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Wladimir I. Lenin 19070126 Die Sozialdemokratie und die Duma-Wahlen

Wladimir I. Lenin: Die Sozialdemokratie und die Duma-Wahlen

[Geschrieben am 13./14. [26./27.] Januar 1907. Veröffentlicht im Januar 1907 als Broschüre im Verlag „Nawaja Duma". Nach dem Text der Broschüre. {Diese Angaben nach Werke, Band 11, Berlin 1958, S. 435} Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 340-364]

Die Konferenz der Petersburger sozialdemokratischen Organisation hat den Beschluss gefasst, keinen Block mit den Kadetten einzugehen, den Trudowiki und den Sozialrevolutionären aber ein Abkommen vorzuschlagen. Die Menschewiki haben aus formellen Gründen etliche Verwahrungen eingelegt und die Konferenz verlassen, als sie in der Minderheit blieben.

Die liberalen Zeitungen machen schon viel Aufhebens von diesem Ereignis. Sie prophezeien eine Spaltung der sozialdemokratischen Partei und beeilen sich, eine ganze Reihe von politischen Schlüssen zu ziehen. In Anbetracht alles dessen ist es außerordentlich wichtig, dass sich jeder klassenbewusste Arbeiter volle Rechenschaft gibt, was eigentlich in der sozialdemokratischen Organisation Petersburgs vorgeht und wie er sich zu diesen Vorgängen verhalten soll.

Wir beabsichtigen daher, die Hauptfragen zu untersuchen, die durch diese Vorgänge aufgeworfen werden, und zwar: 1. die Zusammensetzung der Konferenz; 2. den unmittelbaren Anlass zum Weggehen der Menschewiki – den Versuch des ZK, die Konferenz in zwei Teile zu teilen, in eine Stadt- und eine Gouvernementskonferenz, und 3. die Bedeutung des ganzen Ereignisses, und zwar besonders im Hinblick auf den Wahlkampf, der sich in Petersburg abspielt.

I.

Die Bedingungen der Einberufung und die Zusammensetzung der sozialdemokratischen Konferenz

Die Konferenz der Petersburger Organisation sollte in der wichtigsten politischen Frage der Gegenwart einen endgültigen Beschluss fassen: ob ein Abkommen mit den Kadetten in dem ersten Stadium der Dumawahlen getroffen werden soll oder nicht?

Die SDAPR ist demokratisch organisiert. Das bedeutet, dass alle Parteiangelegenheiten – unmittelbar oder durch Vertreter – von allen Parteimitgliedern ohne Ausnahme auf Grund gleicher Rechte verwaltet werden; wobei alle Beauftragten, alle führenden Kollegien, alle Parteikörperschaften wählbar, verantwortlich und absetzbar sind. Die Geschäfte der Petersburger Organisation besorgt das gewählte Petersburger Komitee der SDAPR. Da es unmöglich ist, sämtliche Parteimitglieder (ungefähr 6000) auf einer Versammlung zusammenzubringen, bildet die Vertreterkonferenz der Organisation die oberste Körperschaft der Petersburger Organisation. Sämtliche Mitglieder der Organisation haben das Recht, zu dieser Konferenz Vertreter zu entsenden: je einen Delegierten auf eine bestimmte Anzahl von Parteimitgliedern, z. B. je einen Delegierten auf 50 Parteimitglieder, wie es für die letzte Konferenz beschlossen worden ist. Diese Vertreter müssen von allen Parteimitgliedern gewählt werden und der Beschluss der Vertreter ist für die gesamte Ortsorganisation die oberste und endgültige Entscheidung einer Frage.

Aber das ist noch nicht alles. Es genügt nicht, gewählte Vertreter der Organisation zusammentreten zu lassen, um eine Frage wirklich demokratisch zu entscheiden. Es ist erforderlich, dass sämtliche Mitglieder der Organisation bei der Wahl ihrer Vertreter selbständig und jeder für sich zu der Streitfrage Stellung nehmen, die die gesamte Organisation interessiert.

Demokratisch organisierte Parteien und Verbände können grundsätzlich nicht auf eine solche Befragung ausnahmslos aller Mitglieder verzichten – zumindest nicht in den wichtigsten Fällen, und besonders dann nicht, wenn es sich um eine politische Aktion handelt, bei der die Masse selbständig auf den Plan tritt, z. B. bei einem Streik, bei dem Boykott irgendeiner wichtigen örtlichen Körperschaft usw.

Warum hält man es in solchen Fällen für ungenügend, Vertreter zu entsenden? Warum ist die Befragung sämtlicher Parteimitglieder oder das sogenannte „Referendum" erforderlich? Eben deswegen, weil für den Erfolg von Massenaktionen die bewusste und freiwillige Beteiligung jedes einzelnen Arbeiters erforderlich ist. Streiks können nicht einmütig, Wahlen nicht zielbewusst durchgeführt werden, wenn nicht jeder einzelne Arbeiter voll bewusst und freiwillig für sich die Frage entschieden hat: Streiken oder nicht? Für die Kadetten stimmen oder nicht? Es ist unmöglich, alle politischen Fragen durch Befragung sämtlicher Parteimitglieder zu entscheiden; das würde eine endlose und fruchtlose Abstimmerei sein. Die wichtigeren Fragen aber, solche, die unmittelbar mit einer bestimmten Aktion der Massen selbst verbunden sind, müssen im Namen der Demokratie nicht nur durch Entsendung von Vertretern, sondern auch durch Befragung sämtlicher Parteimitglieder entschieden werden.

Aus diesem Grunde hatte das Petersburger Komitee beschlossen, dass die Delegierten zur Konferenz unbedingt erst gewählt werden sollten, nachdem die Parteimitglieder die Frage erörtert hätten, ob wir ein Abkommen mit den Kadetten eingehen sollen, nachdem sämtliche Parteimitglieder über diese Frage abgestimmt hätten. Die Wahlen sind eine Angelegenheit, an der die Masse unmittelbar teilnimmt. Die Sozialisten halten das Bewusstsein der Massen für die wichtigste Kraft. Jedes Parteimitglied muss also bewusst die Frage entscheiden, ob wir bei den Wahlen für die Kadetten stimmen sollen oder nicht. Erst nach einer offenen Erörterung dieser Frage durch alle versammelten Parteimitglieder ergibt sich für jedes einzelne von ihnen die Möglichkeit, den einen oder den anderen bewussten und festen Entschluss zu fassen. Allein auf Grund eines solchen Entschlusses hört die Wahl von Vertretern zur Konferenz auf, eine Angelegenheit zu sein, die der Vetternwirtschaft, dem Klüngelwesen oder der Gewohnheit überlassen bleiben. („Nun, wir wählen eben unsern Nikolai Nikolajewitsch oder Iwan Iwanowitsch!") Erst dann wird tatsächlich die Mitgliedschaft selbst (d. h. alle Parteimitglieder) bewusst ihre eigene politische Linie festlegen.*

Die Dumawahlen, d. h. die erste und wichtigste Abstimmung über die Bevollmächtigten oder die Wahlmänner, werden nicht durch Vertreter, sondern durch jeden einzelnen Wähler selbst geschehen. Wenn wir also nicht nur in Worten, sondern auch in der Tat Sozialisten sein wollen, die in einer wirklich demokratischen Arbeiterpartei organisiert sind, dann müssen wir darauf dringen, dass sich jeder Arbeiter über die Frage klar werde, ob wir für die Kadetten stimmen sollen oder nicht. Es genügt nicht, die Vertretung einem Bekannten, Iwan Iwanowitsch, oder einem guten Menschen, Sidor Sidorytsch, anzuvertrauen, – die strittige Frage muss ihrer grundsätzlichen Bedeutung gemäß bewusst in den „unteren" Parteimassen geklärt werden. Erst dann wird eine demokratische Entscheidung eine bewusst-demokratische Entscheidung der Masse und nicht nur eine Entscheidung der aus „Bekanntschaft" gewählten Vertreter sein.

Das Petersburger Komitee ist der gewählte Führer der gesamten sozialdemokratischen Organisation Petersburgs und des St. Petersburger Gouvernements. Wenn es die Masse in einer solchen Angelegenheit wie den Dumawahlen führen will, dann ist es verpflichtet (wenn es nicht nur in Worten zur Demokratie steht), dahin zu wirken, dass sich die gesamte Masse bewusst an den Wahlen beteilige. Wenn aber die Wahlbeteiligung der gesamten Masse bewusst und geschlossen geschehen soll, dann müssen nicht nur die Vertreter der Partei, dann muss auch jedes einzelne Parteimitglied seinem Petersburger Komitee eine klare Antwort auf die Frage geben, ob er für ein Abkommen mit den Kadetten eintritt oder nicht.

Das ist die Bedeutung der „Diskussionen", d. h. der Erörterung der Streitfrage selbst vor den Wahlen der Vertreter. In jeder Mitgliederversammlung musste vor den Wahlen von Vertretern zur Konferenz zuerst die strittige politische Frage erörtert, ein Referent des Petersburger Komitees, d. h. der führenden örtlichen Parteikörperschaft, gehört, aber auch Vertretern anderer Auffassungen das Wort erteilt werden. Nach der Erörterung stimmen alle Parteimitglieder darüber ab, ob sie für ein Abkommen mit den Kadetten sind oder nicht. Das Abstimmungsergebnis wird überprüft von Mitgliedern der Kontrollkommission, in der beide Strömungen vertreten sind (wenn es in der Organisation in der betreffenden Frage zwei Strömungen gibt). Nur dann, wenn diese Bedingungen eingehalten werden, wird das Petersburger Komitee wirklich die bewusste Meinung der gesamten Parteimitgliedschaft kennen, wird es folglich bei der Leitung von Aktionen nicht im Dunkeln tappen, sondern sich auf die völlige Klarstellung der Frage durch die Masse stützen.

Diese Erläuterung war deshalb nötig, weil auf der Konferenz Streitereien über die „Diskussionen" und die Befragung aller Parteimitglieder ausbrachen.

Die Grundlosigkeit solcher Streitereien ist für die Parteimitglieder um so augenscheinlicher, als sogar in dem Brief des ZK vom 23. (10.) November, der die Entscheidung dieser Frage (ob wir ein Abkommen eingehen sollen) durch die Ortsorganisationen behandelt, geradezu empfohlen wird, diese Frage durch alle Parteimitglieder „vorher erörtern zu lassen".

Untersuchen wir nunmehr, wie die Konferenz zusammengesetzt war. Ursprünglich wurden alle diejenigen Vertreter zu der Konferenz zugelassen, die in der einen oder anderen Organisation gewählt worden waren, ohne dass man die Wahlen überprüft hatte (d. h. ohne Prüfung der „Mandate" oder Vollmachten). Insgesamt waren 71 Vertreter oder Delegierte anwesend, darunter 40 Bolschewiki und 31 Menschewiki. Sie verteilen sich folgendermaßen auf die einzelnen Bezirke:

Wassiljeostrowscher Bezirk

7 Bolschewiki

6 Menschewiki

insgesamt 13

Wiborger Bezirk

2

5

7

Städtischer Bezirk

5

7

12

Eisenbahner

1

2

3

Letten

2

-

2

Moskauer Bezirk

4

5

9

Narwaer Bezirk

-

-

-

Newa-Bezirk

2

1

3

Landbezirk

9

2

11

Handwerker (Verkäufer)

4

1

5

Petersburger Bezirk

3

2

5

Esten

-

-

-

Militärorganisation

1

-

1

Insgesamt:

40 Bolschewiki

31 Menschewiki

insgesamt 71

Es fehlten zwei Delegierte der Esten (beide Bolschewiki) und ein Lette (Menschewik). Mit ihnen zusammen würden es 42 Bolschewiki und 32 Menschewiki gewesen sein.

Hieraus ist ersichtlich, dass die Bolschewiki von Anfang an, d. h. vor jeder Prüfung der Vollmachten, das Übergewicht hatten. Infolgedessen ist alles und jedes Gerede über das „künstliche" Übergewicht der Bolschewiki von vornherein hinfällig. Mit den Klagen darüber, dass die Bolschewiki nicht sämtliche Vollmachten bestätigt hätten, sind die Menschewiki jetzt sogar in die bürgerliche Presse gegangen. Sie haben nur vergessen, dieser Presse mitzuteilen, dass auch vor der Prüfung der Mandate, vor jeder Prüfung der Vollmachten die Bolschewiki ohnehin die Mehrheit hatten!

Um diese Frage des Übergewichts auf der Konferenz noch klarer und ein für allemal zu entscheiden, wollen wir nicht die Zahl der Mandate (Vollmachten), sondern die Gesamtzahl der Stimmen, die von den Parteimitgliedern abgegeben wurden, nehmen.

Wir erhalten dann folgendes Bild:

Unbestrittene Stimmen

1848** für die Bolsch. und 787 für die Mensch.

Strittige Stimmen

300 für die Bolsch. und 946 für die Mensch.

Insgesamt

2148 für die Bolsch. und 1733 für die Mensch

An der Abstimmung beteiligten sich also insgesamt ungefähr 4000 Parteimitglieder (3881). Das Übergewicht der Bolschewiki beträgt über 400 Stimmen.

Es unterliegt also keinem Zweifel, dass sogar dann, wenn sämtliche strittigen Stimmen für richtig befunden worden wären, die Bolschewiki doch ein starkes Übergewicht behalten hätten. Demnach bezogen sich alle Streitereien über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des einen oder andern Teils der Stimmen durchaus nicht auf die Frage des Übergewichts der Bolschewiki: gestritten wurde darüber, wie das Prinzip der demokratischen Vertretung in vollem Umfange zu verwirklichen sei.

Warum haben aber dann die Bolschewiki trotzdem einen Teil der Vollmachten (Mandate) für ungültig erklärt? Weil die strittigen Mandate nicht als gültig anerkannt werden konnten. Ungültige Mandate aber können nicht mit gültigen Mandaten, die von niemand angefochten werden, in einen Topf geworfen werden.

Welche Mandate wurden angefochten? Die Mandate der Delegierten, bei deren Wahl nicht ordnungsgemäß verfahren worden war, also beispielsweise die Mitglieder der Kontrollkommission keine Kontrolle ausübten, vor der Abstimmung keine Diskussion (Erörterung) stattgefunden hatte, die Abstimmungen nicht „nach Plattformen" geschehen waren (d. h. also nicht sämtliche Abstimmenden darüber befragt worden waren, ob sie für ein Abkommen mit den Kadetten seien oder nicht). Wahlen, bei denen solche Regeln verletzt worden sind, können nicht als demokratische Wahlen bezeichnet werden.

Nun fragt es sich, was mit den strittigen Mandaten geschehen sollte! Jeden einzelnen Fall zu untersuchen, war unmöglich. Zu diesem Zwecke hätte die Konferenz einen Tag länger tagen müssen, während die Zeit, die der Konferenz zur Verfügung stand, ohnehin knapp bemessen war. Kaum war die Konferenz geschlossen, mussten sich die Arbeiter bereits zur Wahl der Bevollmächtigten begeben (20. [7.] Januar).

Es blieb nur ein Ausweg: die „Vertreternorm" für alle strittigen Mandate zu erhöhen, d. h. nicht auf je 50, sondern auf je 75 Stimmen ein Mandat zu rechnen. Zu diesem Verfahren entschloss man sich aus dreierlei Gründen: 1. Dies Verfahren schloss die Möglichkeit von Willkür und beiderseitiger Nervosität bei der Prüfung der einzelnen strittigen Mandate aus; 2. es stellte die gleichen Bedingungen für die strittigen Mandate auf, gleichviel, ob sie von der einen oder der anderen Seite angefochten wurden; 3. es stützte sich auf einen Beschluss des Petersburger Komitees, der lange Zeit vor der Konferenz angenommen worden war, – und zwar hatte das Petersburger Komitee beschlossen, dass in allen Fällen, in denen demokratische Wahlen zur Konferenz gänzlich unmöglich sind (wenn es z. B. aus polizeilichen Gründen unmöglich ist, Versammlungen einzuberufen), Vertreter zugelassen werden sollten, die nicht ganz demokratisch gewählt worden waren, dass jedoch die Vertreternorm erhöht werden sollte, d. h. es sollte nicht ein Vertreter auf 50 Stimmen zugelassen werden, sondern auf 75, auf 100 usw.

Man nehme nun die Zahl der strittigen und der unbestrittenen Stimmen. Bei den unbestrittenen Stimmen erhalten wir, wenn wir einen Delegierten auf 50 Stimmen rechnen, 37 Bolschewiki und 16 Menschewiki. Bei den strittigen Stimmen erhalten wir, wenn wir einen Delegierten auf 75 Stimmen rechnen, 4 Bolschewiki und 12 Menschewiki. Insgesamt also erhalten wir 41 Bolschewiki (plus 1 Bolschewik von der militärischen Organisation, wo demokratische Wahlen unmöglich sind) und 28 Menschewiki.

Diese endgültig bestätigten 70 Mandate verteilten sich folgendermaßen auf die einzelnen Parteiorganisationen:


Wassiljeostrowscher Bezirk

7 Bolschewiki

6 Menschewiki

insgesamt 13

Wiborger Bezirk

2

4

6

Städtischer Bezirk

5

7

12

Eisenbahner

1

2

3

Letten

2

1

3

Moskauer Bezirk

4

4

8

Narwaer Bezirk

-

-

-

Newa-Bezirk

2

1

3

Landbezirk

9

1

10

Handwerker (Verkäufer)

4

-

4

Petersburger Bezirk

3

2

5

Esten

2

-

2

Militärorganisation

1

-

1

Insgesamt:

42 Bolschewiki

28 Menschewiki

insgesamt 70

Hieraus ist ersichtlich, dass die Klagen über die Zusammensetzung der Konferenz ganz grundlos sind. Wenn man natürlich vor Leuten, die nicht unterrichtet sind, ein Geschrei anhebt über die Streichung irgendeines Mandats, über die Nichtanerkennung irgendeiner Vollmacht, – so kann es auf einen Augenblick einen gewissen Eindruck machen, wenn diese Leute sich die Sache nicht überlegen. Das ist doch aber kein Streiten, sondern eine sinnlose Schimpferei.

Man braucht nur alle Angaben über die Zusammensetzung der Konferenz zu prüfen und wird sofort klar erkennen, dass an der Erhöhung der Vertreternorm für alle strittigen Stimmen nichts Willkürliches war. Es ist doch wirklich kein Zufall, dass 2635 Stimmen unstrittig waren und von niemandem angefochten wurden, während nur 1246 Stimmen angefochten wurden! Man kann doch nicht ernstlich behaupten, dass die Masse der angefochtenen Stimmen rein zufällig, ohne jeden Grund, angefochten wurde!

Man vergegenwärtige sich z. B. einmal, was eine Abstimmung „ohne Plattform" bedeutet, wie sie so häufig von den Menschewiki veranstaltet wurde (lediglich aus diesem Grunde haben sie es auf fast 1000 angefochtene Stimmen gebracht). Es bedeutet, dass eine Befragung aller Parteimitglieder darüber, ob sie für ein Abkommen mit den Kadetten oder dagegen sind, nicht stattfindet. Die Wahlen der Delegierten finden ohne eine solche Befragung oder ohne Plattform statt. Die Konferenz kann also die Meinung der Parteimitglieder selbst nicht genau kennen! Die Masse selbst wird also über die Streitfrage (die sich auf eine Aktion der Masse bezieht) nicht befragt. Können hierbei Unrichtigkeiten vermieden werden?

Kann ein aufrichtiger Anhänger der Demokratie in der Organisation wirklich solche Abstimmungen verteidigen? Die Demokratie besteht nicht darin, dass die Masse „aus Bekanntschaft" ihren einzelnen Vertretern Vertrauen schenkt, sondern darin, dass die gesamte Masse selbst bewusst über die wichtigsten Fragen gemäß ihrer wahren Bedeutung abstimmt.

Schließlich müssen die Klagen über die Zusammensetzung der Konferenz noch aus dem Grunde für völlig grundlos erklärt werden, weil in der letzten Zeit eine Reihe von ähnlichen Konferenzen in Petersburg stattgefunden hat. Vor einem Jahr fand die Konferenz über die Boykottfrage statt. Das Übergewicht hatten die Bolschewiki. Während der ersten Duma fand eine Konferenz über die Frage der Unterstützung der Forderung eines Duma- (d. h. Kadetten-) Kabinetts statt. Das Übergewicht hatten die Bolschewiki.

Ist es nicht lächerlich, jetzt zu erklären, dass das Übergewicht der Bolschewiki in der Frage der Wahlabkommen mit den Kadetten ein zufälliges sei?

II.

Die Frage der Teilung der Konferenz

Das Zentralkomitee der Partei, in dem die Menschewiki die Mehrheit haben, richtete an die Petersburger Konferenz die Forderung, sich in eine Stadt- und eine Gouvernementskonferenz zu teilen. Die Menschewiki versuchen, sich auf die Nichterfüllung dieser Forderung zu berufen, um zu rechtfertigen, dass sie die Konferenz verlassen haben.

Prüfen wir, ob diese Forderung nach dem Parteistatut berechtigt, ob sie für die Konferenz obligatorisch war, ob sie verwirklicht werden konnte.

Das Statut unserer Partei sieht ausdrücklich eine demokratische Organisation der Partei vor. Die gesamte Organisation baut sich von unten, nach dem Grundsatz der Wählbarkeit, auf. Die Ortsorganisationen gelten nach dem Parteistatut in ihrer örtlichen Tätigkeit als selbständig (autonom). Das Zentralkomitee vereinigt und leitet auf Grund des Statuts die gesamte Arbeit der Partei. Hieraus ist klar ersichtlich, dass es kein Recht hat, sich in die Zusammensetzung der örtlichen Organisationen einzumischen. Wenn eine Organisation sich von unten aufbaut, so bedeutet es eine völlige Verletzung aller Grundsätze der Parteidemokratie und des gesamten Parteistatuts, sich von oben in ihre Zusammensetzung einzumischen. Nehmen wir an, dass die Organisation aus diesen oder jenen Gründen verschiedenartige Teile umfasst, z. B. eine Stadt und ein Gouvernement. Bei demokratischem Parteiaufbau kann diese Zusammenfassung nicht durch einen Befehl von oben aufrechterhalten (oder vorgeschrieben) werden. Eine Trennung kann also nur auf Wunsch der Mitgliedermassen erfolgen: die Stadt kann sich von dem Gouvernement trennen und niemand kann ihr das verbieten. Das Gouvernement kann sich von der Stadt trennen und niemand kann es ihm verbieten. Wenn die Mitgliedschaft keiner einzigen irgendwie bedeutenden Organisation, kein einziger besonderer Teil einer Organisation die Forderung nach Trennung der Organisationen aufgestellt hat, so bedeutet das, dass das ZK keinen einzigen einflussreichen Teil der Organisation von der Notwendigkeit der Trennung überzeugen konnte! Wenn man unter solchen Bedingungen versucht, von oben eine Trennung aufzuzwingen, so ist das ein Hohn auf die Demokratie, ein Hohn auf das Parteistatut. Es bedeutet nicht mehr und nicht weniger als den Versuch, die Macht des ZK zu missbrauchen, d. h. sie nicht zugunsten der Parteieinheit, sondern zugunsten eines Teiles der Partei (der Menschewiki), also zur Entstellung des Willens und des Beschlusses der örtlichen Parteiarbeiter zu gebrauchen.

Das ZK hat die Unhaltbarkeit seiner Forderung selbst so deutlich gefühlt, dass es sich in dem schriftlichen allgemeinen Beschluss sehr vorsichtig ausgedrückt hat. Der allgemeine Beschluss des ZK empfiehlt allen Parteiorganisationen, „nach Möglichkeit" (so heißt es wörtlich) die Rahmen der Organisationen dem Rahmen der Wahlkreise anzupassen. Diesem Ratschlag bindende Kraft zu verleihen, davon konnte keine Rede sein, und davon war keine Rede. Dass das ZK gerade in Petersburg irgendwelche besonderen Ziele verfolgte, ist daraus ersichtlich, dass es in keiner einzigen andern Stadt Russlands die Teilung einer Konferenz verlangt hat. So gehören z. B. in Wilna der Stadtkonferenz sozialdemokratische Vertreter auch solcher Unternehmungen an, die sich außerhalb der Stadtgrenze, d. h. in einem andern Wahlkreis befinden. Dem ZK ist es gar nicht eingefallen, die Frage der Teilung der Wilnaer Konferenz aufzuwerfen!

In Odessa tagte ebenfalls eine gemeinsame Konferenz, obwohl auch dort ein Teil der Unternehmen sich außerhalb der polizeilichen Stadtgrenze befindet. Ja, vermag man auch nur eine einzige größere Stadt zu nennen, in der die Organisationsrahmen der polizeilichen Teilung in einen städtischen und einen Gouvernementsteil entsprechen? Kann man im Ernst davon sprechen, dass in den größeren Städten, den Zentren der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, die Vorstädte, die nicht selten die größten Fabriken, die proletarischsten „Vororte", beherbergen, von den Städten getrennt werden müssen? Das ist ein so grober Hohn auf den gesunden Menschenverstand, dass nur Leute, die auf der Suche nach einem Anlass zur Spaltung vor keinem Mittel zurückschrecken, sich an so etwas klammern können.

Schaut euch die Bezirke Petersburgs an, um euch davon zu überzeugen, dass es unmöglich ist, die Forderung nach Teilung der Konferenz zu verwirklichen. Wenn man die Organisation überhaupt oder insonderheit die Konferenz in einen städtischen und einen Gouvernementsteil zerlegen will, dann muss man entweder die Adresse, den Wohnort jedes einzelnen Parteimitgliedes kennen oder bereits fertige Zellen, Abteilungen, Bezirke haben, die nach Gebieten organisiert sind, d. h. Bezirke, die nach dem Wohnort der Parteimitglieder oder dem Standort einer Fabrik in dem einen oder anderen Polizeirevier organisiert sind.

Wir sehen aber, dass in St. Petersburg (wie wahrscheinlich auch in der Mehrzahl der Städte Russlands) die Bezirke, Unterbezirke und unteren Zellen nicht nur nach dem territorialen (örtlichen) Prinzip organisiert sind, sondern auch nach dem beruflichen Prinzip (das eine oder andere Gewerbe, diese oder jene Beschäftigung der Arbeiter oder der Bevölkerung überhaupt) und nach der Nationalität (verschiedene Nationalitäten oder Sprachen).

Es gibt z. B. in St. Petersburg einen Eisenbahnerbezirk. Er ist nach dem beruflichen Prinzip organisiert, wie kann man ihn in einen städtischen und einen Gouvernementsteil zerteilen? Nach dem Wohnort jedes einzelnen Eisenbahners: Petersburg, Kolpino, anderen Stationen? Oder nach dem Aufenthaltsort der Züge, die zum Unglück für unser ZK die Gewohnheit haben, sich von der „Stadt" Petersburg ins „Gouvernement" und sogar in verschiedene Gouvernements zu begeben? Man versuche, den lettischen Bezirk zu teilen! Dann gibt es noch den estnischen Bezirk und die Militärorganisation.

Sogar die territorialen Bezirke können nicht geteilt werden. Die Arbeiter selbst haben auf der Konferenz darauf hingewiesen. Es erhebt sich ein Arbeiter des Moskauer Bezirks und erklärt: Ich kenne in unserem Bezirk Fabriken, die sich nicht weit von der Stadtgrenze befinden. Sobald die Arbeit aufhört, sieht man sofort, dass ein Teil der Arbeiter sich in die „Stadt", ein anderer Teil ins „Gouvernement" begibt. Wie sollen wir nun hier die Teilung vornehmen? Und die Arbeiter lachten geradezu über den Vorschlag des ZK.

Nur sehr naive Leute können übersehen, was hinter diesem durchsichtigen Manöver steckt. Nur sehr naive Leute können erklären, man hätte immerhin versuchen sollen, eine „ungefähre" Teilung vorzunehmen, „nach Möglichkeit".

Wenn man eine ungefähre Teilung durchführt, dann muss man wohl eine gewisse Willkür zulassen, denn es ist unmöglich, den lettischen Bezirk, den Eisenbahnerbezirk und andere Bezirke genau zu teilen. Jede Willkür aber würde neue, endlose Proteste, Beschwerden, neue Beschlüsse des ZK hervorrufen und eine Unmenge von neuen Anlässen zur Spaltung bieten. Schaut euch die obenstehende Liste der Bezirksorganisationen an, – ihr werdet sehen, dass sich Leute finden können, die für rein städtisch, unzweifelhaft städtisch nur vier Bezirke erklären würden: den Wassiljeostrowschen, den städtischen, den Wiborger und den Petersburger Bezirk. Warum nur diese Bezirke? Weil man in ihnen eine menschewistische Mehrheit erhalten würde. Wie ließe sich aber eine solche Willkür rechtfertigen?

Wie aber hat das ZK die Willkür gerechtfertigt, dass es gar nicht daran gedacht hat, Wilna zu teilen, während es die Teilung von St. Petersburg verlangt hat? Wenn ihr gegen die Willkür streiten wollt, wer wird dann euren Streit endgültig schlichten? Doch nur dasselbe ZK …

Die allernaivsten Leute werden jetzt begreifen, dass die Beschwerden über die Zusammensetzung der Konferenz und über die Weigerung, sich zu teilen, nur dazu dienen, die Aufmerksamkeit von etwas anderem abzulenken. In Wirklichkeit handelt sich darum, dass die Menschewiki beschlossen haben, sich der Mehrheit der Petersburger Organisation nicht unterzuordnen und am Vorabend der Wahlen eine Spaltung durchzuführen, um von den sozialistischen Arbeitern zu den Kadetten hinüberzuschwenken.

III.

Was hat es zu bedeuten, dass die Menschewiki die Konferenz verlassen haben?

Der Schluss, den wir gezogen haben, mag dem einen oder andern Leser als zu schroff erscheinen. Wir denken jedoch, dass es eines Sozialisten unwürdig ist, in einer ernsten politischen Angelegenheit die Wahrheit zu verheimlichen oder zu vertuschen. Man muss die Dinge bei ihrem richtigen Namen nennen. Man muss alle möglichen Ausflüchte und Spiegelfechtereien entlarven, damit sich die Arbeitermassen über die wahre Sachlage völlig klar werden. Nur die bürgerlichen Parteien betrachten die Wahlen als ein Spiel hinter den Kulissen und als eine Teilung der Beute. Die Arbeiterpartei hingegen muss vor allem danach trachten, dass das Volk richtig begreife, welche Beziehungen zwischen den Parteien bestehen, dass es seine eigenen Interessen und Kampfaufgaben richtig begreife, dass es den Sinn dessen, was hinter den Kulissen vor sich geht, richtig begreife.

Wir haben gesehen, dass die Beschwerden über die Zusammensetzung der Konferenz der Petersburger Organisation der SDAPR, über ihre Weigerung, sich zu teilen, hohle Ausflüchte sind. Wir wussten, dass es sich um eine ganz einfache Sache handelt. Die Menschewiki wollten um jeden Preis ein Abkommen mit den Kadetten. Die Menschewiki wussten, dass die Mehrheit der Mitglieder der Petersburger Organisation diese ihre Ansicht nicht teilt. Die Menschewiki haben auf der allrussischen Konferenz beschlossen, sich in jedem einzelnen Ort dem Beschluss der Ortsorganisation unterzuordnen. Jetzt haben sie ihr Versprechen gebrochen, indem sie durch eine Spaltung ihre Ziele durchzusetzen versucht haben.

Die 31 Menschewiki, die die Konferenz verlassen haben, haben bereits heute (den 26. [13.] Januar) in den Petersburger Zeitungen erklärt, dass sie sowohl den Kadetten als auch sämtlichen Werktätigen-Parteien, und zwar nicht nur den Sozialrevolutionären und den Trudowiki (denen die Konferenz ein Abkommen vorgeschlagen hatte), sondern auch den „Volkssozialisten" einen Block vorschlagen.

Die Sache ist also sonnenklar. Das klassenbewusste Proletariat hat beschlossen, die Wahlkampagne selbständig zu führen. Das Kleinbürgertum (einschließlich der Trudowiki) schwankt, wirft sich von einer Seite auf die andere, bringt es fertig, einen Kuhhandel mit den Kadetten dem prinzipiellen Kampfe vorzuziehen. Die Menschewiki sind der kleinbürgerliche Teil der Arbeiterpartei. In der letzten Minute nehmen sie irgendwelche Kleinigkeiten zum Vorwand, um das revolutionäre Proletariat zu verlassen und auf die Seite der Kadetten überzugehen.

Die Richtigkeit dieses Schlusses wird am besten durch die Kadettenzeitungen bestätigt. Die Kadetten aber wird wohl niemand verdächtigen, mit den Anschauungen der Petersburger, d. h. der bolschewistischen Sozialdemokratie zu sympathisieren!

Schaut euch das Zentralorgan der Kadettenpartei, die Zeitung „Rjetsch" an. Jedermann weiß sehr wohl, dass die „Rjetsch" im Verein mit der Zeitung „Towarischtsch" die Menschewiki fortwährend zur Spaltung gedrängt hat und auf alle mögliche Art und Weise bemüht war, ihnen Lob zu spenden, wobei sie sorgfältigst einen Trennungsstrich zwischen ihnen und den Bolschewiki zog. Kaum war bekannt geworden, dass die Menschewiki die Konferenz der Sozialdemokraten verlassen hatten, als die „Rjetsch" sofort (24. [11.] Januar) einen redaktionellen Artikel: „Die sozialdemokratische Konferenz und die Wahlabkommen" veröffentlichte. Dieser Artikel begrüßt geradezu die „Entschlossenheit" der Menschewiki, begrüßt die Spaltung, die sie begonnen haben. Dieser Artikel erklärt geradezu, „die Menschewiki und die Volkssozialisten" (die gemäßigte, halb kadettische Partei unter den kleinbürgerlichen Trudowiki-Parteien) bleiben „außerhalb des Blocks der revolutionären Parteien im engen Sinne des Wortes" (d. h. außerhalb der Reihen der Petersburger Sozialdemokratie und derjenigen, denen sie ein Wahlabkommen vorgeschlagen hat, d. h. der Sozialrevolutionäre und des Komitees der Trudowiki-Gruppe).

Und die Kadetten erklären offen heraus, dass sie bereit sind, die Verhandlungen mit diesen „beiden gemäßigt sozialistischen Parteien" „wiederaufzunehmen". Sie erklären offen heraus, dass „die Differenzierung (Scheidung), die innerhalb der sozialistischen Parteien stattgefunden hat, auch die Ansichten der gemäßigten Sozialisten über die Dumataktik unsern eigenen (d. h. Kadetten-) Ansichten bis zu einem gewissen Grade näher zu bringen verheißt".

Diese Worte des Hauptorgans der Kadettenpartei sind außerordentlich wichtig. Die Kadetten prüfen nicht nur die praktischen Ergebnisse der menschewistischen Schwenkung. Die Kadetten sehen klar, dass die Spaltung, die von den Menschewiki ins Werk gesetzt wird, grundsätzliche Bedeutung hat, d. h., dass diese Spaltung tatsächlich die Stellung der Menschewiki zu den Grundauffassungen über den politischen Kampf und über die Aufgaben der Arbeiterklasse ändert. Die Kadetten haben sehr wohl begriffen, dass die Menschewiki eine Schwenkung vollzogen haben, nicht nur in dem Sinne, dass sie Abkommen faktisch bejahen, sondern auch, dass sie eine Schwenkung vollzogen haben zu den Grundauffassungen der Bourgeoisie, dass sie sich von der proletarischen Politik entfernt und der bürgerlichen Politik genähert haben. Die „Rjetsch" sagt offen heraus, dass die gemäßigten Sozialisten (d. h. die Menschewiki) sich der Kadettentaktik nähern, dass sie faktisch die Hegemonie und die Führung der Kadetten anerkennen. Obwohl die Kadetten noch nicht wissen, ob die Sozialrevolutionäre und die Trudowiki das Angebot der sozialdemokratischen Konferenz annehmen, rechnen sie bereits mit einem ganz bestimmten politischen Kräfteverhältnis: die liberale Bourgeoisie führt die gemäßigte Kleinbürgerschaft und den kleinbürgerlichen Teil des Proletariats; das revolutionäre Proletariat geht selbständig vor und wird bestenfalls (d. h. bestenfalls für uns, schlimmstenfalls für die Kadetten nur einen Teil des Kleinbürgertums mit sich fortreißen.

So wird die Lage der Dinge von den Kadetten geschildert. Und man kann nicht leugnen, dass die Kadetten hierbei durchaus recht haben. Wie sich die Sonne in einem kleinen Wassertropfen spiegelt, so spiegelt sich in dem kleinen Petersburger Ereignis das ständige, allen kapitalistischen Ländern eigene Verhältnis der Politik der liberalen Bourgeoisie, der Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums wider. Überall und stets ist die liberale Bourgeoisie bestrebt, die unentwickelte Masse mit guten Pöstchen zu bestechen, um sie von der revolutionären Sozialdemokratie loszureißen. Die Kadetten beginnen in Russland die „englische"' Kampfesweise der Bourgeoisie gegen das Proletariat anzuwenden, deren Mittel nicht die Gewalt ist, sondern Bestechung, Schmeichelei, Zwiespalt, Begünstigung der „Gemäßigten", Ministerposten, Parlamentssitze, Wahlmännerposten usw.

Die Phrase von der „Wiederaufnahme" der Verhandlungen in der Kadetten-„Rjetsch" ist auch ganz klar. Solange die Sozialdemokraten einig waren und die Revolutionäre bei ihnen das Übergewicht hatten, blieben die Verhandlungen unterbrochen. Jetzt, nachdem „beide gemäßigten sozialistischen Parteien" sich von der Revolution abgespalten haben, – jetzt erklären die Kadetten: „Man könnte die Verhandlungen wieder aufnehmen.“

Wenn dem Leser der praktische Sinn dieser Worte nicht völlig klar ist, so wollen wir ihn ihm erklären. Die Kadetten gestanden den Linken zwei Parlamentssitze (von 6) zu, und zwar: einen Parlamentssitz der Arbeiterkurie und einen den Sozialisten überhaupt. Die Verhandlungen wurden abgebrochen. Jetzt rufen die Kadetten die „gemäßigten Sozialisten" wieder: Kehre zurück. Käufer, wir können handelseinig werden! Entweder geben wir jetzt den einen Sitz einem Menschewik und den anderen einem „Volkssozialisten", oder wir werden sogar freigebig drei Parlamentssitze zur Verfügung stellen.

Das ist der Sinn der Worte der Kadetten über die „Wiederaufnahme" der Verhandlungen: Den Linken haben wir nichts zugestanden, den Gemäßigten aber unter den Linken werden wir etwas zugestehen!

Ein naiver oder ein in der Politik unerfahrener Mensch mag den Kopf schütteln, soviel er will, mag Zweifel, mag sein Beileid ausdrücken usw., – das wird die Sache nicht ändern. Es kommt doch nicht darauf an, wie gerade ein bestimmtes Ergebnis zustandegekommen ist. Wichtig ist das Ergebnis selbst (d. h. für die Kadetten ist es nicht wichtig, für die Arbeitermasse aber, die eine bewusste Einstellung gegenüber der Politik zu haben wünscht, ist es sehr wichtig).

Wie die Verhandlungen zwischen Menschewiki und Kadetten geführt wurden, wissen wir nicht, wir wissen nicht, ob sie brieflich, mündlich oder sogar nur auf dem Wege von einfachen Andeutungen geführt wurden. Es ist möglich, dass hervorragende gemäßigte Menschewiki den Kadettenführern einfach eine Andeutung gemacht haben über die Wahrscheinlichkeit einer Spaltung der Sozialdemokratie, eine Andeutung gemacht haben über die Zulässigkeit von bezirksweisen Abkommen. Und die Kadetten haben natürlich diese Andeutung im Fluge aufgefangen: „sie" werden die Petersburger Sozialdemokraten spalten, wir aber werden „sie" in die Bezirksliste aufnehmen! „Sie" – uns, wir – „ihnen". Ist das etwa ein weniger reales, weniger praktisches, weniger solides Geschäft, als wenn „sie" direkt zu Kutler, Miljukow oder Nabokow gegangen wären und offen heraus erklärt hätten: Wir werden für euch die Petersburger sozialdemokratische Konferenz spalten, ihr aber bringt uns auf irgendeiner Bezirksliste durch?

Es ist eine Tatsache, dass die Politik der liberalen Bourgeois und der opportunistischen Sozialdemokraten in allen konstitutionellen Ländern so und nicht anders geartet ist. Die russischen Arbeiter müssen lernen, diese Politik zu verstehen, wenn sie nicht wollen, dass man sie mit Leichtigkeit an der Nase herumführe. Bereits Tschernyschewski hat gesagt: Wer fürchtet, sich die Hände schmutzig zu machen, soll keine politische Tätigkeit ausüben.1 Wer sich an den Wahlen beteiligt und Angst hat, sich die Hände schmutzig zu machen, wenn er den Dreck des bürgerlichen Politikantentums aufwühlt, der mag fortgehen. Naive Leute mit zarten weißen Händen schaden nur in der Politik durch ihre Furcht, den Dingen gerade ins Auge zu sehen.

Eine andere Äußerung der bürgerlichen Presse, die vollauf bestätigt, dass wir die Spaltung richtig eingeschätzt haben, ist in dem Artikel der Frau Kuskowa im „Towarischtsch" (vom 23. [10.] Januar) enthalten. Auch sie begrüßt die Menschewiki, stachelt sie zur endgültigen Spaltung auf, rät ihnen von „Kompromissen" mit den Bolschewiki ab und verspricht ihnen im Namen der „Rabotscheje-Djelo"-Leute Hilfe.

Wenn man diesen Artikel von Frau Kuskowa richtig verstehen will, muss man wissen, wer sie ist. Wir werden es erzählen, da es die Mehrheit der Arbeiter nicht weiß.

Die SDAPR wurde im Jahre 1898 gegründet. Im Jahre 1899 waren Frau Kuskowa und Herr Prokopowitsch Mitglieder der Partei, und zwar: Mitglieder ihrer Auslandsorganisation, an deren Spitze Plechanow stand, der damals ein revolutionärer Sozialdemokrat war. Frau Kuskowa aber war bereits damals, genau so wie heute, eine Opportunistin, verteidigte in der Sozialdemokratie kleinbürgerliche Ansichten, vertrat den Bernsteinianismus, d. h. letzten Endes – die Theorie, die Arbeiterklasse habe sich der liberalen Politik unterzuordnen. Am klarsten hat Frau Kuskowa ihre Ansichten in dem berühmten „Credo" (d. h. Glaubensbekenntnis, Programm, Darlegung der Weltanschauung) ausgedrückt. In diesem „Credo" wurde erklärt: die Arbeiter müssen den ökonomischen, die Liberalen aber den politischen Kampf führen. Die „Rabotscheje-Djelo"-Leute (damalige Bezeichnung der Opportunisten in der Sozialdemokratie) neigten praktisch zu derselben Ansicht. Plechanow erklärte diesen Ansichten den Krieg auf Leben und Tod (wobei ihm die russischen revolutionären Sozialdemokraten halfen) und spaltete auf dieser Grundlage die Auslandsorganisation der SDAPR. Er veröffentlichte gegen die Opportunisten und insonderheit gegen Frau Kuskowa die Broschüre „Vademecum" („Wegweiser" für die „Rabotscheje-Djelo"-Leute).

Damals wurde Frau Kuskowa aus der Sozialdemokratischen Partei hinausgeworfen. Im Verein mit Herrn Prokopowitsch ging sie zu den Liberalen, den Kadetten. Später verließ sie auch die Kadetten und wurde „parteilose" Schriftstellerin in dem „parteilos"-kadettischen „Towarischtsch''.

Frau Kuskowa ist keine Einzelerscheinung, sie ist der Typus des kleinbürgerlichen Intellektuellen, der in die Arbeiterpartei Opportunismus hinein trägt und von den Sozialdemokraten zu den Kadetten, von den Kadetten zu den Menschewiki usw. wandert.

Das sind die Leute, die die Trommel rühren und Hurra schreien und die Spaltung begrüßen, die die Menschewiki der Petersburger Sozialdemokratie durchführen.

Das sind die Leute, denen die Arbeiter, die den Menschewiki Gefolgschaft leisten, die Sache des Proletariats ausliefern.

IV.

Die politischen Parteien und die bevorstehenden Petersburger Wahlen

Wie aber steht es jetzt um die Wahlen in Petersburg?

Es ist jetzt schon klar, dass bei den Wahlen folgende drei Hauptlisten vorliegen werden: die Liste der Schwarzen Hundert, die Kadettenliste und die sozialdemokratische Liste.

Der ersten Liste werden sich die Oktobristen anschließen, der zweiten wahrscheinlich die Menschewiki und die Volkssozialisten und der dritten vielleicht die Trudowiki und die Sozialrevolutionäre, obwohl es durchaus möglich ist, dass diese schwankenden Parteien, die bis jetzt noch keine endgültige Antwort gegeben haben, ebenfalls (teilweise infolge der Spaltung der Sozialdemokraten) mit den Kadetten zusammengehen werden.

Gibt es in Petersburg eine Schwarzhundertgefahr, d. h. die Gefahr eines Wahlsieges der Schwarzen Hundert? Die Menschewiki, die jetzt von den Sozialisten zu den Kadetten überlaufen, bejahen diese Frage.

Das ist eine himmelschreiende Unwahrheit.

Sogar in der kadettischen „Rjetsch", in dieser vorsichtigen, diplomatischen Zeitung, die die Interessen der Liberalen bis auf die kleinsten Kleinigkeiten wahrt, sogar in dieser „Rjetsch" lesen wir bei Herrn Wergeschski, dass die Oktobristen in den Wahlversammlungen gar nicht aufkommen können, dass der Wähler zwischen den Kadetten und den Sozialisten schwankt.2

Alle Nachrichten über alle Wahlversammlungen, über den Eindruck, den die Lidwaliade3, die Gerichtsverhandlung gegen die Mörder Herzensteins4, die Enthüllungen über die Heldentaten der Schwarzen Hundert usw. hervorgerufen haben, zeigen klar, dass die rechten Parteien kein Ansehen unter den Wählern genießen.

Wer jetzt noch von einer Schwarzhundertgefahr bei den Wahlen faselt, der betrügt sich und die Arbeitermassen. Jetzt ist schon augenscheinlich, dass das Geschrei über die Schwarzhundertgefahr ein Versuch der Kadetten ist, die wenig aufgeklärte Masse zu sich hinüber zu ziehen.

Die Schwarzhundertgefahr besteht nicht in der Gefahr einer Stimmenabgabe für das Schwarze Hundert, sondern in der Möglichkeit, dass die Regierung Gewalttaten verübt, Wahlmänner verhaften lässt usw. Gegen diese Gefahr muss man Mittel und Wege zu finden trachten – nicht in einem Abkommen mit den Kadetten, sondern in der Entwicklung des revolutionären Bewusstseins und der revolutionären Entschlossenheit der Massen. Die Kadetten aber hemmen mehr als irgend jemand anders die Entwicklung dieses Bewusstseins und dieser Entschlossenheit.

Ein wirklich ernster Kampf wird in Petersburg zwischen den Kadetten und den Sozialdemokraten geführt. Die Werktätigen-Parteien haben ihre Schwäche bewiesen, haben sie dadurch bewiesen, dass sie der allergnädigsten und halbkadettischen „volkssozialistischen" Partei Gefolgschaft leisten, sowie dadurch, dass sie überhaupt keine Selbständigkeit und Festigkeit bekunden.

Wenn die Menschewiki am Vorabend der Wahlen nicht Verrat an den Sozialisten geübt hätten, so hätten die Trudowiki und die Sozialrevolutionäre unzweifelhaft unsere Bedingungen angenommen. Unzweifelhaft hätte die Masse der Wähler, die in Petersburg wie überall aus der armen Bevölkerung besteht, nicht den Kadetten, sondern den Trudowiki und den Sozialisten Gefolgschaft geleistet. Die Wahlen in Petersburg würden dann die Bedeutung eines ernsten Kampfes haben, der vor ganz Russland in klarer und unzweideutiger Form die Grund fragen der Zukunft der russischen Revolution aufrollt.***

Der Verrat der Menschewiki erschwert uns die Durchführung der Wahlen, die grundsätzliche Bedeutung einer selbständigen Kampagne der Sozialdemokraten wird dadurch aber noch größer. Das Proletariat kann das Schwanken des Kleinbürgertums nur dadurch überwinden, dass es das Klassenbewusstsein und die Geschlossenheit der Massen fördert und die Massen durch das eigene Erleben der politischen Entwicklung lernen lässt, andere Mittel und Wege zur Überwindung der Schwankungen des Kleinbürgertums gibt es nicht und kann es nicht geben.

Solange die Trudowiki schwanken, solange die Menschewiki kuhhandeln, müssen wir aus allen Kräften eine selbständige Agitation betreiben. Mag jedermann wissen, dass die Sozialdemokraten entschlossen sind, unter allen Umständen und unbedingt eine eigene Liste aufzustellen. Und mögen alle armen Wählerschichten wissen, dass sie die Wahl haben werden zwischen den Kadetten und den Sozialisten.

Das müssen sich die Wähler überlegen, wenn sie ihre Wahl treffen. Und wenn sie sich das durch den Kopf gehen lassen, so wird das für die Entfaltung des Bewusstseins der Massen jedenfalls ein großer Gewinn sein, – ein Gewinn, der in einer wichtigeren Sache erzielt wird, als es die Eroberung eines Dumasitzes durch einen X oder Y aus dem Kadettenlager ist. Wenn die Massen der städtischen Armut nochmals den Versprechen der Kadetten Glauben schenken werden, sich nochmals durch das liberale Phrasengeklingel und die liberalen Luftschlösser des „friedlichen" Fortschritts, der „friedlichen" Gesetzgebung der Herren Gurko und der Herren Kutler-Miljukow betören lassen, – so werden die Ereignisse bald die letzten Illusionen zertrümmern.

Die revolutionäre Sozialdemokratie muss den Massen die ganze Wahrheit sagen und unbeirrt ihren Weg fortsetzen. Wem die wirklichen Errungenschaften der russischen Revolution, die durch den proletarischen Kampf erfochten worden sind, teuer sind, weiden Instinkt des werktätigen und ausgebeuteten Menschen hat, der wird mit der Partei des Proletariats gehen. Und mit jeder Etappe der Entwicklung der russischen Revolution wird es den Massen immer klarer und klarer werden, dass die Ansichten dieser Partei richtig sind.

Nachwort

Der Leitartikel der „Rjetsch" vom 27. (14.) Januar bestätigt von neuem, dass wir das Überlaufen der Menschewiki von den Sozialisten zur Bourgeoisie richtig beurteilt haben. Die „Rjetsch" frohlockt darüber, dass ihre Prophezeiung eingetroffen ist, dass sich die Menschewiki in Petersburg abspalten und ihre eigene Organisation aufbauen. „Es ist so gekommen, wie wir es vorausgesagt haben – erklärt die Zeitung unter Hinweis auf ihre früheren Nummern. – Ein Teil der Sozialdemokratie, der zwar nicht der einflussreichste ist, aber am meisten zur parlamentarischen Tätigkeit neigt, ist auf unsere Vorschläge eingegangen."

Ja, das ist richtig, die Menschewiki sind auf das Bestreben der liberalen Bourgeoisie eingegangen, haben den opportunistischen Teil der Arbeiterpartei abgespalten und unter die Führung der Kadetten gebracht. Wir haben oben gesehen, dass die „Rjetsch" bereits einen Trennungsstrich zwischen den Menschewiki und Volkssozialisten und den revolutionären Parteien gezogen hat, indem sie die ersten beiden als „gemäßigte Sozialisten" bezeichnet. Jetzt geht die „Rjetsch" einen Schritt weiter. Sie erklärt, dass wahrscheinlich auch die Sozial-Narodniki (Volkssozialisten) einen Block mit den Kadetten vorziehen werden. Sie erklärt:

Die Menschewiki sind entschlossen der Schaffung eines allgemeinen oppositionellen Blocks entgegengekommen." „Die Möglichkeit eines oppositionellen Blocks der Kadetten, Menschewiki und Sozial-Narodniki muss nach der Weigerung der Bolschewiki als bedeutend aussichtsreicher angesehen werden."

Die Kadetten haben also jetzt selbst festgestellt, dass es bei den Wahlen drei Blocks oder jedenfalls drei politische Hauptkräfte gibt: den Regierungsblock, den oppositionellen Block und den revolutionären Block. Diese Einteilung ist durchaus richtig. Wir stellen fest, dass die Logik der Dinge die Kadetten dazu führt, als richtig anzuerkennen, worauf wir seit langem hartnäckig hingewiesen haben. Wir stellen außerdem fest, dass in dem revolutionären „Block" einstweilen nur die revolutionäre Sozialdemokratie fest und unbeirrt auf ihrem Standpunkt verharrt. Die anderen Elemente, und insonderheit das revolutionäre Kleinbürgertum („die Sozialrevolutionäre"), schwanken noch immer.

Es wird immer klarer und klarer, welche grundsätzliche Bedeutung das Überlaufen der Menschewiki zu den Kadetten hat. Die schönen Worte der menschewistischen Wahlplattformen und grundsätzlichen Resolutionen (z. B. auf der allrussischen sozialdemokratischen Konferenz), das Gerede darüber, dass sie die Illusionen des friedlichen Weges zertrümmern werden, dass sie den Wählern raten werden, nicht Fürsprecher, sondern Kämpfer in die Duma zu wählen usw. usw., – alle diese Worte sind nur Worte geblieben. In Wirklichkeit haben die Menschewiki so gehandelt, dass die Kadetten sie ins Schlepptau, ins Schlepptau ihrer Politik genommen haben. In Wirklichkeit gerieten die Menschewiki in den „oppositionellen Block", d. h. wurden sie zu einem einfachen Anhängsel der Kadetten.

Nicht genug daran. Der Leitartikel der „Rjetsch" vom 27. (14.) Januar enthüllt auch, welchen Preis die Kadetten den Menschewiki für die Unterstützung der Kadetten und für den Eintritt in den oppositionellen Block zu zahlen gewillt sind. Dieser Preis ist ein Sitz in der Duma, der der Arbeiterkurie weggenommen werden soll. Man höre:

Da sich gleichzeitig (d. h. zusammen mit der Bildung eines oppositionellen Blocks aus Kadetten, Menschewiki und Volkssozialisten) die Zahl der Anwärter auf Dumasitze verringert hat, so wird es sich vielleicht bei der neuen Kombination als möglich erweisen, den Vorschlag der Partei der Volksfreiheit anzunehmen und sich mit zwei von den sechs Sitzen zu begnügen.

Jetzt wird man natürlich aller Wahrscheinlichkeit nach an diesem Vorschlag eine gewisse Änderung vornehmen müssen. Der Dumasitz, der für eine von der Arbeiterkurie gewählte Person bestimmt war, wird nach dem Konferenzbeschluss offenbar bereits nicht mehr einem bolschewistischen Arbeiter zur Verfügung gestellt werden können. Bei der neuen Zusammensetzung des Blocks könnten die Menschewiki diesen Dumasitz als ihren rechtmäßigen Besitz betrachten. Der andere von den beiden Sitzen, die die Partei der Volksfreiheit abtritt, würde in diesem Falle dem volkssozialistischen Block zufallen."

Ein glänzendes Geschäft! Man kann die Kadetten zu diesem billigen Einkauf beglückwünschen! Für dieselben zwei „abzutretenden" Dumaplätzchen sowohl sämtliche kleinbürgerliche Parteien als auch den kleinbürgerlichen Teil der Arbeiterpartei an sich zu bringen – noch dazu auf Kosten der Arbeiter!

Die Arbeiter müssen das Recht auf ihren Vertreter der Arbeiterkurie deswegen verlieren, weil sich die Menschewiki von der Sozialdemokratie losgesagt haben und (laut dem Urteil der „Rjetsch") zu einer gemäßigt sozialistischen Partei geworden, in den oppositionellen Block eingetreten sind. Die Arbeiter Petersburgs verlieren das ihnen von den Kadetten zugesicherte Recht, über ihren Dumasitz zu verfügen, weil die Menschewiki nicht mit den revolutionären Sozialdemokraten, sondern mit den Kadetten zusammengehen. Für das „Geschäftchen" mit den Kadetten erhalten die Menschewiki „ein kleines Zugeständnis" nicht auf Kosten der Kadetten, sondern auf Kosten der Arbeiter… Welch ausgezeichnetes Beispiel von bürgerlichen Zugeständnissen an das „Volk"! Den Vorkämpfern des „Volkes" ist die Bourgeoisie bereit, ein Parlamentsplätzchen zu geben, wenn diese Vorkämpfer auf die Seite der Bourgeoisie übergehen …

Die Bevollmächtigten und die Wahlmänner der Arbeiterkurie werden jetzt wohl einsehen, welche Vorteile – nicht nur grundsätzliche, sondern auch praktische – für sie das Abkommen mit den Kadetten mit sich bringt. Ist es nicht klar, dass die Kadetten der Arbeiterkurie einen Parlamentssitz nur deswegen geben wollten (geben wollten, nicht etwa geben), weil sie von ganzem Herzen die wirkliche Freiheit des wirklichen Volkes wollen, und durchaus nicht, weil sie die dunkle notleidende Masse auf die Seite der Bourgeoisie hinüber ziehen wollen?

* Manche Leute sagen, dass selbst dann, wenn die Wähler über eine Frage nicht nach ihrer grundsätzlichen Bedeutung abstimmen, die Wahl der Vertreter sich auf die Kenntnis der Ansichten der betreffenden Vertreter stützen kann. Das ist jedoch nur dann richtig, wenn es sich um die Gesamtheit der Ansichten eines Vertreters handelt und nicht um eine besondere Frage, die mit der Aktion der Masse selbst zusammenhängt. Der Verzicht auf eine Abstimmung über die Plattform (für oder gegen Blocks mit den Kadetten) würde unter solchen Umständen bedeuten, dass der Wähler unklare Ansichten hat, dass er unentschlossen ist, dass er mit seinem Vertreter nicht ganz einverstanden ist.

** Hierzu gehören 185 Stimmen, die auf Beschluss der Konferenz für gültig erklart wurden; ohne sie beträgt die Zahl der nichtstrittigen Stimmen 1663.

1 Lenin zitiert folgende Stelle aus dem Aufsatz N. G. Tschernyschewskis: „H. Ch. Carey, Ein politisch-ökonomischer Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika": „Der Weg der Geschichte ist nicht das Trottoir des Newski-Prospekt. Er geht über Felder, er ist bald staubig, schmutzig, führt bald durch Sümpfe, bald durch Dickicht. Wer den Staub scheut und es fürchtet, sich die Schuhe schmutzig zu machen, der soll die Hände von der öffentlichen Tätigkeit lassen. Das ist eine nutzbringende Beschäftigung für Männer, die wirklich das Wohl der Menschen im Auge haben, aber es ist keine peinlich saubere Beschäftigung" (Gesammelte Werke N. G. Tschernyschewskis in 10 Bänden, Bd. VIII).

Weiter bezieht sich Lenin auf den Artikel von E. Kuskowa: „Wie wird das enden?" („Towarischtsch" Nr. 161 vom 23. [10-] Januar 1907).

2 Lenin bezieht sich auf folgende Stelle aus dem Artikel von N. A. Wergeschski (Tyrkowa), „Versammlungen" („Rjetsch" Nr. 9 vom 25. [12.] Januar 1907): „In den von den Oktobristen einberufenen Versammlungen haben den größten Erfolg die konstitutionellen Demokraten oder jene, die weiter links stehen. Zu den anderen aber gehen die Oktobristen nicht einmal oder treten jedenfalls nicht auf die Sympathie der Wähler schwankt zwischen den konstitutionellen Demokraten und den Sozialisten, und der ganze Kampf wird, sofern ein Abkommen nicht zustande kommt, sich zwischen diesen beiden Strömungen abspielen."

3 Lidwaliade – Skandalaffäre Gurkos, des stellvertretenden Innenministers und Leiters des Verpflegungswesens, sowie des Großspekulanten und Lebensmittellieferanten für die vom Hunger betroffenen Gouvernements im Jahre 1906 - Lidwal. Die Spekulationsgeschäfte des hohen Würdenträgers, der sich im Bunde mit dem Großschieber die Hungersnot zunutze gemacht hatte, zwangen sogar P. Stolypin, die Angelegenheit vors Gericht zu bringen, was übrigens keinerlei ernste Folgen für die Spekulanten hatte.

4 Es handelt sich um die von den Schwarzhundertern organisierte Ermordung des konstitutionellen Demokraten Herzenstein, Abgeordneten in der ersten Reichsduma, in Finnland am 31. (18.) Juli 1906. Die Regierung Stolypin ließ alle Mittel spielen, um den Mördern Herzensteins, allen Bemühungen der finnischen Richter zum Trotz, Straffreiheit zu sichern.

***Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Wählerversammlung, die vor einigen Tagen in Kolomna stattgefunden hat. Der „Trudowik" Wodowosow (der offenbar nur aus dem Grunde Trudowik geworden ist, um die Trudowiki ins Schlepptau der Kadetten zu bringen) bringt den Beschluss durch: in dem allgemeinen Linksblock den Kadetten zwei von sechs Dumasitzen zu geben. [Lenin meint die Versammlung am 24. (11.) Januar 1907, die eine Resolution über ein Abkommen mit den konstitutionellen Demokraten und die Einräumung zweier Mandate von sechs an sie angenommen hatte. Die Resolution wurde in Nr. 10 der „Rjetsch" vom 26. (13.) Januar 1906 veröffentlicht.] Welch kindliche Einfalt! Wenn man einen kleineren Teil der Dumasitze zur Verfügung stellen will, muss man zuerst siegen, Herr Wodowosow, und nicht den Kadetten nachlaufen! Sogar eine solche Versammlung mit einem solchen Vorsänger bewies durch ihre Abstimmung, dass die Massen radikaler gestimmt sind als die Kadetten. Eine solche Masse sind wir verpflichtet vor die Wahl zu stellen: für die liberale Bourgeoisie oder für das revolutionäre Proletariat.

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