auszunützen?

Das Erscheinen des Artikels von Kautsky, damals die bedeutendste Autorität in der internationalen Sozialdemokratie, hatte eine lebhafte Diskussion zur Folge. Fast alle Vertreter der verschiedenen Strömungen und Fraktionen der russischen Sozialdemokratie reagierten auf den Artikel von Kautsky und kommentierten seine Anschauungen je nach ihrer Auffassung über den revolutionären Prozess in Russland: 1. L. Martow schrieb einen Artikel: „Kautsky und die russische Revolution", „Otkliki" („Echo"), Sammelheft Nr. 2, St. Petersburg 1907 (Martow antwortete Borissow [S. A. Suworow] im „Wjestnik Schisni" (Bote des Lebens"] Nr. 3). 2. G. V. Plechanow – „Samjetki Publizista" („Notizen eines Publizisten") 1907. Brief 5. Verlag Glagolew. 3. N. Tscherewanin – „Vorwort zur Broschüre Karl Kautskys: ,Das gesellschaftliche Kräfteverhältnis in Russland'." Übersetzung von P. Demjanow. Verlag „Dwishenije". Moskau 1907. 4. N. TrotzkiZur Verteidigung der Partei". St. Petersburg 1907. 5. W. Lenin – „Das Proletariat und sein Verbündeter in der russischen Revolution", und später das Vorwort zur russischen Übersetzung der Broschüre.

2 Siehe Artikel von S. Melgunow „Einigkeit macht stark" („Towarischtsch" Nr. 136 vom 23. [10.] Dezember 1906).

3 Die von Kautsky zitierten Arbeiten von I. I. Petrunkewitsch „Zur Agrarfrage" und von Prof. A. A. Manuilow „Die Bodenfrage in Russland" wurden in der Artikelsammlung „Die Agrarfrage", Moskau 1906 und 1907, abgedruckt.

4 „Die Neue Zeit", Jahrgang 25, Bd. I, S. 290. Die Red.

5 Siehe die Broschüre Plechanows: „Briefe über Taktik und Taktlosigkeit", besonders das Vorwort, S. 4. Abgedruckt in Bd. 15 der Werke Plechanows. Staatsverlag, 1927. „Lasst euch nicht irremachen“ – so wandte sich G. Plechanow an die Arbeiter – „dadurch, dass in der Duma die bürgerlichen Parteien herrschen. Nicht deshalb hasst Herr Goremykin die Duma, weil in ihr die Bourgeoisie vorherrscht, sondern deshalb, weil die Bourgeoisie… die Freiheit für alle und den Boden für die Bauernschaft fordert."

6 Ebenda, S. 326. Die Red.

7 Ende 1905 trat P. Maslow mit dem Projekt der „Munizipalisierung" des Bodens auf und verteidigte es als Referent der Menschewiki auf dem Vereinigungsparteitag. In seinem Referat forderte Maslow die „Enteignung", nicht aber die „Konfiskation" des Bodens der Großgrundbesitzer, da er „die Möglichkeit zuließ, dass den Großgrundbesitzern ein gleicher Anteil wie den Bauern belassen oder vielleicht eine kleine Summe gegeben oder auch nicht gegeben werden kann, die zur Existenz notwendig ist, wie es die Bauern auf dem Kongress des Bauernbundes projektiert hatten" („Protokoll", S. 42).

Der Punkt über die Ersetzung der „Enteignung" durch die „Konfiskation" wurde mit 50 Stimmen gegen 22 angenommen. Siehe Debatten über die Agrarfrage auf dem Vereinigungsparteitag – „Protokolle des Vereinigungsparteitags".

8 Lenin meint folgende Stelle aus der Broschüre Kautskys: „Die soziale Revolution – am Tage nach der sozialen Revolution" (1902). K. Kautsky behandelt die Maßnahmen des Proletariats nach dem sozialistischen Umsturz, im Besonderen die Expropriation der Expropriateure und antwortet auf die Frage, wie diese Expropriation erfolgen werde – auf dem Wege der Konfiskation oder der Ablösung: „…Trotzdem spricht eine Reihe von Gründen dafür, dass ein proletarisches Regime suchen wird, den Weg der Ablösung, der Bezahlung der Kapitalisten und Grundeigentümer zu wählen" (S. 11).

9 Lenin bezieht sich auf den Artikel von A. Pjeschechonow in Nr. 2 der „Narodno-sozialistitscheskoje Obosrenije" („Volkssozialistische Rundschau"), (1906): „Die Frage der Ablösung." A. Peschechonow polemisiert mit den Sozialdemokraten über die Frage der Ablösung und der Konfiskation und bemerkt: „Unsere Sozialdemokraten haben – wenigstens eine Zeitlang – besonders laut von der… Konfiskation geschrien. Hören wir jedoch Kautsky, den Abgott dieser selben Sozialdemokraten." Weiter führt A. Peschechonow eine Reihe von Zitaten aus Kautsky an und fährt fort: „Ich werde nicht alle Erwägungen Kautskys anführen, die ihn zwingen, anzunehmen, dass die Sozialisierung der Produktionsmittel auf dem Wege der Ablösung erfolgen wird …"

10 Ebenda, S. 327. Die Red.

11 Im Oktoberheft (1906) der Zeitschrift „Sowremennaja Schisn" („Zeitgenössisches Leben"), erschien eine Rezension von W. M. (W. Metsch) über die Nr. 1 der Zeitschrift „Nasche Djelo" („Unsere Sache"). Der Verfasser begrüßt die grundsätzliche Richtung der Zeitschrift „Nasche Djelo" – die Ersetzung der „revolutionären Romantik" durch „den politischen Realismus", der darin zum Ausdruck komme, dass die Zeitschrift den Boden des unbändigen Hingerissenseins vom vergangenen Jahr" (1905. Die Red.) verlasse und angesichts der politischen Hauptaufgabe des gegenwärtigen Momentes, in der Sache des Kampfes gegen die Reaktion des Absolutismus" die einzig „mögliche" und „notwendige" Stellung der „Verteidigung der breiten Solidarität des ganzen Konglomerats der Gesellschaftsklassen und Parteien" beziehe.

12Ebenda. Die Red.

13Ebenda, S. 327. Die Red.

14 Ebenda. Die Red.

15Ebenda. Die Red.

16 Ebenda. Die Red.

17 Ebenda, S. 330. Die Red.

18 Ebenda, S. 331. Die Red.

19 Ebenda, S. 331 u. 332. Die Red.

20 Ebenda, S. 332. Die Red.

21 Ebenda, S. 332. Die Red.

22 „Jeder provisorische Staatszustand nach einer Revolution erfordert eine Diktatur, und zwar eine energische Diktatur.“ („Die Krisis und die Kontrerevolution“, Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 5, Berlin 1959 S. 398-404, hier S. 402)

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