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Wladimir I. Lenin 19061100 Sozialdemokratie und Wahlabkommen

Wladimir I. Lenin: Sozialdemokratie und Wahlabkommen

[Geschrieben Anfang November (Ende Oktober) 1906. Veröffentlicht als Broschüre im November 1906 im Verlag „Wperjod".1 Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 175-201]

Die Frage der Taktik bei den Wahlen zur zweiten Duma beschäftigt jetzt die Arbeiterpartei sehr stark. Besonders viel Aufmerksamkeit wird hierbei den „Blocks", d. h. den ständigen und zeitweiligen Wahlabkommen der Sozialdemokratie mit anderen Parteien gewidmet. Die bürgerliche, die Kadetten-Presse – „Rjetsch", „Towarischtsch", „Nowyj Putj", „Oko" usw. – versuchen die Arbeiter auf alle mögliche Art und Weise von der Notwendigkeit eines „Blocks" (eines Wahlabkommens) zwischen Sozialdemokraten und Kadetten zu überzeugen. Die menschewistischen Sozialdemokraten sprechen sich teils für solche Blocks (Tscherewanin in „Nasche Djelo" und im „Towarischtsch"). teils gegen sie aus (Martow im „Towarischtsch"). Die bolschewistischen Sozialdemokraten sprechen sich gegen die Blocks aus und halten es nur für zulässig, dass auf den höheren Stufen der Wahlkampagne Teilabkommen getroffen werden über die Verteilung der Dumasitze, entsprechend dem Kräfteverhältnis der revolutionären und der oppositionellen Parteien beim ersten Wahlgang.

Versuchen wir, die Grundlagen dieses Standpunktes kurz zu schildern.

I.

Die Sozialdemokratie betrachtet den Parlamentarismus (Beteiligung an den Repräsentativversammlungen) als eins der Mittel zur Aufklärung, zur Erziehung und Organisierung des Proletariats zu einer selbständigen Klassenpartei, als eins der Mittel des politischen Kampfes für die Befreiung der Arbeiter. Diese marxistische Auffassung trennt die Sozialdemokratie entschieden einerseits von der bürgerlichen Demokratie und anderseits von dem Anarchismus. Die bürgerlichen Liberalen und Radikalen sehen im Parlamentarismus die „natürliche" und einzig normale, einzig gesetzliche Methode zur Führung der Staatsgeschäfte überhaupt, sie lehnen den Klassenkampf ab und leugnen den Klassencharakter des modernen Parlamentarismus. Die Bourgeoisie bemüht sich aus aller Kraft, mit allen möglichen Mitteln und aus allen möglichen Anlässen, den Arbeitern Scheuklappen umzuhängen, damit sie nicht sehen, wie es kommt, dass der Parlamentarismus ein bürgerliches Unterdrückungswerkzeug ist, damit sie die geschichtlich bedingte Bedeutung des Parlamentarismus nicht erkennen. Die Anarchisten vermögen den Parlamentarismus auch nicht nach seiner geschichtlich bestimmten Bedeutung zu beurteilen und lehnen ein solches Kampfmittel überhaupt ab. Die Sozialdemokraten bekämpfen daher in Russland entschieden sowohl den Anarchismus als auch das Bestreben der Bourgeoisie, die Revolution so schnell als möglich durch einen Kuhhandel mit der alten Staatsmacht auf dem Boden des Parlamentarismus abzuschließen. Sie unterordnen ihre gesamte parlamentarische Tätigkeit uneingeschränkt und bedingungslos den allgemeinen Interessen der Arbeiterbewegung und den besonderen Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen bürgerlich-demokratischen Revolution.

Hieraus ergibt sich vor allem, dass die Beteiligung der Sozialdemokraten an der Dumakampagne durchaus nicht denselben Charakter trägt wie die Beteiligung der anderen Parteien. Zum Unterschied von ihnen messen wir dieser Kampagne keine selbständige oder gar überragende Bedeutung bei. Zum Unterschied von ihnen ordnen wir diese Kampagne den Interessen des Klassenkampfes unter. Zum Unterschied von ihnen stellen wir als Losung dieser Kampagne nicht den Parlamentarismus zwecks parlamentarischer Reformen, sondern den revolutionären Kampf für die Konstituante auf, und zwar den Kampf in seinen höchsten Formen, die sich aus der geschichtlichen Entwicklung der Kampfformen während der letzten Jahre ergeben.A

II.

Was ergibt sich hieraus für die Wahlabkommen? Vor allem ergibt sich daraus: unsere wichtigste, unsere Hauptaufgabe ist die Stärkung des Klassenbewusstseins und der selbständigen Klassenorganisation des Proletariats, als der einzigen konsequent revolutionären Klasse, als des einzig möglichen Führers einer erfolgreichen bürgerlich-demokratischen Revolution. Deshalb ist eine selbständige Klassenpolitik in der ganzen Wahlkampagne und der ganzen Dumakampagne unsere wichtigste allgemeine Aufgabe. Das bedeutet nicht, dass wir andere, Teilaufgaben ablehnen, jedoch müssen sie stets dieser wichtigsten Aufgabe untergeordnet, mit ihr in Einklang gebracht werden. Von diesem allgemeinen Satz, der sowohl durch die Theorie des Marxismus als auch durch die gesamte Erfahrung der internationalen Sozialdemokratie bestätigt wird, müssen wir unbedingt ausgehen.

Es kann den Anschein erwecken, dass die besonderen Aufgaben, die das Proletariat in der russischen Revolution zu erfüllen hat, diesen allgemeinen Satz von vornherein über den Haufen werfen. Hat doch die Großbourgeoisie in der Person der Oktobristen die Revolution bereits verraten bzw. es sich zur Aufgabe gemacht, die Revolution durch die Konstitution zum Stillstand zu bringen (die Kadetten); der Sieg der Revolution ist nur dann möglich, wenn das Proletariat von dem fortgeschrittensten und bewusstesten Teil der Bauernmassen unterstützt wird, die ihre objektive Lage zum Kampf und nicht zu einem Kuhhandel, zur Vollendung und nicht zum Abstumpfen der Revolution treibt. Hieraus ergibt sich – könnte man folgern – für die Sozialdemokraten die Verpflichtung, für den Verlauf der ganzen Wahlen ein Wahlabkommen mit der bäuerlichen Demokratie einzugehen.

Einen solchen Schluss jedoch darf man noch keineswegs aus dem durchaus richtigen Satz ziehen, dass der volle Sieg unserer Revolution nur als revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft möglich ist. Es gilt erst zu beweisen, dass vom Standpunkt der gegebenen Beziehungen zwischen den Parteien (die bäuerliche Demokratie wird jetzt bereits bei uns nicht durch eine, sondern durch verschiedene Parteien vertreten) und vom Standpunkt des gegebenen Wahlsystems ein Block mit der bäuerlichen Demokratie für die ganze Zeit der Wahlen möglich und vorteilhaft ist. Es gilt erst zu beweisen, dass unsere Partei die Interessen der wirklich revolutionären Bauernschaft durch einen Block mit der einen oder andern Partei besser ausdrücken und verteidigen wird als durch volle Selbständigkeit in der Kritik dieser oder jener bäuerlich-demokratischen Parteien, in der Gegenüberstellung der einen und der andern Elemente der bäuerlichen Demokratie. Aus dem Satz, dass Proletariat und revolutionäre Bauernschaft in der gegenwärtigen Revolution einander am nächsten stehen, ergibt sich unbedingt die allgemeine politische „Linie" der Sozialdemokraten: Zusammen mit der bäuerlichen Demokratie gegen die verräterische großbürgerliche „Demokratie" (die Kadetten). Ob sich aber hieraus die Notwendigkeit ergibt, sofort einen Wahlblock mit den Volkssozialisten oder den Sozialrevolutionären zu bilden, das kann man noch nicht sagen, wenn man nicht untersucht hat, wodurch sich diese Parteien voneinander und von den Kadetten unterscheiden, wenn man nicht das jetzige Wahlsystem mit seiner Vielstufigkeit untersucht hat. Hieraus ergibt sich unmittelbar und unbedingt nur eins: keinesfalls können wir uns in unserer Wahlkampagne auf eine nackte und abstrakte Gegenüberstellung des Proletariats und der bürgerlichen Demokratie überhaupt beschränken. Wir müssen im Gegenteil unsere ganze Aufmerksamkeit darauf richten, den Unterschied zwischen der liberal-monarchistischen und der revolutionär-demokratischen Bourgeoisie oder, konkreter gesprochen, den Unterschied zwischen den Kadetten, Volkssozialisten und Sozialrevolutionären, so wie er sich aus der Geschichte unserer Revolution ergibt, ganz genau herausarbeiten. Nur dadurch, dass wir diesen Unterschied klar herausarbeiten, werden wir unsere nächsten „Bundesgenossen" mit größtmöglicher Richtigkeit bestimmen können. Wir werden hierbei nicht vergessen, erstens, dass die Sozialdemokraten jeden Bundesgenossen aus der bürgerlichen Demokratie wie einen Feind beobachten müssen. Zweitens werden wir noch besonders untersuchen, was für uns vorteilhafter ist: uns die Hände zu binden durch einen allgemeinen Block mit irgendwelchen Volkssozialisten (beispielsweise), oder völlige Selbständigkeit zu bewahren, um im entscheidenden Augenblick stets die Möglichkeit zu haben, die parteilosen „Trudowiki" in Opportunisten (Volkssozialisten) und Revolutionäre (Sozialrevolutionäre) zu spalten, die ersten den zweiten gegenüberzustellen usw.

Die Erwägung des proletarisch-bäuerlichen Charakters unserer Revolution berechtigt also noch nicht zu der Schlussfolgerung, dass Abkommen mit der einen oder der anderen bäuerlich-demokratischen Partei auf der einen oder anderen Stufe der Wahlen zur zweiten Duma notwendig sind. Diese Erwägung reicht durchaus noch nicht dazu aus, die selbständige proletarische Klassenpolitik in den Wahlen überhaupt einzuschränken oder gar auf sie zu verzichten.

III.

Wenn wir der Lösung unserer Aufgabe näherkommen wollen, müssen wir erstens feststellen, wie sich im Wesentlichen die Parteien bei den Wahlen zur zweiten Duma gruppieren werden, und zweitens in die Eigenarten des gegenwärtigen Wahlsystems eindringen.

Wahlabkommen werden zwischen Parteien geschlossen. Welches sind die Hauptgattungen von Parteien, die sich bei den Wahlen gegenübertreten werden? Die Schwarzhunderter werden sich zweifellos noch fester zusammenschließen als bei den Wahlen zur ersten Duma. Die Oktobristen und die „Meonen" (die Partei der MO – „Mirnoje Obnowlenije"2) werden sich entweder ihnen oder den Kadetten anschließen oder (was am wahrscheinlichsten ist) zwischen den Schwarzhundertern und den Kadetten hin- und herschwanken. Jedenfalls ist es ein Grundfehler, die Oktobristen als „Partei des Zentrums" zu betrachten (wie es L. Martow in der neuen Broschüre: „Die politischen Parteien in Russland" tut): in dem wirklichen Kampfe, der endgültig den Ausgang unserer Revolution entscheiden muss, sind die Kadetten das Zentrum. Die Kadetten sind eine organisierte Partei, die sich selbständig an den Wahlen beteiligt, überdies sind sie von ihrem Wahlerfolg bei der ersten Duma trunken. Aber die Disziplin dieser Partei ist nicht die Strengste und ihre Geschlossenheit nicht die Festeste. Die linken Kadetten sind unzufrieden über die Niederlage in Helsingfors und schmollen. Ein Teil von ihnen (wie kürzlich in Moskau Herr Alexinski) geht zu den Volkssozialisten. In der ersten Duma waren solche „außerordentlich seltene Exemplare" von Kadetten anzutreffen, die sogar den Entwurf der „33" über die Vernichtung jeglichen Privateigentums an Grund und Boden unterzeichneten (Badamschin, Subtschenko, Loschkin). Man darf also die Hoffnung nicht ganz aufgeben, dass sich ein möglicherweise ganz kleines Teilchen dieses „Zentrums" abspaltet und zu den Linken übergeht. Die Kadetten fühlen sehr wohl ihre Schwäche in den Volksmassen (vor kurzem musste der kadettische „Towarischtsch" das selbst zugeben3) und wären gern zu Blocks mit den Linken bereit. Nicht umsonst haben die Kadetten-Zeitungen freudig gerührt den Sozialdemokraten Martow und Tscherewanin ihre Spalten zur Behandlung der Frage der Blocks der Sozialdemokraten mit den Kadetten geöffnet. Wir werden natürlich niemals vergessen und werden die Massen in der Wahlkampagne darüber aufklären, dass die Kadetten in der ersten Duma ihre Versprechen nicht gehalten, den Trudowiki Steine in den Weg gelegt und sich mit allen möglichen Konstitutionsspielereien usw. usw. beschäftigt haben, dass sie sogar zu dem vierstufigen Wahlsystem, zu den Zuchthausgesetzentwürfen u. ä. geschwiegen haben.

Dann kommen die „Trudowiki". Die Parteien dieser Gattung, d. h. kleinbürgerliche und vorwiegend bäuerliche Parteien, zerfallen in die parteilose „Trudowiki-Gruppe" (die vor kurzem ihren Parteitag abgehalten hat), die Volkssozialisten und die Sozialrevolutionäre (die Polnische Sozialistischen Partei und ähnliche Parteien entsprechen mehr oder weniger den Sozialrevolutionären). Einigermaßen folgerichtige und entschiedene Revolutionäre und Republikaner sind nur die Sozialrevolutionäre. Die Volkssozialisten sind viel schlimmere Opportunisten als unsere Menschewiki, streng genommen sind sie Halbkadetten. Die parteilose „Trudowiki-Gruppe" hat vielleicht in der Bauernmasse größeren Einfluss als die einen und die anderen, aber es ist schwer zu sagen, wie weit ihre Entschlossenheit zum Kampf für die Demokratie reicht, obschon sie zweifellos viel weiter links als die Kadetten steht und offenbar zur revolutionären Demokratie zählt.

Die Sozialdemokratie ist die einzige Partei, die ungeachtet ihrer Zwistigkeiten bei den Wahlen ihre Disziplin bis zu Ende wahren wird, die eine ganz bestimmte, klar abgegrenzte Klassengrundlage hat, – die alle sozialdemokratischen Parteien aller Völker Russlands vereinigt hat.

Wie soll aber bei der oben geschilderten Zusammensetzung der Parteien dieser Gattung ein allgemeiner Block mit den Trudowiki geschlossen werden? Wo ist die Gewähr für die Haltung der parteilosen Trudowiki? Ist überhaupt ein Block einer Partei mit Parteilosen möglich? Wie können wir wissen, ob die Herren Alexinski nicht morgen von den Volkssozialisten zu den Kadetten zurückkehren?

Es ist klar, dass ein Abkommen mit den Trudowiki auf wirklicher Parteigrundlage unmöglich ist. Es ist klar, dass wir keinesfalls zu einer Vereinigung der opportunistischen Volkssozialisten und der revolutionären Sozialrevolutionäre beitragen dürfen, sondern sie spalten und sie einander gegenüberstellen müssen. Es ist klar, dass bei dem Vorhandensein einer parteilosen Trudowiki-Gruppe für uns völlige Selbständigkeit, die uns erlaubt, sie in unbedingt revolutionärem Geist zu beeinflussen, viel vorteilhafter ist, als wenn wir uns die Hände binden und die Unterschiede zwischen .Monarchisten und Republikanern usw. verwischen. Ein solches Verwischen ist für die Sozialdemokraten durchaus unstatthaft, und allein schon aus dieser Erwägung ist ein solcher Block unbedingt abzulehnen, da die vorhandene Gruppierung der Parteien parteilose Trudowiki, Volkssozialisten und Sozialrevolutionäre vereinigt.

Ist ihre Vereinigung wirklich möglich und vereinigen sie sich wirklich? Ihre Vereinigung ist unbedingt möglich, da sie ein und dieselbe kleinbürgerliche Klassengrundlage haben. Sie haben sich in der Tat in der ersten Duma, in den Zeitungen während der Oktoberperiode, in den Zeitungen während der Dumaperiode und bei den Abstimmungen unter den Studenten vereinigt (si licet parva componere magnis – wenn es statthaft ist, Kleines mit Großem zu vergleichen). In der Tat ist es ein kleines, aber im Zusammenhang mit anderen bezeichnendes Symptom, dass bei den Abstimmungen der „autonomen" Studentenschaft häufig drei Listen zusammenstießen: die Liste der Kadetten, die Liste des Blocks der Trudowiki, Volkssozialisten, Sozialrevolutionäre und PPS und schließlich die Liste der Sozialdemokraten.

Vom Standpunkt des Proletariats ist vor allem Klarheit über die Klassengruppierungen erforderlich. Eine selbständige Beeinflussung der parteilosen (oder zwischen den Volkssozialisten und den Sozialrevolutionären hin und her schwankenden) Trudowiki ist offensichtlich vorteilhafter als die Versuche eines Abkommens der Partei mit Parteilosen. Auf Grund der Tatsachen, die über die Parteien vorliegen, gelangt man unwillkürlich zu dem Schluss: keinesfalls Abkommen auf der unteren Stufe der Wahl, in der Agitation unter den Massen; auf den oberen Stufen müssen alle Kräfte darauf gerichtet werden, bei der Verteilung der Dumasitze die Kadetten durch ein Teilabkommen der Sozialdemokraten und Trudowiki, die Volkssozialisten durch ein Teilabkommen der Sozialdemokraten und der Sozialrevolutionäre zu schlagen.

Man wird uns entgegnen: während ihr unverbesserlichen bolschewistischen Utopisten davon träumt, die Kadetten zu schlagen, werden die Schwarzhunderter euch alle schlagen, denn ihr zersplittert die Stimmen! Sozialdemokraten, Trudowiki und Kadetten zusammen würden sicherlich die Schwarzhunderter aufs Haupt schlagen. Bei getrenntem Vorgehen aber könnt ihr dem gemeinsamen Feind zu einem leichten Siege verhelfen. Angenommen, die Schwarzen hätten 26 von 100 Stimmen, die Trudowiki und Kadetten je 25, die Sozialdemokraten 24. Gewählt wird der Schwarzhunderter, wenn nicht ein Block der Sozialdemokraten, Trudowiki und Kadetten zustande kommt.

Dieser Einwand wird oft ernst genommen, es ist daher nötig, ihn sorgfältig zu untersuchen. Für diesen Zweck aber ist es erforderlich, dass gegebene, d. h. das jetzige russische Wahlsystem zu untersuchen.

IV.

Die Wahlen zur Duma sind bei uns keine direkten, sondern vielstufige Wahlen. Bei vielstufigen Wahlen ist Stimmenzersplitterung nur auf der unteren Stufe der Wahlen gefährlich. Nur dann, wenn die Urwähler zur Wahl gehen, wissen wir nicht, wie sich die Stimmen spalten werden; nur in der Agitation unter den Massen handeln wir „blind". Auf den oberen Stufen, bei den Wahlen durch die Wahlmänner, ist die Hauptschlacht schon beendet. Es bleibt nur noch übrig, die Parlamentssitze auf Grund eines Teilabkommens der Parteien, die die genaue Zahl ihrer Kandidaten und ihrer Stimmen kennen, zu verteilen.

Die unterste Stufe der Wahlen ist die Wahl der Wahlmänner in den Städten, die Wahl der Vertreter von je zehn Höfen in den Dörfern, die Wahl der Bevollmächtigten in der Arbeiterkurie.

In den Städten treten wir in jedem einzelnen Wahlbezirk vor einer großen Masse von Wählern auf. Es ist nicht zu bestreiten, dass eine Gefahr der Stimmenzersplitterung besteht. Unbestreitbar ist, dass die Wahlmänner der Schwarzhunderter in den Städten hier und da ausschließlich dank dem Fehlen eines „Linksblocks", ausschließlich dank dem Umstände durchkommen können, dass z. B. die Sozialdemokraten den Kadetten einen Teil der Stimmen entziehen. Wenn ich mich recht erinnere, hat Gutschkow in Moskau ungefähr 900 Stimmen, die Kadetten ungefähr 1400 Stimmen erhalten. Es hätte genügt, dass die Sozialdemokraten den Kadetten 501 Stimmen entzogen hätten, und Gutschkow wäre Sieger geblieben. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Spießbürger dies einfache Rechenexempel verstehen, dass sie die Stimmenzersplitterung fürchten und nur deshalb geneigt sein werden, ihre Stimmen den Gemäßigtesten aus der Opposition zu geben. Es tritt das ein, was in England als „dreieckige" Wahlen bezeichnet wird, wenn die kleinen Leute in den Städten sich fürchten, für den Sozialisten zu stimmen, um dem Liberalen keine Stimmen fortzunehmen und dadurch dem Konservativen zum Siege zu verhelfen.

Welches Mittel gibt es gegen diese Gefahr? Nur eins: ein Abkommen auf der untersten Stufe, d. h. eine gemeinsame Liste der Wahlmänner, in der die Kandidaten der Parteien in einem bestimmten Zahlenverhältnis aufgestellt sind, das vor dem Kampf durch einen Vertrag zwischen den Parteien festgelegt wird. Alle Parteien, die diesem Abkommen beigetreten sind, fordern die gesamte Masse der Wähler auf, für diese eine gemeinsame Liste zu stimmen.

Untersuchen wir die Gründe, die für und gegen ein solches Verfahren vorgebracht werden können.

Die Gründe für ein solches Verfahren: Die Agitation kann streng im Rahmen der Parteigrundsätze geführt werden. Mögen die Sozialdemokraten die Kadetten vor der Masse, soviel sie wollen, kritisieren, wenn sie nur hinzufügen: Trotz alledem sind sie besser als die Schwarzhunderter, und wir haben uns auf eine gemeinsame Liste geeinigt.

Die Gründe, die dagegen sprechen: Die gemeinsame Liste wird in schreiendem Widerspruch zu der ganzen selbständigen Klassenpolitik der Sozialdemokratie stehen. Wenn wir der Masse eine gemeinsame Liste der Kadetten und Sozialdemokraten empfehlen, werden wir unvermeidlich die Klarheit der klassenmäßigen und der politischen Teilungen vollständig verwischen. Wir untergraben die prinzipielle und allgemein-revolutionäre Bedeutung der Wahlkampagne, um für einen Liberalen ein Plätzchen in der Duma zu erobern! Wir unterordnen die Klassenpolitik dem Parlamentarismus, anstatt den Parlamentarismus der Klassenpolitik unterzuordnen. Wir begeben uns der Möglichkeit, unsere Kräfte zu zählen. Wir verlieren das, was bei allen Wahlen als dauernder und fester Gewinn gebucht werden kann: die Entwicklung des Bewusstseins und der Geschlossenheit des sozialistischen Proletariats. Wir erwerben das, was vorübergehend, bedingt und unsicher ist: das Übergewicht der Kadetten über die Oktobristen.

Weswegen gefährden wir die zielbewusste Arbeit der sozialistischen Erziehung? Wegen der Gefahr von Wahlsiegen der Schwarzhunderter? Indes entfallen auf sämtliche Städte Russlands nur 35 von 425 Dumamandaten (St. Petersburg 6, Moskau 4, Warschau und Taschkent je 2, die übrigen 21 Städte je ein Mandat). An und für sich können also die Städte das politische Gesicht der Duma keineswegs erheblich umgestalten. Außerdem aber ist es doch nicht angängig, sich, nur auf eine formale Erwägung über die arithmetische Möglichkeit einer Stimmenzersplitterung zu beschränken. Man muss untersuchen, ob die politische Wahrscheinlichkeit einer solchen Zersplitterung groß ist. Diese Untersuchung aber zeigt, dass die Schwarzhunderter sogar bei den Wahlen zur ersten Duma eine verschwindende Minderheit bildeten, dass Fälle wie der oben angeführte „Gutschkow"-Fall Ausnahmen sind. Laut den Berechnungen des „Wjestnik Konstitutionalno-Demokratitscheskoi Partii"4 (1906, 2. Mai [19. April], Nr. 7) waren in 20 Städten, die 28 Abgeordnete in die Duma wählten, von 1761 Wahlmännern 1468 Kadetten, 32 Progressisten und 25 Parteilose, 128 Oktobristen, 32 Vertreter des Handels und der Industrie und 76 Rechte, d. h. insgesamt 236 oder weniger als 15 Prozent Rechte. In 10 Städten wurde nicht ein einziger Wahlmann der Rechten gewählt, in 3 Städten nicht mehr als 10 Wahlmänner der Rechten (von insgesamt 80 Wahlmännern). Ist es unter solchen Bedingungen vernünftig, wegen einer übertriebenen Furcht vor den Schwarzhundertern auf den Kampf für die eigenen, klassenmäßigen Kandidaturen zu verzichten? Wird sich eine solche Politik, abgesehen von ihrer Grundsatzlosigkeit, nicht auch durch Kurzsichtigkeit, sogar vom engpraktischen Standpunkt aus gesehen, versündigen?

Aber ein Block mit den Trudowiki gegen die Kadetten? – wird man uns entgegnen. Wir haben jedoch bereits die eigenartigen Parteiverhältnisse der Trudowiki aufgezeigt, die einen solchen Block als unerwünscht und unzweckmäßig erscheinen lassen. In den Städten, in denen vor allem die Arbeiterbevölkerung konzentriert ist, dürfen wir nur im Falle der äußersten Not auf völlig selbständige sozialdemokratische Kandidaten verzichten. Diese äußerste Not liegt nicht vor. Etwas weniger, etwas mehr Kadetten oder Trudowiki (besonders vom Schlage der Volkssozialisten!), das hat keine ernste Bedeutung, denn die Duma selbst vermag bestenfalls nur eine untergeordnete, zweitrangige Rolle zu spielen. Die politisch entscheidende Bedeutung für den Ausgang der Wahlen kommt der Bauernschaft, kommt den Gouvernementsversammlungen der Wahlmänner und nicht den Städten zu.B In den Gouvernementsversammlungen der Wahlmänner aber werden wir unser allgemein-politisches Bündnis mit den Trudowiki gegen die Kadetten viel besser und sicherer und ohne irgendwelche Verletzungen strenger Grundsätzlichkeit verwirklichen als auf der unteren Stufe der Wahlen im Dorfe. Wir gehen nunmehr zu den Wahlen in den Dörfern über.

V.

In den Großstädten hat die politische und organisatorische Stärke der Parteien hier und da bekanntlich eine der Wahlstufen weggefegt. Nach dem Gesetz waren die Wahlen zweistufig. In Wirklichkeit kam es manchmal zu direkten oder zu fast direkten Wahlen, denn die Wähler waren sich über das Gepräge der kämpfenden Parteien, ja in einzelnen Fällen sogar über die Personen, die die betreffende Partei in die Duma zu bringen beabsichtigte, durchaus im Klaren. In den Dörfern hingegen gibt es so viele Stufen, sind die Wähler so verstreut, die Widerstände gegen ein offenes Auftreten der Parteien so ungeheuer groß, dass die Wahlen zur zweiten Duma in derselben außerordentlichen „Abgeschlossenheit" vor sich gehen werden, wie die Wahlen zur ersten Duma. Mit anderen Worten: sehr häufig, ja sogar in den meisten Fällen wird die Parteiagitation hier von Parteien überhaupt sprechen und absichtlich, aus Furcht vor der Polizei, Personen mit Stillschweigen übergehen. Absichtlich werden sich radikale und revolutionäre Bauern (und nicht allein Bauern) unter dem Deckmantel der Parteilosigkeit verbergen. Bei den Wahlen der Vertreter von je zehn Höfen wird es den Ausschlag geben, wie weit man diesen oder jenen Menschen kennt, ihm persönlich vertraut, wie weit man seinen sozialdemokratischen Reden beipflichtet. Wir werden hier nur eine ganz verschwindend geringe Zahl von Sozialdemokraten haben, die sich auf eine örtliche Parteiorganisation stützen. Sozialdemokraten aber, die die Zustimmung der örtlichen dörflichen Bevölkerung gewinnen, wird es vielleicht unvergleichlich mehr geben, als man auf Grund der Angaben über unsere unteren Parteizellen annehmen könnte.

Kleinbürgerliche Romantiker vom Schlage der Volkssozialisten, die in unseren Verhältnissen von einer legalen sozialistischen Partei träumen, begreifen nicht, wie sehr das Ansehen und der Einfluss einer konspirativen Partei gestärkt werden durch ihren zielbewussten, allen Kompromissen fremden Kampfgeist und gleichzeitig durch eine Organisation, die ihren Einfluss auf die Massen bei weitem nicht allein durch Parteimitglieder ausübt und sich allen Verfolgungen zu entziehen versteht. Eine wirklich revolutionäre, im Feuer gestählte illegale Partei, die an die Herren Plehwe gewöhnt ist und sich durch irgendwelche Maßregeln der Herren Stolypin nicht aus dem Gleichgewicht bringen lässt, kann in der Epoche des Bürgerkrieges in höherem Maße dazu fähig sein, einen breiten Einfluss auf die Massen auszuüben, als manche legale Partei, die fähig ist, „mit gelbschnabeliger Naivität" den „streng konstitutionellen Weg" zu betreten.

Die Sozialdemokraten, die der Partei angehören, und die Sozialdemokraten, die ihr nicht angehören, werden bei den Wahlen der Vertreter von je zehn Höfen und der Bevollmächtigten viel Aussichten auf Erfolg haben. Für den Erfolg auf diesen Stufen der Wahlen im Dorfe wird ein Block mit den Trudowiki oder eine gemeinsame Liste ganz unwichtig sein. Einerseits sind die Wahlbezirke hier zu klein. Anderseits wird man hier sehr selten Leute antreffen, die wirklich der Trudowikipartei als Mitglieder angehören oder irgendwelche organisatorische Verbindung mit ihr unterhalten. Das strenge Parteigepräge der Sozialdemokraten, ihre bedingungslose Unterordnung unter die Partei, die Jahre hindurch illegal zu bestehen vermochte, die einen Mitgliederbestand von 100.000 bis 150.000 Parteimitgliedern aller Nationalitäten erreicht, die als einzige Partei der äußersten Linken in der ersten Duma geschlossen als Fraktion auftrat, – dies Gepräge der Partei wird eine ungeheure Empfehlung und Gewähr in den Augen derjenigen sein, die einen entscheidenden Kampf nicht fürchten, sondern ihn aus vollem Herzen wollen, die aber ihren eigenen Kräften nicht ganz vertrauen, sich fürchten, die Initiative auf sich zu nehmen, sich fürchten, offen aufzutreten. Diese Vorzüge einer streng „illegalen" Partei müssen wir auf jede Art und Weise ausnützen, und wir haben gar kein Interesse daran, die illegale Parteiarbeit durch irgendeinen ständigen Block auch nur irgendwie abzuschwächen. Der einzige ebenso parteimäßig geschlossene, entschieden und rücksichtslos-revolutionäre Konkurrent könnten hier nur die Sozialrevolutionäre sein. Ein Block mit ihnen auf der ersten Stufe der dörflichen Wahlen wäre jedoch auf der Grundlage einer wirklichen Parteipolitik nur ausnahmsweise möglich: man braucht sich nur die realen und konkreten Bedingungen der Wahlen im Dorfe zu vergegenwärtigen, um sich davon zu überzeugen.C Soweit sich jedoch die parteilosen revolutionären Bauern bei ihrem Vorgehen absichtlich keiner bestimmten Partei anschließen werden, soweit ist es für uns in jeder Beziehung vorteilhafter, sie in dem für uns erwünschten Sinne dadurch zu beeinflussen, dass wir uns als Partei scharf von andern Parteien abgrenzen. Das Fehlen einer ausgeprägten Parteilinie in den Verbänden, in der Agitation der Bauern kann den Sozialdemokraten, der der Partei angehört, nicht stören, da die revolutionären Bauern ihn niemals ausschließen werden, eine Beteiligung an den parteilos-revolutionären Verbänden jedoch wird ihm ausdrücklich durch die Resolution des Parteitages über die Unterstützung der Bauernbewegung gestattet. Indem wir somit unser Parteigepräge wahren, es bis zu Ende aufrechterhalten, den ganzen ungeheuren moralischen und politischen Nutzen aus ihm ziehen, können wir uns gleichzeitig vollauf der Arbeit unter den parteilosen revolutionären Bauern, in den parteilosen revolutionären Verbänden, Zirkeln und Versammlungen, der Arbeit mit Hilfe von parteilosen revolutionären Verbindungen usw. anpassen. Anstatt mit den Sozialrevolutionären, die nur einen verschwindend geringen Teil der revolutionären Bauernschaft organisatorisch erfassen, einen Block zu schließen, der uns daran hindern würde, uns als Partei scharf abzugrenzen, werden wir daher die Stellung unserer Partei und alle Vorteile der Arbeit unter den parteilosen „Trudowiki" noch umfassender und freier ausnützen.

Hieraus ergibt sich, dass auf den unteren Stufen der Wahlkampagne in den Dörfern, d. h. bei den Wahlen der Zehn-Höfe-Vertreter und Bevollmächtigten (wahrscheinlich ist manchmal die Wahl der Bevollmächtigten in Wirklichkeit gleichbedeutend mit der ersten Wahlstufe) für uns eine Notwendigkeit, irgendwelche Wahlabkommen zu treffen, nicht vorliegt. Es gibt so wenig Leute, die einen bestimmten politischen Standpunkt haben und für die Rollen eines Zehn-Höfe-Vertreters und Bevollmächtigten geeignet sind, dass die Sozialdemokraten, die den Bauern Vertrauen und Achtung eingeflößt haben (ohne diese Bedingung aber hat kein Kandidat ernste Aussichten auf Erfolg), alle Aussicht haben, fast Mann für Mann als Zehn-Höfe-Vertreter und Bevollmächtigte gewählt zu werden, ohne dass sie irgendwelche Abkommen mit andern Parteien benötigten.

In der Versammlung der Bevollmächtigten aber kann man sich bereits auf die genauen Ergebnisse der ersten Wahlschlachten stützen, die den ganzen Kampf entscheiden. Möglich und notwendig sind hier … natürlich keine Blocks, keine engen, langfristigen Abkommen, sondern Teilabkommen über die Verteilung der Mandate. Hier, in noch höherem Maße aber in den Versammlungen der Wahlmänner, in denen die Dumaabgeordneten gewählt werden, müssen wir im Verein mit den Trudowiki die Kadetten, im Verein mit den Sozialrevolutionären die Volkssozialisten schlagen usw.

VI.

Die Untersuchung des geltenden Wahlsystems zeigt also, dass in den Städten Blocks auf den unteren Stufen der Wahlen besonders unerwünscht und nicht notwendig sind. In den Dörfern sind Blocks auf den unteren Stufen (d. h. bei den Wahlen der Zehn-Höfe-Vertreter und der Bevollmächtigten) sowohl unerwünscht als auch gänzlich unnötig. Entscheidende politische Bedeutung haben die Kreisversammlungen der Bevollmächtigten und die Gouvernementsversammlungen der Wahlmänner. Hier, d. h. auf den höheren Stufen, sind Teilabkommen notwendig und möglich, ohne eine unerwünschte Verletzung des Parteigepräges, da der Kampf vor den Massen abgeschlossen ist, da es für diesen Zweck nicht erforderlich ist, vor dem Volk unmittelbar oder mittelbar die Parteilosigkeit zu verteidigen (oder für zulässig zu erklären), da der selbständigen, zielbewussten Klassenpolitik des Proletariats nicht die geringste Gefahr einer Verdunklung droht.D

Wir wollen jetzt zuerst vom formalen, sozusagen rechnerischen Standpunkt aus untersuchen, welcher Art diese Teilabkommen auf den oberen Stufen sein werden.

Nehmen wir das ungefähre prozentuelle Verhältnis, d. h. die Parteizugehörigkeit von je 100 Wahlmännern (und Bevollmächtigten, die wir in unserer weiteren Darstellung stets mit einbegreifen). Für den Sieg eines bestimmten Kandidaten auf der Wahlversammlung sind nicht weniger als 51 von 100 Stimmen erforderlich. Hieraus ergibt sich folgende allgemeine Regel für die Taktik der sozialdemokratischen Wahlmänner: wir müssen uns bemühen, eine solche Anzahl von bürgerlich-demokratischen Wahlmännern, die den Sozialdemokraten besonders nahestehen oder unserer Unterstützung besonders wert sind, auf unsere Seite zu ziehen, dass wir zusammen mit ihnen die übrigen Wahlmänner schlagen und infolgedessen teils den sozialdemokratischen, teils den besten der bürgerlich-demokratischen Wahlmänner zum Siege verhelfen.E

Wir wollen diese Regel durch einige einfache Beispiele veranschaulichen. Angenommen, von 100 Wahlmännern sind 49 Schwarzhunderter, 40 Kadetten, 11 Sozialdemokraten. Es ist ein Teilabkommen von Sozialdemokraten und Kadetten erforderlich, das den Zweck verfolgt, die volle gemeinsame Liste der Kandidaten – natürlich auf Grund einer proportionellen Verteilung der Dumasitze nach der Zahl der Wahlmänner – durchzubringen (d. h. bei diesem Beispiel würden die Sozialdemokraten den fünften Teil der Dumamandate des ganzen Gouvernements, sagen wir zwei von zehn, die Kadetten aber vier Fünftel, d. h. acht von zehn, erhalten). Falls es 49 Kadetten, 40 Trudowiki und 11 Sozialdemokraten sind, müssen wir ein Abkommen mit den Trudowiki erstreben, um die Kadetten zu schlagen und den fünften Teil der Mandate für uns, vier Fünftel für die Trudowiki zu erobern. In einem solchen Falle hätten wir eine vortreffliche Möglichkeit, zu prüfen, wie folgerichtig und entschieden demokratisch die Trudowiki sind: ob sie bereit sein werden, sich völlig von den Kadetten abzuwenden und sie im Verein mit den Wahlmännern der Arbeiterpartei zu schlagen, oder ob sie den einen oder anderen Kadetten „retten" wollen, oder ob sie vielleicht sogar einen Block nicht mit den Sozialdemokraten, sondern mit den Kadetten wollen. Wir haben hier die Möglichkeit und die Pflicht, dem ganzen Volk durch die Tat zu beweisen und zu zeigen, in welchem Maße die einen oder die andern Kleinbürger zur monarchistischen Bourgeoisie oder zum revolutionären Proletariat neigen.

Im letzten Beispiel zahlt es sich für die Trudowiki aus, sich mit den Sozialdemokraten und nicht mit den Kadetten zu blockieren, da sie dann vier Fünftel, im zweiten Fall aber nur vier Neuntel sämtlicher Mandate erhalten. Noch interessanter wäre daher der umgekehrte Fall: 11 Kadetten, 40 Trudowiki, 49 Sozialdemokraten. Eine grobe Berechnung würde in einem solchen Fall die Trudowiki zu einem Block mit den Kadetten treiben: dann würden „wir", könnten sie meinen, mehr Sitze in der Duma für uns erhalten. Wenn sie jedoch der Sache der Demokratie und den Interessen der wirklich werktätigen Massen wirklich treu bleiben wollen, dann würden sie unbedingt einen Block mit den Sozialdemokraten schließen müssen, selbst wenn sie hierbei einige Dumasitze opfern müssten. Die Vertreter des Proletariats müssen alle solche und ähnliche Fälle aufmerksam verfolgen und dem gesamten Volk und den Wahlmännern die grundsätzliche Bedeutung dieser Wahlarithmetik klarmachen (es ist erforderlich, die Ergebnisse, die die Abkommen in den Versammlungen der Bevollmächtigten und Wahlmänner gezeitigt haben, zur allgemeinen Kenntnis zu bringen).

Bei dem letzten Beispiel sehen wir ferner einen Fall, wo sowohl grobe Berechnung als auch prinzipielle Erwägungen die Sozialdemokraten dazu treiben, die Trudowiki zu spalten. Angenommen, es gäbe unter ihnen zwei Sozialrevolutionäre, wirkliche Mitglieder der Sozialrevolutionären Partei, dann müssen wir alle unsere Anstrengungen darauf richten, sie zum Anschluss an uns zu bewegen, um mit 51 Stimmen alle Kadetten und alle übrigen, weniger revolutionären Trudowiki zu schlagen. Wenn von den Trudowiki 2 Sozialrevolutionäre und 38 Volkssozialisten sind, dann hätten wir die Möglichkeit, zu prüfen, ob die Sozialrevolutionäre wirklich den Interessen der Demokratie und den Interessen der werktätigen Masse ergeben sind. Wir würden sagen: für die republikanischen Demokraten, gegen die Volkssozialisten, die die Monarchie für zulässig erachten; für die Konfiskation des Großgrundbesitzes, gegen die Volkssozialisten, die die Ablösung für zulässig erachten; für die Anhänger der Bewaffnung des ganzen Volkes, gegen die Volkssozialisten, die ein stehendes Heer für zulässig erachten. Dann würden wir sehen, wen die Sozialrevolutionäre vorziehen: die SozialkadettenF oder die Sozialdemokraten.

Wir sind somit zur grundsätzlichen politischen Seite und Bedeutung dieser Wahlarithmetik gekommen. Es ist hier unsere Pflicht, der Jagd nach Parlamentsmandaten die beharrliche und folgerichtige Verteidigung des Standpunktes des sozialistischen Proletariats und der Interessen des vollen Sieges unserer bürgerlich-demokratischen Revolution entgegenzustellen. Keinesfalls und unter keinen Bedingungen dürfen unsere sozialdemokratischen Bevollmächtigten und Wahlmänner unsere sozialistischen Ziele, die Klassenpolitik, die wir als proletarische Partei unbeirrt verfolgen müssen, verschweigen. Aber es genügt nicht, das Wort „Klasse" zu wiederholen, um zu beweisen, dass das Proletariat in der gegenwärtigen Revolution die Rolle der Vorhut spielen muss. Es genügt nicht, unsere sozialistische Lehre und die allgemeine Theorie des Marxismus darzulegen, um die führende Rolle des Proletariats zu beweisen. Man muss außerdem noch bei der Behandlung der brennenden Fragen der gegenwärtigen Revolution durch die Tat zu zeigen verstehen, dass die Mitglieder der Arbeiterpartei die Interessen dieser Revolution, die Interessen ihres vollen Sieges folgerichtiger, richtiger, entschlossener, kunstvoller als alle anderen Parteien verteidigen. Das ist keine leichte Aufgabe, ihre Vorbereitung ist die wichtigste, die Hauptpflicht jedes Sozialdemokraten, der sich an der Wahlkampagne beteiligt.

Es wird eine kleine, aber nicht nutzlose praktische Arbeit sein, die Unterschiede der Parteien und der Parteischattierungen auf den Versammlungen der Bevollmächtigten und der Wahlmänner (wie auch selbstverständlich in der gesamten Wahlkampagne) aufzuzeigen. Hierbei wird übrigens das Leben viele strittige Fragen entscheiden, die die Sozialdemokratische Arbeiterpartei bewegen. Ihr rechter Flügel, von den äußersten Opportunisten des „Nasche Djelo" bis zu den gemäßigten Opportunisten des „Sozialdemokrat", lässt kein Mittel unversucht, den Unterschied zwischen den Trudowiki und den Kadetten zu verwischen und verkehrt darzustellen, ohne anscheinend eine neue äußerst wichtige Erscheinung zu bemerken: das Zerfallen der Trudowiki in Volkssozialisten, Sozialrevolutionäre und solche, die zu den einen oder den anderen neigen. Natürlich hat schon die Geschichte der ersten Duma und ihre Auflösung Beweise dafür geliefert, dass es unbedingt erforderlich ist, die Kadetten und Trudowiki unterschiedlich zu behandeln, dass die letzteren in höherem Maße folgerichtig und entschieden demokratisch sind. Die Kampagne, die den Wahlen zur zweiten Duma vorausgeht, muss diese Tatsache noch anschaulicher, genauer, voller und in breiterem Maße beweisen und zeigen. Die Wahlkampagne selbst lehrt, wie wir an Hand der Beispiele uns zu zeigen bemüht haben, die Sozialdemokraten, die einzelnen bürgerlich-demokratischen Parteien richtig voneinander zu unterscheiden, und wird tatsächlich die von Grund aus verkehrte Meinung, die Kadetten seien ernste Vertreter oder gar die Hauptvertreter unserer bürgerlichen Demokratie überhaupt, widerlegen, oder richtiger gesagt, zur Seite schieben.

Wir wollen noch feststellen, dass die Sozialdemokraten in der Wahlkampagne überhaupt und bei dem Wahlabkommen auf den höheren Stufen einfach und klar, in einer der Masse verständlichen Sprache zu reden verstehen müssen, dass sie ein für allemal der schweren Artillerie der hochgelehrten Ausdrücke, der Fremdwörter, der auswendig gelernten, fertigen, der Masse aber noch nicht verständlichen, ihr noch unbekannten Losungen, Feststellungen, Schlussfolgerungen entsagen müssen. Wir müssen verstehen, ohne Phrasen und ohne jedes Geschrei, mit Tatsachen und Ziffern in der Hand, die Fragen des Sozialismus und die Fragen der jetzigen russischen Revolution auseinanderzusetzen.

Hierbei werden zwei Grundfragen dieser Revolution von selbst in den Vordergrund treten: die Frage der Freiheit und die Frage des Bodens. Auf diese Grundfragen, die die ganze Volksmasse bewegen, müssen wir sowohl die rein sozialistische Propaganda des Standpunktes des Proletariats – zum Unterschied vom Standpunkt des kleinen Besitzers – als auch die unterschiedliche Behandlung der Parteien konzentrieren, die um den Einfluss im Volke ringen. Die Schwarzhunderter einschließlich der Oktobristen sind gegen die Freiheit, gegen die Übergabe des Bodens an das Volk. Sie wollen der Revolution durch Gewalt, Bestechung, Betrug Einhalt gebieten. Die liberal-monarchistische Bourgeoisie, die Kadetten, ist ebenfalls bestrebt, der Revolution durch eine Reihe von Zugeständnissen Einhalt zu gebieten. Sie will dem Volke weder die ganze Freiheit noch den ganzen Boden geben. Sie will den Großgrundbesitz durch die Ablösung und die Schaffung von örtlichen Bodenkomitees, die nicht auf der Grundlage der allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Wahl gewählt werden sollen, beibehalten. Die Trudowiki – d. h. das Kleinbürgertum, besonders das dörfliche – wollen den ganzen Boden und die ganze Freiheit erlangen, aber sie schreiten zu diesem Ziel nicht fest, sondern unbewusst, unsicher, schwanken dabei zwischen dem Opportunismus der Sozialkadetten (Volkssozialisten), die die Vorherrschaft der liberalen Bourgeoisie über die Bauernschaft zu rechtfertigen suchen, sie zur Theorie erheben – und dem Utopismus der Gleichmachung, die angeblich unter der Warenproduktion möglich ist. Die Sozialdemokratie muss folgerichtig den Standpunkt des Proletariats vertreten, wobei sie das revolutionäre Selbstbewusstsein der Bauernschaft vom volkssozialistischen Opportunismus und vom Utopismus reinigen muss, der die wirklich lebenswichtigen Aufgaben der gegenwärtigen Revolution in den Hintergrund drängt. Die Arbeiterklasse aber kann ebenso wie das ganze Volk nur bei dem vollen Sieg der Revolution, so wie es wirklich erforderlich ist, schnell, kühn, frei und großzügig die Hauptaufgabe der gesamten zivilisierten Menschheit in Angriff nehmen, die Befreiung der Arbeit vom Joch des Kapitals.

Die Frage der Kampfmittel werden wir in der Wahlkampagne und bei dem Zustandekommen von Teilabkommen zwischen den Parteien ebenfalls sorgfältig behandeln. Wir werden klarstellen, was die Konstituante ist und warum die Kadetten sie fürchten. Wir werden die liberalen Bourgeois, die Kadetten fragen, welche Maßregeln sie zu verteidigen und selbständig zu verwirklichen beabsichtigen, damit niemand mit den Volksvertretern ebenso umspringen könne, wie man mit den Abgeordneten des ersten Aufgebots „umgesprungen" ist. Wir werden es den Kadetten nicht vergessen, und werden es möglichst breiten Massen klarmachen, was für einen niederträchtigen, verräterischen Standpunkt sie gegenüber den Kampfformen eingenommen haben, die in den Monaten Oktober bis Dezember des vorigen Jahres angewandt wurden. Wir werden jeden einzelnen Kandidaten fragen, ob er die Absicht hat, seine ganze Tätigkeit in der Duma uneingeschränkt den Interessen des Kampfes außerhalb der Duma, den Interessen der breiten Volksbewegung für Land und Freiheit unterzuordnen. Wir müssen die Wahlkampagne zur Organisierung der Revolution, d. h. zur Organisierung des Proletariats und der wirklich revolutionären Elemente der bürgerlichen Demokratie benützen.

Das ist der positive Inhalt, den wir der ganzen Wahlkampagne und insonderheit der Politik der Teilabkommen mit anderen Parteien zu geben trachten müssen.

VII.

Fassen wir zusammen.

Der Ausgangspunkt der allgemeinen Wahltaktik der Sozialdemokratie muss die völlige Selbständigkeit der Klassenpartei des revolutionären Proletariats sein.

Abweichungen von diesem allgemeinen Grundsatz sind nur im Falle äußerster Notwendigkeit und unter genau begrenzten Bedingungen möglich.

Die Eigenarten des russischen Wahlsystems und der politischen Gruppierungen in der überwiegenden Masse der Bevölkerung, der Bauernschaft, rufen diese äußerste Notwendigkeit auf den unteren Stufen der Wahlkampagne, d. h. bei den Wahlen der Wahlmänner in den Großstädten, der Zehnhöfe-Vertreter und der Bevollmächtigten in den Dörfern nicht hervor. In den Großstädten ist diese Notwendigkeit nicht gegeben, da hier die Wahlen durchaus nicht wegen der Zahl der Dumaabgeordneten von Wichtigkeit sind, sondern wegen der Möglichkeit sozialdemokratischer Agitation unter den breitesten, besonders konzentrierten, nach ihrer ganzen Lage „besonders sozialdemokratischen" Schichten der Bevölkerung.

In den Dörfern ruft die niedrige Stufe der politischen Entwicklung der Massen, ihre mangelnde politische Organisation, ihre Zersplitterung, die geringe Bevölkerungsdichte und die äußeren Bedingungen der Wahlen eine besondere weite Verbreitung von parteilosen (und parteilos-revolutionären) Organisationen, Verbänden, Zirkeln, Versammlungen, Anschauungen und Bestrebungen hervor. Unter solchen Bedingungen sind Blocks auf den unteren Stufen ganz unnötig. Die strenge Parteimäßigkeit der Sozialdemokraten ist hier in jeder Beziehung viel richtiger und viel zweckmäßiger.

Der allgemeine Grundsatz der Notwendigkeit des Bündnisses des Proletariats und der revolutionären Bauernschaft führt somit dazu, nur Teilabkommen (von der Art der Abkommen mit den Trudowiki gegen die Kadetten) auf den oberen Stufen des Wahlsystems, d. h. in den Versammlungen der Bevollmächtigten und der Wahlmänner als notwendig anzuerkennen. Die Eigenarten der politischen Gruppierungen bei den Trudowiki sprechen ebenfalls für eine solche Lösung der Frage.

Bei allen diesen Teilabkommen müssen die Sozialdemokraten die bürgerlich-demokratischen Parteien und Schattierungen, die es bei ihnen gibt, nach dem Grad der Folgerichtigkeit und der Entschiedenheit ihres Demokratismus streng von einander unterscheiden.

Die Wahlkampagne und die Teilabkommen müssen die Propaganda des Sozialismus und der selbständigen Losungen, die die Sozialdemokratie in der gegenwärtigen Revolution sowohl hinsichtlich ihrer Aufgaben als auch hinsichtlich der Wege und Mittel zur Verwirklichung dieser Aufgaben vertritt, zu ihrem ideologisch-politischen Inhalt haben.

Die vorliegende Broschüre wurde vor dem Erscheinen der 5. Nummer des „Sozialdemokrat" geschrieben. Vor dem Erscheinen dieser Nummer hatte unsere Partei vollen Grund zur Hoffnung, dass das ZK unserer Partei bedingungslos auf dem Standpunkt steht, dass Abkommen zwischen Sozialisten und bürgerlichen Parteien auf der ersten Stufe der Wahlen unzulässig sind. Wir waren zu dieser Annahme verpflichtet, da ein so einflussreicher Menschewik, wie Genosse L. Martow, sich entschieden gegen jedes Abkommen auf der ersten Stufe ausgesprochen hatte, – und zwar nicht nur im „Towarischsch", sondern auch in dem Brief (der Martow zum Verfasser hat) über die Frage der Vorbereitung zur Wahlkampagne, den das ZK an die Organisationen gesandt hat.5

Jetzt stellt sich heraus, dass unser ZK zu Tscherewanin umgeschwenkt oder zumindest ins Schwanken geraten ist. Der Leitartikel in Nr. 5 des „Sozialdemokrat"6 erklärt Blocks auf der ersten Stufe für zulässig, ohne sogar einen Vorbehalt darüber zu machen, mit welchen bürgerlichen Parteien diese Blocks geschlossen werden dürfen! Der heutige (13. November [31. Oktober]) Brief Plechanows, der zur Verteidigung des Blocks mit den Kadetten in die Kadettenzeitung „Towarischtsch"7 übersiedelt ist, zeigt allen, unter wessen Einfluss das ZK ins Schwanken geraten ist. Plechanow aber tut wie gewöhnlich seine Orakelsprüche kund; er verzapft die banalsten Gemeinplätze, übergeht vollständig die Klassenaufgaben des sozialistischen Proletariats (wohl aus Liebenswürdigkeit gegenüber der bürgerlichen Zeitung, die ihn bei sich aufgenommen hat) und versucht nicht einmal die konkreten Tatsachen und Gründe zu streifen.

Sollte diese „Zurechtweisung" aus Genf wirklich dazu genügen, dass das ZK von Martow zu … Tscherewanin abrutscht?

Sollte wirklich der Beschluss des Vereinigungs-Parteitages, der alle Abkommen mit bürgerlichen Parteien verbietet, durch das auf dem Parteitag gewählte ZK sabotiert werden?

Der Geschlossenheit der sozialdemokratischen Wahlkampagne droht eine ungeheure Gefahr.

Der sozialistischen Arbeiterpartei droht die Gefahr, dass Abkommen mit bürgerlichen Parteien auf der ersten Stufe die sozialistische Partei zersetzen und das Werk der selbständigen Klassenpolitik des Proletariats zunichte machen.

Mögen sich alle revolutionären Sozialdemokraten zusammenschließen und der opportunistischen Verwirrung und den Schwankungen rücksichtslosen Kampf erklären!

1 Die Broschüre Lenins: „Sozialdemokratie und Wahlabkommen" zieht das Fazit aus der Diskussion innerhalb der Sozialdemokratie über die Frage der Blocks bei den Wahlen zur zweiten Reichsduma.

Fünf Jahre später, im Jahre 1912, wurde die Broschüre von der Zensur angefordert, wobei der Referent der Petersburger Pressestelle dem Verfasser besonders folgende Stelle zur Last legte: „Die revolutionäre Sozialdemokratie muss als erste den Weg des entschlossensten und rücksichtslosesten Kampfes betreten und als letzte zu Methoden greifen, die mehr mittelbar den Zwecken des Kampfes dienen" (siehe S. 178f. des vorliegenden Bandes). Die Pressestelle beschlagnahmte die Broschüre, das Appellationsgericht aber beschloss: „Wegen Verjährung der Frist für die Erhebung der Anklage gegen die für den Druck dieser Broschüre Verantwortlichen ist das Verfahren einzustellen, die Broschüre jedoch zu vernichten." Am 12. Februar (30. Januar) 1912 wurden in der Druckerei der St. Petersburger Stadthauptmannschaft die restlichen Exemplare der Broschüre vernichtet.

A Wir behandeln hier nicht die Frage des Boykotts, weil das nicht zum Thema der Broschüre gehört. Wir wollen nur bemerken, dass man über den Boykott nicht außerhalb der konkreten, geschichtlichen Situation urteilen darf. Der Boykott der Bulyginschen Duma war erfolgreich. Der Boykott der Witteschen Duma war notwendig und richtig. Die revolutionäre Sozialdemokratie muss als erste den Weg des entschlossensten und rücksichtslosesten Kampfes betreten und als letzte zu Methoden greifen, die mehr mittelbar den Zwecken des Kampfes dienen. Der Boykott der Stolypinschen Duma ist in der alten Form unmöglich und wäre nach der Erfahrung der ersten Duma ein Fehler.

2„Mirnoje Obnowlenije" – „Friedliche Erneuerung". Die Red.

3 Lenin bezieht sich auf den Artikel von W. Golubjew: „Zu den Aufgaben der Partei der konstitutionellen Demokraten" („Towarischtsch" Nr. 73 vom 11. Oktober [28. September] 1906). Golubjew gab zu, dass bis jetzt „die Partei reich an Generalen, aber arm an Soldaten und Instrukteuren war".

4 In den Text des Artikels Lenins auf dieser Seite, ebenso wie in die Anmerkung B hat sich eine Ungenauigkeit eingeschlichen, da die Zeitschrift, auf die sich Lenin an beiden Stellen bezieht, die Bezeichnung „Bote der Partei der Volksfreiheit" und nicht „Bote der konstitutionell-demokratischen Partei" trägt. Lenin benutzt hier die Angaben des Artikels: „Die Wahlen zur Reichsduma in den Städten mit besonderer Vertretung" (Nr. 7) vom 19. April 1906).

B Selbstverständlich beeinflussen die Kleinstädte auf dem Wege über die städtischen Kongresse auch die Zusammensetzung der Gouvernementswahlversammlungen. Die Kadetten und die Fortschrittler hatten auch hier ein erdrückendes Übergewicht: so waren z. B. von 571 Wahlmännern der städtischen Kongresse 424 Kadetten und Fortschrittler (325 Kadetten und 99 Fortschrittler), 147 Rechte (55 Oktobristen, 39 Vertreter der Handels- und Industriepartei und 53 äußerste Rechte) („Wjestnik Konstitutionalno-Demokratitscheskoi Partii" 1906, Nr. 5 vom 10. 4. [28. 3.]). In einzelnen Städten waren die Schwankungen natürlich sehr erheblich. Bei einer solchen Lage der Dinge wäre es uns wahrscheinlich in einer sehr großen Anzahl von Fällen gelungen, den Kadetten selbständige Schlachten zu liefern, ohne dass wir zufällige Stimmenzersplitterungen hätten zu fürchten brauchen und ohne dass wir uns in die Abhängigkeit von irgendeiner nicht sozialdemokratischen Partei begeben hätten. Von Blocks auf der unteren Stufe der Wahlen in der Arbeiterkurie wird vermutlich kein einziger Sozialdemokrat im Ernst sprechen wollen. In der Arbeitermasse ist völlige Selbständigkeit der Sozialdemokraten ganz besonders notwendig.

C Natürlich ist es kein Zufall, dass die Sozialrevolutionäre in der ersten Duma durchaus nicht geschlossen als Partei aufzutreten vermochten. – Nicht etwa, weil sie es nicht gewollt hätten, sondern weil sie es nicht vermochten. Und die Sozialrevolutionäre in der Duma hielten es, ebenso wie die Sozialrevolutionäre in der Universität, für vorteilhafter, sich hinter die parteilosen Trudowiki zu verstecken, oder sich mit ihnen zu blockieren.

D Es ist interessant, dass es auch in der Praxis der internationalen Sozialdemokratie Beispiele für unterschiedliche Behandlung der Wahlabkommen auf den unteren und auf den oberen Stufen gibt. In Frankreich sind die Wahlen der Senatoren zweistufig. Die Wähler wählen die Departements-Wahlmänner, diese wählen die Senatoren. Die revolutionären Sozialdemokraten, die Guesdeisten, haben stets Wahlabkommen, gemeinsame Listen auf den unteren Wahlstufen für unzulässig gehalten, während sie Teilabkommen auf den oberen Stufen, d. h. für die Verteilung der Parlamentssitze auf den Versammlungen der Departements-Wahlmänner, für zulässig hielten. Die Opportunisten, die Jaurèsisten, waren für Abkommen auch auf den unteren Stufen.

E Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass die Wahlmänner ausschließlich aus Mitgliedern verschiedener Parteien bestehen. In Wirklichkeit wird es natürlich viele parteilose Wahlmänner geben. Dann besteht die Aufgabe der sozialdemokratischen Wahlmänner darin, soweit als möglich das politische Gesicht aller Wahlmänner, besonders der bürgerlich-demokratischen festzustellen und eine „linke Mehrheit" der sozialdemokratischen und der bürgerlichen Kandidaten, die für die Sozialdemokraten am meisten erwünscht sind, zu organisieren. Über die Hauptmerkmale, an denen man die Bestrebungen der verschiedenen Parteien erkennen kann, werden wir weiter unten sprechen.

F So hat die „Sosnatelnaja Rossija" die Volkssozialisten genannt. Übrigens haben uns die beiden ersten Nummern dieser Zeitschrift außerordentliches Vergnügen bereitet. Die Herren Tschernow, Wadimow u.a. zerpflücken vortrefflich sowohl Pjeschechonow als auch Tag-in. Besonders gut ist die Abfuhr, die Herrn Tag-in vom Standpunkt der Theorie der Warenproduktion erteilt wird, die sich über den Kapitalismus zum Sozialismus entwickelt. [Lenin meint den Artikel von W. Tschernow „Organisierung oder Atomisierung der Revolution?" („Sosnatelnaja Rossija" Ausgabe 2, S. 1), sowie den Artikel von W. Wadimow „Zur Frage des Maximal- und des Minimalprogramms" (ebenda, Ausgabe 1, S. 26).]

5 Lenin meint den im Oktober 1906 von L. Martow verfassten und vom Zentralkomitee unter der Bezeichnung: „Brief Martows über die Frage der Vorbereitung zur Wahlkampagne" (Sonderabdruck) herausgegebenen Artikel. Martow, der in dem Brief die Fragen der Blocks oder Abkommen im Verlaufe der Wahlen, die Richtlinien der Wahlagitation, die Methoden der Auf Stellung der Parteikandidaturen usw. behandelt, schrieb zur Frage der Blocks: „… Gestützt auf die Resolution des Parteitages, würde ich eine völlige Selbständigkeit unseres Vorgehens im ersten Stadium der Wahlen, d. h. dort empfehlen, wo wir vor den Massen auftreten." „Für das zweite Stadium der Wahlen – fuhr Martow fort – würde ich die Zulässigkeit eines Abkommens mit den linken Parteien dort empfehlen, wo es sich darum handelt, innerhalb des Kollegiums der Wahlmänner die erforderliche absolute Mehrheit zu erzielen, die unsere Partei nicht aufgebracht hat. Das Ziel solcher Abkommen muss ein sehr eng begrenztes sein und darin bestehen, die Dumamandate unter den Parteien ihrem Kräfteverhältnis entsprechend aufzuteilen, somit also keine Vereinbarung über die Aufstellung bestimmter gemeinsamer Kandidaten, sondern einen direkten Vertrag über die Verpflichtung der einen Partei zur Unterstützung der Kandidaten der anderen durch die Stimmen der eigenen Wahlmänner und umgekehrt abzuschließen." Martow betonte, dass „Abkommen im Falle der Unmöglichkeit der Eroberung aller Mandate… stets erwünscht und zulässig sind mit Parteien, die den Kampf um die konstituierende Versammlung als Minimum anerkannt haben".

6 Lenin meint folgende Stelle aus dem Leitartikel: „Über die Wahlabkommen" („Sozialdemokrat" Nr. 5 vom 9. November [27. Oktober] 1906): „Wenn unsere politische Hauptlosung die Forderung der Konstituierenden Versammlung ist, durch die Duma, wie vorstehend gesagt wurde, oder ohne die Duma, – so können wir, während wir im Laufe der ganzen Periode der Agitation vor der Wahl vollkommen frei und selbständig bleiben, dort, wo dies im Interesse einer erfolgreicheren Erfüllung einer der vorstehend erwähnten Aufgaben notwendig ist, auf jeden Fall formelle Abmachungen mit Parteien eingehen, die einverstanden sind, diese unsere Forderung auf ihr Banner zu schreiben."

7 Es handelt sich um G. Plechanows „Offenen Brief an die klassenbewussten Arbeiter" in der Zeitung „Towarischtsch" Nr. 101, vom 13. November (31. Oktober) 1906, in dem Plechanow folgenden Gedanken entwickelte: „Wer im Namen einer falsch verstandenen ,Unversöhnlichkeit' in den bezeichneten Fällen (in den Fällen, wo die Sozialdemokraten vom Siege des von ihnen aufzustellenden Kandidaten nicht überzeugt sein konnten – Red.) kein Abkommen mit oppositionellen, nichtproletarischen Parteien eingehen will, der unterstützt in Wirklichkeit die Regierung, d. h. handelt so, wie die Feinde der Freiheit handeln."

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