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Wladimir I. Lenin 19071118 Wer aber sind die Richter?

Wladimir I. Lenin: Wer aber sind die Richter?1

[Proletarij" Nr. 19, 18. (5.) November 1907. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 143-151]

Schadenfrohes Kichern über die Spaltung zwischen Menschewiki und Bolschewiki in der SDAPR überhaupt und über den scharfen Kampf auf dem Londoner Parteitag insbesondere ist in der bürgerlichen Presse zu einer steten Erscheinung geworden. Niemand denkt daran, die Differenzen zu ergründen, beide Tendenzen zu analysieren, die Leser mit der Geschichte der Spaltung und mit dem ganzen Charakter der Meinungsverschiedenheit zwischen Menschewiki und Bolschewiki bekanntzumachen. Die Publizisten von der „Rjetsch" und vom „Towarischtsch", die Herren Wergeschski, E. K. Perejaslawski und andere penny-a-liner (Zeilenschinder) greifen ganz einfach allerlei Gerüchte auf, sammeln für die übersättigten Salonschwätzer „pikante" Einzelheiten von „Skandalen" und sind in jeder Weise bemüht, die Köpfe durch Anekdötchen über unseren Kampf zu verwirren.

In dieses Genre geistlosen Witzeins verfallen auch die Sozialrevolutionäre. Im Leitartikel von Nr. 6 des „Snamja Truda" zerren sie die Erzählung Tscherewanins über einen Weinkrampf auf dem Londoner Parteitag ans Tageslicht, kichern höhnisch über die ausgegebenen „Zehntausende von Rubeln", schmatzen vor Vergnügen über das „nette Bild der inneren Lage der russischen Sozialdemokratie im gegenwärtigen Moment". Die Liberalen benutzen solche Einleitungen als Übergang zur Lobpreisung der Opportunisten à la Plechanow, die Sozialrevolutionäre zu donnernden Strafpredigten gegen sie (die Sozialrevolutionäre wiederholen jetzt die Einwände der revolutionären Sozialdemokraten gegen den Arbeiterkongress! Endlich haben sie sich besonnen!). Doch bei den einen wie bei den anderen ist es die gleiche Schadenfreude über den schweren inneren Kampf in der sozialdemokratischen Partei.

Wir wollen einige Worte über die liberalen Helden dieses Feldzuges sagen und dann ausführlich auf die sozialrevolutionären Helden des „Kampfes gegen den Opportunismus" eingehen.

Die Liberalen kichern über den Kampf in der sozialdemokratischen Partei, um dadurch zu verhüllen, wie systematisch sie die Öffentlichkeit über die Kadettenpartei hinters Licht führen. Ihr Betrug kennt keine Grenzen, die inneren Kämpfe in der Kadettenpartei selbst, ihre Verhandlungen mit den Machthabern werden systematisch verheimlicht. Jedermann weiß, dass die linken Kadetten den rechten den Text lesen, jedermann weiß, dass die Herren Miljukow, Struve und Konsorten bei Stolypin und Co. antichambrierten. Doch die genauen Tatsachen bleiben verborgen. Die Differenzen werden verkleistert, über die Diskussionen der Herren Struve mit den linken Kadetten wird kein Wort mitgeteilt. Protokolle der Parteitage der Kadetten gibt es keine. Die Liberalen teilen weder die Gesamtzahl ihrer Parteimitglieder noch die Höhe der Mitgliederzahl der einzelnen Organisationen mit. Die Richtung der einzelnen Komitees bleibt unbekannt. Nichts als Dunkel, nichts als offizielle Lügen der „Rjetsch", nichts als Betölpelung der Demokratie durch die Ministerbesucher – das ist die Kadettenpartei. Advokaten und Professoren, die vermittelst des Parlamentarismus Karriere machen, verurteilen pharisäerhaft die illegale Betätigung, preisen die offene Tätigkeit der Parteien, verhöhnen aber in Wirklichkeit das demokratische Prinzip der Öffentlichkeit und verheimlichen dem Publikum die verschiedenen politischen Tendenzen, die es in den Reihen ihrer eigenen Partei gibt. Es bedarf der ganzen Kurzsichtigkeit des vor Miljukow auf den Knien liegenden Plechanow, um diese ungeschlachte, schmutzige, mit einem Kulturfirnis notdürftig übertünchte Betölpelung der Demokratie durch die Kadetten nicht zu bemerken.

Nun, und die Sozialrevolutionäre? Erfüllen etwa sie die Pflicht ehrlicher Demokraten (von Sozialisten sprechen wir nicht, wenn von Sozialrevolutionären die Rede ist), dem Volke eine klare und wahrheitsgetreue Darstellung zu geben von dem Kampfe der verschiedenen politischen Tendenzen in den Reihen derjenigen, die das Volk führen wollen?

Fassen wir die Tatsachen ins Auge.

Parteitag der Sozialrevolutionäre im Dezember 1905. Der erste und der einzige, von dem Protokolle vorliegen. Herr Tutschkin, Delegierter des Zentralorgans, ruft aus:

Einstmals waren die Sozialdemokraten offenbar ganz ehrlich davon überzeugt, die politischen Freiheitsrechte würden für unsere Partei den politischen Tod bedeuten ... Doch die Zeit der Freiheitsrechte hat ein anderes bewiesen" (Seite 28 der Ergänzung zum Protokoll).

Aber, Herr Tutschkin, liegen die Dinge wirklich so? Hat die Zeit der Freiheitsrechte wirklich das bewiesen? Hat die tatsächliche Politik der Partei der Sozialrevolutionäre 1905 wirklich diesen Beweis erbracht? Und 1906? Und 1907?

Betrachten wir die Tatsachen!

Im Protokoll des Parteitags der Sozialrevolutionäre (Dezember 1905; veröffentlicht 1906!) lesen wir, dass eine Literatengruppe, die auf diesem Parteitag beratende Stimme hatte, nach dem 17. Oktober „vor dem ZK der Sozialrevolutionäre auf der Organisierung einer offenen Partei bestanden hatte" (Seite 49 des Protokolls; die weiteren Zitate sind aus derselben Quelle). Dem Zentralkomitee der Sozialrevolutionäre „wurde vorgeschlagen, keine offene Organisation der Partei der Sozialrevolutionäre zu schaffen, sondern eine besondere, ihr parallele Volkssozialistische Partei (S. 51). Das ZK wies diesen Vorschlag zurück und stellte ihn auf dem Parteitag zur Erörterung. Der Parteitag hat den Vorschlag der Volkssozialisten mit allen Stimmen gegen eine bei sieben Stimmenthaltungen abgelehnt (S. 66)...Kann man in zwei Parteien nebeneinander stehen?" – rief Herr Tutschkin aus, sich in die Brust werfend (S. 61). Herr Schewitsch aber deutete an, die Volkssozialisten stünden den Liberalen nahe, so dass der Volkssozialist Roschdestwenski seine Ruhe zu verlieren begann und versicherte, „niemand habe das Recht", die Volkssozialisten „Halbliberale" zu nennen (S. 59)*.

Dies sind die Tatsachen. Im Jahre 1905 haben die Sozialrevolutionäre mit den „Halbliberalen", den Volkssozialisten. gebrochen. Haben sie es wirklich getan?

Ein überaus wichtiges Mittel offener Beeinflussung der Massen durch die Partei war 1905 die Presse. In den „Freiheitstagen" vom Oktober 1905 hatten die Sozialrevolutionäre eine Zeitung im Block mit den Volkssozialisten, allerdings nur bis zum Dezemberparteitag. Formell sind die Sozialrevolutionäre hier im Recht, faktisch aber haben sie in der Zeit der größten Freiheitsrechte, der offensten Beeinflussung der Massen, die in ihrer Partei vorhandenen zwei verschiedenen Tendenzen vor der Öffentlichkeit verheimlicht. Die Differenzen in ihren Reihen waren nicht geringer als die in der Sozialdemokratie, doch die Sozialdemokratie war bestrebt, sie zu klären, während die Sozialrevolutionäre bemüht waren, sie diplomatisch geheim zu halten. Dies sind die Tatsachen von 1905.

Nunmehr zu 1906. Es ist die Periode der I. Duma, der „kleinen Freiheitsrechte". Sozialistische Zeitungen erscheinen wieder. Und wieder sind die Sozialrevolutionäre im Block mit den Volkssozialisten, wieder haben sie eine gemeinsame Zeitung. Der Bruch mit den „Halbliberalen" auf dem Parteitag war nicht umsonst nur ein diplomatischer: wollt ihr, ist es ein Bruch; wollt ihr es anders, so ist es keiner. Der Antrag wurde abgelehnt, der Gedanke des „Nebeneinanderstehens in zwei Parteien" ausgelacht und ... man saß ruhig weiter nebeneinander in zwei Parteien und rief mit frommem Augenaufschlag: wir danken Dir, lieber Gott, dass wir anders sind als die Sozialdemokraten, die einander in den Haaren liegen! Das sind die Tatsachen. Beide Perioden der freien Presse in Russland waren dadurch gekennzeichnet, dass die Sozialrevolutionäre im Blockverhältnis mit den Volkssozialisten waren und der Demokratie das Vorhandensein zweier grundverschiedener Tendenzen in ihrer Partei betrügerisch („diplomatisch") verheimlichten.

Nunmehr zu 1907. Nach der I. Duma gründeten die Volkssozialisten in aller Form eine eigene Partei. Dies war unvermeidlich, denn in der I. Duma, bei dem ersten Auftreten der Parteien vor den Vertretern der Bauernschaft ganz Russlands, legten die Volkssozialisten und die Sozialrevolutionäre verschiedene Agrarentwürfe vor (Entwurf der „104" und Entwurf der „33"). Die Volkssozialisten trugen vor den „Trudowiki"-Abgeordneten über die Sozialrevolutionäre den Sieg davon, indem sie dreimal soviel Unterschriften für ihren Entwurf, für ihr Agrarprogramm, sammelten. Dieses Programm aber lehnt, wie der Sozialrevolutionär Wichljajew in seinem Artikel „Volkssozialistische Partei und Agrarfrage" („Nascha Mysl", Sammelbuch Nr. 1, St. Petersburg 1907) feststellt, „in gleicher Weise" wie das Gesetz vom 9. November 1906 „den Grundsatz der Gemeindebodennutzung ab". Dieses Programm legalisiert „die Erscheinungsformen eines eigennützigen Individualismus" (S. 89 des Artikels von Wichljajew), „verunreinigt den breiten Strom der Ideale mit individualistischem Schlamm" (Seite 91 des gleichen Artikels), betritt den „Weg der Begünstigung individualistischer und egoistischer Strömungen in den Volksmassen" (S. 93 ebenda).

Deutlich genug, nicht wahr? Die bäuerlichen Abgeordneten haben in ihrer überwältigenden Mehrheit bürgerlichen Individualismus an den Tag gelegt. Schon das erste Auftreten der Sozialrevolutionäre vor den Vertretern der Bauernschaft ganz Russlands bestätigte aufs Glänzendste die sozialdemokratische Theorie und verwandelte die Sozialrevolutionäre faktisch in den äußersten linken Flügel der kleinbürgerlichen Demokratie.

Sind aber vielleicht die Sozialrevolutionäre, wenigstens nachdem die Volkssozialisten sich von ihnen abgewandt und in der Trudowiki-Gruppe ihr Programm durchgesetzt haben, mit aller Entschiedenheit von ihnen abgerückt? Nein. Die Wahlen zur II. Duma in Petersburg haben das Gegenteil bewiesen, Blockbildung mit Kadetten war damals die höchste Stufe des sozialistischen Opportunismus. Die reaktionäre Schwarzhunderter-Gefahr war nur eine Fiktion, die als Deckmantel für die Politik der Unterordnung unter die Liberalen diente. Die Kadettenpresse deckte dies besonders deutlich dadurch auf, dass sie die „Mäßigung" der Menschewiki und der Volkssozialisten betonte. Wie benahmen sich die Sozialrevolutionäre? Unsere „Revolutionäre" gingen mit den Volkssozialisten und den Trudowiki einen Block ein, dessen Bedingungen jedoch vor der Öffentlichkeit geheimgehalten wurden. Unsere Revolutionäre gingen im Schlepptau der Kadetten, ganz wie die Menschewiki. Die Vertreter der Sozialrevolutionäre schlugen den Kadetten einen Block vor (Konferenz vom 18. Januar 1907, vergl. die Broschüre von N. Lenin „Der Narr als Richter", St. Petersburg, den 15. Januar 1907, worin festgestellt wird, die Sozialrevolutionäre hätten sich in der Frage der Wahlabkommen politisch unehrlich benommen, indem sie sowohl mit den Sozialdemokraten, die am 7. Januar 1907 den Kadetten den Krieg erklärt haben, als auch zu gleicher Zeit mit den Kadetten verhandelt haben). In den linken Block sind die Sozialrevolutionäre gegen ihren Willen geraten, infolge der ablehnenden Antwort der Kadetten.

Somit machen die Sozialrevolutionäre, nach dem völligen Bruch mit den Volkssozialisten, faktisch die Politik der Volkssozialisten und Menschewiki, d. h. der Opportunisten. Ihr „Vorzug" besteht darin, dass sie die Motive dieser Politik und ihre innerparteilichen Strömungen vor der Welt geheim halten.

Der außerordentliche Parteitag der Sozialrevolutionäre im Februar 1907 hat, weit davon entfernt, diese Frage der Blockbildung mit den Kadetten zur Sprache zu bringen und über die Bedeutung dieser Politik ein entsprechendes Urteil zu fällen, sie im Gegenteil bestätigt! Wir erinnern an die auf diesem Parteitag gehaltene Rede von G. A. Gerschuni, die seinerzeit von der „Rjetsch" ebenso über den grünen Klee gelobt wurde, wie sonst stets Plechanow. Gerschuni erklärte, er bliebe „bei seiner alten Meinung: die Kadetten sind vorläufig noch nicht unsere Feinde" (Seite 11 der Broschüre: „Rede G. A. Gerschunis auf dem außerordentlichen Parteitag der Sozialrevolutionäre", 1907, S. 1–15, mit der Parteidevise der Sozialrevolutionäre: „Im Kampf erringst du dein Recht"). Gerschuni warnte vor dem Kampf innerhalb der Opposition: „Würde das Volk nicht den Glauben an die Möglichkeit selbst verlieren, das Land mit Hilfe einer Volksvertretung zu regieren?" (ebenda). Offensichtlich geschah es im Geiste dieses Kadettenfreundes, dass der Sozialrevolutionäre Parteitag eine Resolution fasste, in der es u. a. heißt:

Der Parteitag findet, dass eine strenge gegenseitige Absonderung der Parteien in der Duma, bei isoliertem Auftreten jeder einzelnen Gruppe und scharfem Fraktionskampf, die Tätigkeit der oppositionellen Mehrheit gänzlich paralysieren und damit den Gedanken der Volksvertretung in den Augen der werktätigen Klassen diskreditieren könnte" (Nr. 6 der „Partinyje Iswestija" der Partei der Sozialrevolutionäre, 8 März 1907).2

Dies ist schon Opportunismus reinsten Wassers, noch schlimmer als unser Menschewismus. Gerschuni zwang den Parteitag, die Gedankengänge Plechanows in etwas plumperer Form zu wiederholen. Die ganze Tätigkeit der Dumafraktion der Sozialrevolutionäre trägt den Stempel dieses Geistes der kadettischen Taktik, der Sorge um die Einheit der nationalen Opposition. Der Unterschied zwischen dem Sozialdemokraten Plechanow und dem Sozialrevolutionär Gerschuni besteht einzig darin, dass jener Mitglied einer Partei ist, die eine solche Entartung nicht deckt, sondern sie entlarvt und bekämpft, dieser dagegen einer Partei angehört, in der alle taktischen Prinzipien und theoretischen Auffassungen verworren und durch den dicken Vorhang einer Zirkeldiplomatie für die Augen des Publikums unsichtbar gemacht sind. „Den Unrat im eigenen Hause lassen" – darauf verstehen sich die Sozialrevolutionäre. Doch sie müssen auch so tun, denn sie haben eben nichts anderes als Unrat im Haus. Sie konnten nicht die volle Wahrheit über ihre Beziehungen zu den Volkssozialisten 1905, 1906 und 1907 sagen. Sie können der Welt nicht gestehen, dass eine Partei ... eine Partei, kein Zirkel ... heute mit 67 Stimmen gegen eine Stimme eine stockopportunistische Resolution fasst, um morgen sich mit „revolutionären" Rufen die Kehle heiser zu schreien.

Ja, ihr Herren „Richter", wir beneiden euch nicht um euer formales Recht, über den scharfen Kampf in der Sozialdemokratie, über ihre Spaltungen zu frohlocken. Dieser Kampf hat viel Schlimmes an sich, das ist unbestreitbar. Diese Spaltungen fügen der sozialistischen Sache schweren Schaden zu, das steht außer Zweifel. Und trotzdem möchten wir diese traurige Wahrheit auch nicht für eine Minute gegen eure „ganz kleinen" Lügen vertauschen. Die schwere Krankheit unserer Partei ist die Wachstumskrankheit einer Massenpartei, denn es kann keine Massen-, keine Klassenpartei geben, ohne dass die wesentlichen Schattierungen in ihr durchaus klar herausgearbeitet werden, ohne offenen Kampf zwischen den verschiedenen Tendenzen, ohne Aufklärung der Massen darüber, welche Parteiführer, welche Parteiorganisationen die eine oder die andere Linie vertreten. Ohne diese Voraussetzung kann keine Partei geschaffen werden, die dieses Namens würdig ist. Wir aber schaffen sie. Wir haben erreicht, dass die von unseren beiden Richtungen vertretenen Auffassungen klar, deutlich, ehrlich vor allen dastehen. Persönliche Schärfe, Fraktionszank und -krakeel, Skandale und Spaltungen, – das alles ist bedeutungslos im Vergleich damit, dass aus der Erfahrung zweier Taktiken wirklich proletarische Massen, wirklich alle diejenigen lernen, die in politischen Dingen einer bewussten Einstellung fähig sind. Unsere Raufereien und unsere Spaltungen werden in Vergessenheit geraten. Unsere taktischen Prinzipien werden, geschärft und gestählt, in die Geschichte der Arbeiterbewegung und des Sozialismus in Russland als Grundsteine eingehen. Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte werden vergehen, und an hunderterlei praktischen Fragen wird man den Einfluss der einen oder anderen Richtung verfolgen können. Die Arbeiterklasse Russlands und das ganze Volk wissen, mit wem sie es in der Gestalt des Bolschewismus oder des Menschewismus zu tun haben.

Wissen sie auch, was die Kadetten sind? Die ganze Geschichte der Kadettenpartei ist nichts als politisches Jonglieren, nichts als Totschweigen der Hauptsache, nichts als die eine unaufhörliche Sorge – Verheimlichung der Wahrheit um jeden Preis.

Wissen sie auch, was die Sozialrevolutionäre sind? Werden die Sozialrevolutionäre morgen wieder einen Block mit den Sozial-Kadetten eingehen? Sind sie nicht schon in einem solchen Block? Rücken sie vom „individualistischen Schlamm' der Trudowiki ab oder füllen sie im Gegenteil ihre Partei immer mehr mit diesem Schlamm? Stehen sie immer noch auf dem Boden der Theorie der Einheit der nationalen Opposition? Huldigen sie dieser Theorie erst seit gestern? Werden sie sie morgen für einige Wochen fahren lassen? Das weiß niemand, das wissen die Herren Sozialrevolutionäre selber nicht,denn die ganze Geschichte ihrer Partei ist eine einzige systematische, unaufhörliche Vertuschung, Verschleierung, Verkleisterung der .Meinungsverschiedenheiten durch Worte, Redensarten und abermals Redensarten.

Warum ist dies so? Nicht etwa deswegen, weil die Sozialrevolutionäre bürgerliche Streber sind, wie die Kadetten. Nein, an ihrer Aufrichtigkeit, als der eines Zirkels, kann man nicht zweifeln. Ihr Unglück ist die Unmöglichkeit, eine Massenpartei zu schaffen, die Unmöglichkeit, zur Partei einer Klasse zu werden. Die objektive Lage ist derart, dass sie notgedrungen nur ein Flügel der Bauerndemokratie sind, ein unselbständiges, schwankendes Anhängsel, eine „Gruppe bei" den Trudowiki, nicht aber ein selbständiges Ganzes. Auch in der Periode des Sturmes und des Dranges haben die Sozialrevolutionäre nicht vermocht, sich in ihrer ganzen Höhe aufzurichten – diese Periode trieb sie den Volkssozialisten in die Arme, in eine Umarmung, die so zähe ist, dass selbst die Spaltung sie nicht zu lösen vermag. Die Periode des konterrevolutionären Krieges festigte nicht ihren Kontakt mit bestimmten sozialen Schichten – sie führte nur zu neuen (heute von den Sozialrevolutionären sorgfältig geheimgehaltenen) Irrungen und Schwankungen in Bezug auf das sozialistische Wesen des Muschik. Und wenn man heute die an Pathos so reichen Aufsätze des „Snamja Truda" über die Helden des sozialrevolutionären Terrors liest, so muss man sich unwillkürlich sagen: Euer Terrorismus, ihr Herren, ist nicht Folge eures revolutionären Geistes. Euer revolutionärer Geist beschränkt sich auf den Terrorismus.

Nein, solche Richter sind bei weitem nicht berufen, über die Sozialdemokratie zu Gericht zu sitzen.

1 Ein geflügeltes Wort aus Gribojedows (1795–1829) Lustspiel „Verstand schafft Leiden". Die Red.

* Herr Schewitsch hat angesichts dieses Beleidigtseins des aus dem Gleichgewicht geratenen Volkssozialisten ein klein wenig den Rückzug angetreten und hat „berichtigt" – (Seite 63) –, indem er „in der Form einer persönlichen (!!) Bemerkung" erklärte: „Ich habe nicht die Absicht gehabt, den Redner der liberalen Partei zuzurechnen".

2 Lenin zitiert die „Mitteilung über den 2. (außerordentlichen) Parteitag der Partei der Sozialrevolutionäre" in Nr. 6 vom 8. März 1907.

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