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Wladimir I. Lenin 19081114 Zur Beurteilung der gegenwärtigen Lage

Wladimir I. Lenin: Zur Beurteilung der gegenwärtigen Lage

[Proletarij" Nr. 38, 14. (1.) November 1908. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 464-478]

Auf der Tagesordnung der bevorstehenden Allrussischen Konferenz der SDAPR steht die Frage: „Die gegenwärtige Lage und die Aufgaben der Partei". Unsere Parteiorganisationen – die Moskauer und die Leningrader in erster Reihe – haben bereits begonnen, diese Frage, die für uns zweifellos von außerordentlich großer Bedeutung ist, systematisch zu erörtern.

Die gegenwärtige Periode eines Stillstandes der Freiheitsbewegung, die Periode zügelloser Reaktion, die Zeit von Verrat und Mutlosigkeit im Lager der Demokratie, von Krise und teilweisem Zerfall sozialdemokratischer Organisationen stellt uns vor die dringende Notwendigkeit, vor allem die Grundlehren aus der ersten Periode unserer Revolution zu ziehen. Wir meinen hier nicht die taktischen Lehren im engeren Sinne, sondern zunächst die allgemeinen Lehren der Revolution, und demgemäß wird unsere erste Frage lauten: Welches sind die objektiven Veränderungen, die in den Klassengruppierungen und im politischen Kräfteverhältnis in Russland 1904 bis 1908 eingetreten sind? Die Hauptveränderungen können, unserer Meinung nach, in folgende vier Punkte zusammengefasst werden: 1. Die Agrarpolitik des Absolutismus in der Bauernfrage hat sich prinzipiell stark verschoben: an Stelle der Unterstützung und Festigung der alten Dorfgemeinde ist die Politik ihrer beschleunigten Vernichtung und Ausplünderung durch behördliche Maßnahmen getreten. 2. Die Interessenvertretung des Schwarzhunderter-Adels und der Großbourgeoisie hat einen gewaltigen Fortschritt gemacht: statt der früheren lokalen Vertretungskörperschaften von Adel und Kaufmannschaft, statt vereinzelter und zersplitterter Versuche, eine Vertretung im Reichsmaßstabe für sie zu schaffen, haben wir heute ein einheitliches Vertretungsorgan, die Reichsduma, in der diesen beiden Klassen das absolute Übergewicht gesichert ist. Die Vertretung der freien Berufe – von der Bauernschaft und dem Proletariat ganz zu schweigen – ist in dieser scheinkonstitutionellen Institution, die bestimmt ist, den Absolutismus zu festigen, auf die Rolle eines bloßen Anhängsels beschränkt. 3. Zum ersten Male haben sich in Russland die Klassen im offenen politischen Kampf herausgebildet und getrennt: die heute legal und illegal existierenden politischen Parteien (richtiger: halb illegal, denn ganz „illegale", geheime Parteien gibt es nach der Revolution in Russland nicht) bringen mit einer noch nie dagewesenen Klarheit die Interessen und den Standpunkt der einzelnen Klassen zum Ausdruck, die im Laufe von drei Jahren, im Vergleich zum vorhergehenden halben Jahrhundert, um ein Hundertfaches gereift sind. Der Schwarzhunderter-Adel, die national-„liberale" Bourgeoisie, die kleinbürgerliche Demokratie (die Trudowiki nebst ihrem kleinen linken Flügel, den Sozialrevolutionären) und die proletarische Sozialdemokratie haben alle in dieser Zeit die „embryonale" Periode ihrer Entwicklung abgeschlossen und – nicht durch Worte, sondern durch Tatsachen und Massenaktionen – auf lange Jahre hinaus ihren Charakter festgelegt. 4. Das, was vor der Revolution die liberale und liberal-volksfreundliche „Gesellschaft" oder der „gebildete" Teil und die Vertreterin der „Nation" überhaupt hieß, die breite Masse der wohlhabenden „Opposition" aus dem Adel und den Intellektuellenkreisen, jener Opposition, die scheinbar etwas Ganzes, Gleichartiges war und die ganzen Semstwos, die Universitäten, die ganze „anständige" Presse usw. usw. zu beherrschen schien – sie alle offenbarten sich in der Revolution als Ideologen und Anhänger der Bourgeoisie, stellten sich auf einen, heute für alle offenkundigen konterrevolutionären Standpunkt gegenüber dem Massenkampf des sozialistischen Proletariats und der demokratischen Bauernschaft. Die konterrevolutionäre liberale Bourgeoisie ist entstanden und wächst heran. Diese Tatsache wird dadurch nicht aus der Welt geschafft, dass die „fortschrittliche" legale Presse sie verneint oder dass unsere Opportunisten, die Menschewiki, sie totschweigen wollen und sie nicht verstehen. 5. Millionen der Bevölkerung haben in den verschiedenartigsten Formen eines unmittelbar revolutionären und wirklichen Massenkampfes – bis zum „Generalstreik", bis zur Vertreibung der Gutsbesitzer und Niederbrennung ihrer Herrensitze, bis zum offenen bewaffneten Aufstand – praktische Erfahrungen gesammelt. Wer bereits vor der Revolution Revolutionär oder klassenbewusster Arbeiter war, ist gar nicht imstande, die ganze gewaltige Bedeutung dieser Tatsache mit einem Schlag zu erfassen, die eine ganze Reihe früherer Vorstellungen über den Entwicklungsgang der politischen Krise, über das Tempo dieser Entwicklung, über die Dialektik der praktischen geschichtlichen Schöpfertätigkeit der Massen von Grund aus gewandelt hat. Die Erfassung dieser Erfahrungen durch die Massen ist ein unmerklicher, schwerer und langsamer Prozess, der eine viel wichtigere Rolle spielt als viele sich auf der Oberfläche des politischen Staatslebens abspielende Geschehnisse,, die nicht nur politische Säuglinge, sondern manchmal auch Politiker ziemlich ehrwürdigen Alters auf Irrwege locken. Die führende Rolle der proletarischen Massen in der ganzen Revolution und auf allen Kampfgebieten, von den Demonstrationen über den Aufstand und schließlich (in chronologischer Reihenfolge) bis zur „parlamentarischen" Tätigkeit, trat in dieser als Ganzes betrachteten Periode vor aller Augen klar zutage.

Dies sind die objektiven Wandlungen, die zwischen dem Russland vor Oktober 1905 und dem jetzigen eine tiefe Kluft gegraben haben. Dies sind die Ergebnisse einer inhaltlich überreichen dreijährigen Periode unserer Geschichte – natürlich nur sozusagen summarische Ergebnisse, sofern man in wenigen Worten die Hauptpunkte, das Wesentlichste zusammenfassen kann. Betrachten wir nunmehr die taktischen Schlüsse, zu denen uns diese Ergebnisse verpflichten.

Die Änderung der Agrarpolitik des Absolutismus ist für ein „bäuerliches" Land wie Russland von größter Bedeutung. Diese Änderung ist aber kein Zufall, keine bloße Schwankung des ministerialen Kurses, keine müßige Erfindung der Bürokratie. Nein, es ist ein überaus tiefer „Ruck" in der Richtung zum Agrar-Bonapartismus, in der Richtung einer liberalen (liberal im wirtschaftlichen Sinne, d. h. – einer bürgerlichen) Politik auf dem Gebiete der bäuerlichen Agrarbeziehungen. Der Bonapartismus ist ein Lavieren der Monarchie, die ihre alte, patriarchalische oder feudale, einfache und kompakte Stütze verloren hat, einer Monarchie, die Seiltänzerkünste vollführen muss, um nicht zu fallen, die liebäugeln muss, um regieren zu können, die genötigt ist zu bestechen, um zu gefallen, die sich mit der Hefe der Gesellschaft, mit direkten Dieben und Gaunern verbrüdern muss, um sich nicht allein durch die Macht der Bajonette zu halten. Bonapartismus ist eine von Marx und Engels an Hand einer Reihe von Tatsachen aus der neueren Geschichte Europas aufgezeigte, objektiv notwendige Evolution der Monarchie in jedem bürgerlichen Lande. So hätte auch der Agrar-Bonapartismus Stolypins, der in diesem Punkte sowohl von den Sehwarzhunderter-Gutsbesitzern als auch von der oktobristischen Bourgeoisie bewusst und konsequent unterstützt wird, überhaupt nicht geboren werden, geschweige denn bald zwei Jahre am Leben sein können, wenn sich nicht die russische Gemeinde selbst in kapitalistischer Richtung entwickelte, wenn innerhalb der Gemeinde nicht stetig Elemente entstünden, mit denen der Absolutismus liebäugeln, denen er zurufen kann: „Bereichert euch! Plündert die Gemeinde, aber unterstützt mich!" Daher wäre jedes Urteil über die Stolypinsche Agrarpolitik, das einerseits ihre bonapartistischen Methoden, andererseits aber ihr bürgerliches (d. h. liberales) Wesen nicht berücksichtigt, ein unbedingter Fehler.

Unsere Liberalen z. B. bringen ihr unklares Gefühl für den bonapartistischen Charakter der Stolypinschen Agrarpolitik dadurch zum Ausdruck, dass sie ihren polizeilichen Charakter, die idiotische bürokratische Einmischung ins Leben der Bauernschaft usw. usw. angreifen. Wenn aber die Kadetten die gewaltsame Zerschlagung der „althergebrachten" Grundfesten unseres Landlebens bejammern, so sind sie einfach reaktionäre Klageweiber. Ohne gewaltsame, ohne revolutionäre Zertrümmerung der Grundfesten des alten russischen Dorfes kann sich Russland nicht entwickeln. Der Kampf geht – obwohl sehr viele seiner Teilnehmer sich dessen nicht bewusst sind – nur darum, ob diese Gewalt von der Gutsbesitzermonarchie gegen die Bauern, oder von der Bauernrepublik gegen die Gutsbesitzer ausgeübt werden wird. In beiden Fällen ist eine bürgerliche – und keinerlei andere – Agrarrevolution in Russland unvermeidlich, aber im ersten Falle wird sie eine langsame und qualvolle, im zweiten eine rasche, großzügige und freie sein. Der Kampf der Arbeiterpartei für diesen zweiten Weg ist in unserem Agrarprogramm zum Ausdruck gebracht und anerkannt – nicht in jenem Teil, wo die absurde „Munizipalisierung" verlangt wird, sondern dort, wo von der Konfiskation des ganzen gutsherrlichen Bodens die Rede ist. Heute, nach den Erfahrungen der letzten drei Jahre, sind höchstens noch unter den Menschewiki Leute zu finden, die den Zusammenhang zwischen dem Kampf für diese Konfiskation und dem Kampf für die Republik nicht sehen. Würde sich die Stolypinsche Agrarpolitik lange, lange Jahre hindurch halten, würde sie alle Agrarbeziehungen auf dem Lande in rein bürgerlicher Art umgestalten, so könnte sie uns dadurch bestimmen, in der bürgerlichen Gesellschaft auf jedes Agrarprogramm zu verzichten (bisher haben es sogar die Menschewiki und sogar die Leute vom Schlage Tscherewanins unter den Menschewiki noch nicht so weit gebracht, unser Agrarprogramm zu verleugnen). Doch heute kann uns die Stolypinsche Politik keinesfalls zur Änderung unserer Taktik bewegen. Wenn im Programm „Konfiskation des ganzen gutsherrlichen Bodens" steht, so muss man ein kleines Kind sein, um die daraus folgende revolutionäre (im unmittelbarsten, im engsten Sinne dieses Wortes revolutionäre) Taktik nicht zu bemerken. Und es wäre falsch, die Frage so zu stellen: wenn die Stolypinsche Politik in den Fugen „kracht", so ist ein Aufschwung nahe und umgekehrt. Ein Krach der bonapartistischen Methoden bedeutet noch keinen Zusammenbruch der Politik der Ruinierung der Gemeinde durch die Kulaken. Und umgekehrt: der „Erfolg" Stolypins im Dorfe jetzt und in den nächsten Jahren wird im Grunde genommen die Kämpfe innerhalb der Bauernschaft mehr entfachen als löschen, denn auf anderem als auf sehr, sehr langem Wege kann das „Ziel", d. h. die endgültige Festigung einer rein bürgerlichen bäuerlichen Wirtschaft nicht erreicht werden. Der „Erfolg" Stolypins in den nächsten Jahren könnte bestenfalls zur Entstehung einer Schicht bewusst konterrevolutionärer, oktobristischer Bauern führen, jedoch gerade eine solche Verwandlung der wohlhabenden Minderheit in eine politisch bewusste, geschlossene Kraft würde unvermeidlich einen gewaltigen Antrieb zur Entwicklung des politischen Bewusstseins und des Zusammenschlusses der demokratischen Masse gegen diese Minderheit bedeuten. Wir Sozialdemokraten könnten uns nichts Besseres wünschen als die Verwandlung des spontanen, zersplitterten, blinden Kampfes zwischen „Kulaken" und „Gemeinde" in einen offenen und bewussten Kampf zwischen Oktobristen und Trudowiki.

Gehen wir nunmehr zur Dumafrage über. Es unterliegt keinem Zweifel, dass diese stockreaktionäre „Verfassungs"-Institution ebenfalls eine Stufe der bonapartistischen Entwicklung der absoluten Monarchie ist. Alle geschilderten Eigentümlichkeiten des Bonapartismus treten ganz klar zutage sowohl im heutigen Wahlgesetz als auch in der gefälschten, aus Schwarzhundertern und Oktobristen bestehenden Mehrheit, in der Nachahmung Europas, in der Jagd nach Anleihen, deren Verausgabung von „Volksvertretern" angeblich kontrolliert wird, in der vollständigen Missachtung aller Diskussionen und Beschlüsse der Duma in der praktischen Politik des Absolutismus. Der Widerspruch zwischen dem faktisch unbeschränkt herrschenden Schwarzhunderter-Absolutismus und dem äußeren Schein einer bürgerlichen „Verfassung" tritt immer deutlicher zutage und bringt Elemente einer neuen revolutionären Krise mit sich. Der Absolutismus sollte vermittels der Duma verschleiert, übertüncht, aufgeputzt werden – in Wirklichkeit aber offenbart, entblößt, entlarvt die aus Schwarzhundertern und Oktobristen bestehende Duma mit jedem Tage immer mehr den wahren Klassencharakter unserer Staatsmacht, ihre wahren Klassenstützen und ihren Bonapartismus. Man kann nicht umhin, an dieser Stelle auf die bemerkenswerte, tiefsinnige Äußerung von Engels über die Bedeutung des Übergangs von der absoluten zur konstitutionellen Monarchie hinzuweisen (aus einem Briefe an Bernstein vom 27. August 1883).1 Während die Liberalen überhaupt und die russischen Kadetten im Besonderen in diesem Übergang Ausdruck und Garantie des berühmten „friedlichen" Fortschritts erblicken, verwies Engels auf die geschichtliche Rolle der konstitutionellen Monarchie als einer Staatsform, die den Entscheidungskampf zwischen Feudalen und Bourgeoisie erleichtert.

Aber wie dieser Kampf“2 – schrieb Engels – „nicht unter der alten absoluten Monarchie ausgefochten werden konnte, sondern nur in der konstitutionellen (England, Frankreich 1789-1792 und 1815-1830), so der zwischen Bourgeoisie und Proletariat nur in der Republik.“

Als „konstitutionelle Monarchie" bezeichnet Engels hier u. a. auch das Frankreich des Jahres 1816, als die berühmte „Chambre introuvable", die extrem-reaktionäre, konterrevolutionäre Kammer wütete und mit allem Eifer den weißen Terror gegen die Revolution unterstützte – sicherlich nicht weniger als unsere III. Duma. Was bedeutet das? Betrachtet Engels die reaktionären Vertretungen von Gutsbesitzern und Kapitalisten, die den Absolutismus im Kampf gegen die Revolution unterstützen, als wirkliche Verfassungsinstitutionen? Nein. Es bedeutet, dass es geschichtliche Situationen gibt, wo Institutionen, die die Verfassung verfälschen, den Kampf für eine wirkliche Verfassung anfachen und eine Entwicklungsetappe neuer revolutionärer Krisen sind. In der ersten Periode unserer Revolution glaubte die Mehrheit der Bevölkerung noch an die Möglichkeit, eine wirkliche Verfassung und den Absolutismus miteinander in Einklang zu bringen; die Kadetten bauten ihre ganze Politik auf der systematischen Unterstützung dieses Glaubens im Volke auf, die Trudowiki folgten in diesem Punkte den Kadetten mindestens zur Hälfte. Jetzt aber zeigt der Absolutismus durch seine III. Duma dem Volke anschaulich, mit welcher „Verfassung" er sich „aussöhnen" kann, und rückt dadurch den breiteren und entschlosseneren Kampf gegen den Absolutismus in immer greifbarere Nähe.

Hieraus folgt unter anderem, dass eine Ersetzung unserer alten Losung „Nieder mit dem Absolutismus" durch die Losung „Nieder mit der III. Duma" total falsch wäre. Unter welchen Umständen könnte eine solche Losung, wie „Nieder mit der Duma", Bedeutung gewinnen? Nehmen wir an, wir hätten in einer Zeit schärfster, bereits bis zum offenen Bürgerkrieg gediehener revolutionärer Krise eine liberale, reformerische, kompromisslerische Duma vor uns. Es ist durchaus möglich, dass in einem solchen Moment der Ruf „Nieder mit der Duma" zur Losung werden könnte, d. h.: Nieder mit den Friedensverhandlungen mit dem Zaren, nieder mit der trügerischen Aufrichtung eines „Friedens", wir rufen zum direkten Sturm. Nehmen wir nunmehr umgekehrt an, wir hätten eine erzreaktionäre Duma, gewählt auf Grund eines veralteten Wahlrechts; nehmen wir auch an, es gäbe im Land keine akute revolutionäre Krise. In diesem Falle könnte die Losung „Nieder mit der Duma" zur Losung im Kampfe für die Wahlreform werden. Bei uns aber gibt es nichts, was dem einen oder anderen Falle ähnlich sähe! Die III. Duma ist keine kompromisslerische, sondern eine offen konterrevolutionäre Duma, die den Absolutismus nicht verschleiert, sondern ihn noch mehr offenbart, die in keiner Beziehung eine selbständige Rolle spielt: niemand erwartet von ihr fortschrittliche Reformen; niemand denkt, dass diese „Auerochsen"-Versammlung die Quelle der wirklichen Macht und Kraft des Zarismus ist. Alle sind sich darüber einig, dass der Zarismus sich auf diese Versammlung nicht stützt, sondern sie ausnützt, dass der Zarismus auch bei Vertagung der Einberufung einer solchen Duma (ähnlich der „Vertagung" der Parlamentseinberufung in der Türkei im Jahre 1878) oder bei ihrer Ersetzung durch einen „Semski Sobor" oder dergleichen seine ganze heutige Politik weiterführen kann. Die Losung „Nieder mit der Duma" würde die Konzentrierung des Kampfes auf eine nicht selbständige, nicht ausschlaggebende, nicht entscheidende Institution bedeuten. Eine solche Losung ist falsch. Wir müssen die alte Losung „Nieder mit dem Absolutismus" und „Es lebe die Konstituierende Versammlung" beibehalten, denn der Absolutismus ist immer noch die wirkliche Macht, die tatsächliche Stütze, der Schutzwall der Reaktion. Der Sturz der Selbstherrschaft bedeutet unausbleiblich die Beseitigung (und zwar die revolutionäre Beseitigung) der III. Duma als einer Institution des Zarismus; der Sturz der III. Duma, an und für sich genommen, würde entweder ein neues Abenteuer des Absolutismus oder den Versuch einer trügerischen, vom Absolutismus selbst vollzogenen Scheinreform bedeuten.*

Gehen wir weiter. Wir haben gesehen, dass der Klassencharakter der politischen Parteien in den drei Jahren der ersten revolutionären Periode mit größter Kraft und Anschaulichkeit zutage getreten ist. Hieraus folgt, dass wir bei der Betrachtung des gegenwärtigen Wechselverhältnisses der politischen Kräfte, der Richtung der sich in diesem Wechselverhältnis vollziehenden Wandlungen usw. diesen konkreten historischen Erfahrungen, nicht aber abstrakten „allgemeinen Erwägungen" Rechnung tragen müssen. Die ganze Geschichte der europäischen Staaten lehrt uns, dass gerade in der Periode unmittelbaren revolutionären Kampfes das Fundament der Klassengruppierungen und großer politischer Parteien gelegt wird, so tief und fest, dass es selbst in den längsten Stillstandsperioden weiter erhalten bleibt. Einzelne Parteien können in die Illegalität versinken, nichts von sich hören lassen, aus dem politischen Vordergrund verschwinden, aber bei der geringsten Belebung werden die politischen Hauptkräfte unvermeidlich wieder zutage treten, vielleicht in veränderter Form, aber unbedingt mit demselben Charakter, mit derselben Richtung ihrer Tätigkeit, solange die objektiven Aufgaben der Revolution, die die eine oder andere Niederlage erlitten hat, noch ungelöst bleiben. Es wäre daher z. B. größte Kurzsichtigkeit, wenn man aus dem Grunde, dass es keine Ortsorganisationen der Trudowiki gibt, die Trudowiki-Gruppe in der III. Duma aber besonders hilf- und kopflos ist, annehmen wollte, die demokratischen Bauernmassen seien zu Staub geworden und spielten im Heranwachsen der neuen revolutionären Krise keine wesentliche Rolle mehr. Eine solche Auffassung ist nur der Menschewiki würdig, die immer mehr und mehr zum „parlamentarischen Kretinismus" schlimmster Sorte hinab sinken (man nehme als Beispiel ihre wahrhaft schmachvollen Renegatenausfälle gegen die illegale Parteiorganisation). Marxisten sollten wissen, dass die Bedingungen der Vertretung nicht nur in unserer Schwarzhunderter-Duma, sondern auch im idealsten bürgerlichen Parlament stets ein künstliches Missverhältnis zwischen der wirklichen Kraft der verschiedenen Klassen und ihrem Ausdruck in der Vertretungskörperschaft schaffen werden. So z. B. erscheinen die liberal-bürgerlichen Intellektuellen immer und überall in den Parlamenten hundertmal stärker, als sie in Wirklichkeit sind (auch in unserer Revolution betrachteten die opportunistischen Sozialdemokraten die Kadetten als das, was sie zu sein schienen), und umgekehrt: sehr breite demokratische kleinbürgerliche Schichten (das städtische Kleinbürgertum in der Zeit der bürgerlichen Revolution von 1848, das ländliche Kleinbürgertum bei uns) sind oft ein äußerst wichtiger Faktor des offenen Massenkampfes, obwohl sie vom Standpunkt ihrer Vertretung im Parlament ganz unbedeutend sind.

Als unsere Bauernschaft in die Revolution ihren Einzug hielt, war ihr Bewusstseinsgrad ungleich geringer als der der liberalen Bourgeoisie einerseits, des sozialistischen Proletariats andererseits. Daher brachte ihr die Revolution mehr als allen anderen schwere, aber nützliche Enttäuschungen, bittere, aber heilsame Lehren. Es ist ganz natürlich, dass sie diese Erfahrungen besonders schwer und besonders langsam verdaut. Es ist ganz natürlich, dass dabei viele, jede Hoffnung aufgebende „Radikale" aus den Reihen der Intellektuellen sowie einige sozialdemokratische Philister, die bei der Erwähnung der Bauerndemokratie verächtlich die Nase rümpfen, während ihnen beim bloßen Anblick der ..aufgeklärten" Liberalen das Wasser im Munde zusammenläuft, die Geduld verlieren werden. Das klassenbewusste Proletariat aber wird das, was es im Herbst und Winter 1905 gesehen und woran es sich beteiligt hat, nicht so leicht aus seinem Gedächtnis streichen. Und wenn wir das Kräfteverhältnis in unserer Revolution erwägen, so müssen wir wissen, dass das unbedingte Anzeichen eines wirklich breiten gesellschaftlichen Aufschwungs, einer wirklich nahenden revolutionären Krise im heutigen Russland die Bauernbewegung sein wird.

Die liberale Bourgeoisie hat bei uns den Weg der Konterrevolution beschritten. Nur die tapferen Tscherewanins und die Redakteure des „Golos Sozialdemokrata", die ihren Gesinnungsgenossen und Waffenbruder feige verleugnen, können das in Abrede stellen. Wenn aber jemand aus diesem konterrevolutionären Charakter der Liberalen den Schluss ziehen würde, ihre Opposition und Unzufriedenheit, ihre Konflikte mit den Schwarzhunderter-Gutsbesitzern oder überhaupt die Konkurrenz und der Kampf verschiedener bürgerlichen Fraktionen untereinander könnten im Entwicklungsprozess des neuen Aufschwungs überhaupt keine Bedeutung haben, so wäre dies ein gewaltiger Fehler und ein regelrechter umgestülpter Menschewismus. Die Erfahrungen der russischen Revolution sowie diejenigen anderer Länder zeigen unwiderleglich, dass, wenn die objektiven Voraussetzungen einer tiefen politischen Krise gegeben sind, auch die kleinsten, die vom wahren Herd der Revolution scheinbar entferntesten Konflikte ernsteste Bedeutung haben können — als Anlass, als der Tropfen, der den Becher zum Überlaufen bringt, als Beginn eines Umschwungs in der Stimmung usw. Wir erinnern daran, dass die Semstwo-Kampagne und die Petitionen der Liberalen im Jahre 1904 die Vorläufer einer so eigenartigen und rein proletarischen „Petition“, wie des 9. Januar, waren. Die Bolschewiki bestritten damals, während der Semstwo-Kampagne, nicht die Notwendigkeit ihrer Ausnützung für proletarische Demonstrationen, sondern sie wandten sich dagegen, dass unsere Menschewiki diese Demonstrationen auf die Versammlungssäle der Semstwos beschränken wollten, dass sie diese Demonstrationen vor den Semstwo-Leuten zum höchsten Typus von Demonstrationen stempelten und dass ihre Pläne ausgearbeitet wurden vom Standpunkt des Bestrebens, die Liberalen nicht abzuschrecken. Ein weiteres Beispiel sind die Studentenbewegungen. In einem Land, das im Zeitalter der bürgerlich-demokratischen Revolution steht, in dem sich fortschreitend Zündstoff anhäuft, können diese Bewegungen leicht den Anfang von Ereignissen bilden, die ungleich weiter reichen als ein kleiner Teilkonflikt in einem einzelnen Zweige der Staatsverwaltung. Selbstverständlich wird die Sozialdemokratie als Partei der selbständigen Klassenpolitik des Proletariats sich weder dem Studentenkampf noch neuen Semstwo-Kongressen noch der Art und Weise der Fragestellung sich zankender bürgerlicher Fraktionen anpassen, sie wird diesen Familienstreitigkeiten niemals selbständige Bedeutung beilegen usw. Doch als Partei der führenden Klasse des ganzen Befreiungskampfes hat die Sozialdemokratie die unbedingte Pflicht und Schuldigkeit, alle und jede Konflikte auszunutzen, sie anzufachen, ihre Bedeutung zu erweitern, ihre eigene Agitation für die revolutionären Losungen mit ihnen zu verbinden, die Kunde von diesen Konflikten in die breiten Massen zu tragen, sie zu selbständigen und offenen Aktionen mit Aufstellung eigener Forderungen zu veranlassen usw. Nach 1793 entstand in Frankreich die konterrevolutionäre liberale Bourgeoisie und wuchs seitdem unablässig, die Konflikte und der Kampf der verschiedenen bürgerlichen Fraktionen gaben aber trotzdem noch hundert Jahre hindurch bald in der einen, bald in der anderen Form zu neuen Revolutionen Anlass, in denen das Proletariat stets die Haupttriebkraft war und in denen es schließlich die Republik errang.

Betrachten wir nunmehr die Frage der Bedingungen eines Angriffskampfes dieser führenden und fortgeschrittensten Klasse unserer demokratischen Revolution, des Proletariats. Bei der Erörterung dieser Frage unterstrichen unsere Moskauer Genossen durchaus zutreffend die hervorragende Bedeutung der Industriekrise. Sie haben äußerst interessantes Material über diese Krise gesammelt, haben der Bedeutung des Kampfes zwischen Moskau und Łódź3 Rechnung getragen, die bisher herrschenden Vorstellungen in mancherlei Punkten korrigiert. Es bleibt nur zu wünschen, dass dieses Material nicht in Kommissionen des Moskauer Komitees oder des Moskauer Distriktkomitees verwelkt, sondern bearbeitet und in der Presse der Gesamtpartei zur Erörterung vorgelegt wird. Wir unsererseits beschränken uns auf einige Bemerkungen über die Art der Stellung der Frage. Strittig ist unter anderem die Richtung, in der die Krise wirkt (es wird allgemein anerkannt, dass in unserer Industrie, nach einer sehr kurzen und unbedeutenden Belebung, wiederum eine schwere, an eine Krise grenzende Depression herrscht). Die einen sagen: Ein wirtschaftlicher Angriffskampf der Arbeiter ist nach wie vor unmöglich, unmöglich ist daher in nächster Zukunft auch ein neuer revolutionärer Aufschwung. Andere sagen: Die Unmöglichkeit des Wirtschaftskampfes drängt zum politischen Kampf, und daher ist ein revolutionärer Aufschwung unvermeidlich.

Unsere Meinung ist, dass beiden Behauptungen ein und derselbe Fehler zu Grunde liegt, nämlich die Vereinfachung einer komplizierten Frage. Es unterliegt keinem Zweifel, dass ein eingehendes Studium der Industriekrise von der größten Bedeutung ist. Ebenso unterliegt es aber keinem Zweifel, dass selbst ideal erschöpfende Angaben über die Krise die Frage, ob ein revolutionärer Aufschwung nahe bevorsteht, nicht entscheiden können, da dieser noch von tausenderlei anderen Faktoren abhängt, die im Voraus nicht berechnet werden können.

Anders als auf dem allgemeinen Boden der Agrarkrise und der industriellen Depression sind tiefgreifende politische Krisen unmöglich, das ist unbestreitbar. Ist aber der allgemeine Boden vorhanden, so kann auf Grund dessen noch nicht entschieden werden, ob die Depression eine Zeitlang den Massenkampf der Arbeiter überhaupt hintan halten oder ob dieselbe Depression in einem bestimmten Entwicklungsstadium der Ereignisse neue Massen und frische Kräfte in den politischen Kampf treiben wird. Zur Beantwortung dieser Frage gibt es nur einen Weg: aufmerksame Verfolgung des Pulsschlags des ganzen politischen Lebens des Landes und insbesondere des Standes der Bewegung sowie der Stimmung der breiten proletarischen Massen. In letzter Zeit z. B. zeugt eine Reihe von Mitteilungen von Parteifunktionären aus verschiedenen Gegenden Russlands, aus Industriebezirken wie aus landwirtschaftlichen Gebieten, von einer zweifellosen Belebung der Stimmung, vom Zustrom neuer Kräfte, von verstärktem Interesse für Agitation usw. Vergegenwärtigen wir uns den gleichzeitigen Beginn von Massenunruhen unter der Studentenschaft einerseits, andererseits die Versuche, die Semstwo-Kongresse wieder ins Leben zu rufen, so können wir eine gewisse Wendung konstatieren, ein Etwas, das dem völligen Stillstand der letzten anderthalb Jahre ein Ende macht. Wie stark diese Wendung ist, ob sie die Vorstufe zu einer neuen Epoche offenen Kampfes ist usw. das werden die Tatsachen zeigen. Alles, was wir heute machen können, alles, was wir auf jeden Fall machen müssen, ist die Anspannung aller Kräfte zur Festigung der illegalen Parteiorganisation, zur Verzehnfachung der Agitation in den proletarischen Massen. Nur Agitation ist imstande, die wirkliche Stimmung der Massen in breitem Maßstab aufzuzeigen, nur Agitation schafft die engste Wechselwirkung zwischen der Partei und der gesamten Arbeiterklasse, nur die Ausnutzung jedes Streiks, jedes größeren Ereignisses und jeder Frage des Arbeiterlebens, aller Konflikte innerhalb der regierenden Klassen oder zwischen der einen oder anderen Fraktion dieser Klassen und dem Absolutismus, jedes Auftretens der Sozialdemokratie in der Duma, jeder neuen Äußerung der konterrevolutionären Politik der Regierung usw. für die politische Agitation – nur diese Arbeit allein wird die Reihen des revolutionären Proletariats wieder schließen, wird uns fehlerfreies Material liefern zur Beurteilung des Tempos des Heranreifens der Bedingungen für neue und entscheidendere Kämpfe.

Wir fassen zusammen. Die Übersicht über die Ergebnisse der Revolution und über die gegenwärtige Lage zeigt mit aller Klarheit, dass die objektiven Aufgaben der Revolution nicht gelöst sind. Durch den Ruck in der Richtung zum Bonapartismus in der Agrarpolitik des Absolutismus sowie in seiner allgemeinen Politik sowohl in der Duma als auch vermittelst derselben wird der Widerspruch zwischen dem Schwarzhunderter-Absolutismus und der Herrschaft der „wilden Gutsherren“ einerseits, den Anforderungen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes andererseits nur verschärft und erweitert. Der polizeilich-großbäuerliche Feldzug gegen die Dorfmassen verschärft den Kampf, der sich in ihren Reihen abspielt, macht ihn zu einem politisch bewussten, bringt sozusagen den Kampf gegen den Absolutismus den Tages- und Lebensfragen jedes Dorfes näher. Die Verfechtung revolutionär-demokratischer Forderungen in der Agrarfrage (Konfiskation des gesamten gutsherrlichen Bodens) durch die Sozialdemokratie ist in einem solchen Augenblick besonders notwendig. Die extrem-reaktionäre oktobristische Duma, die anschaulich, an Hand der Erfahrung zeigt, mit welcher „Verfassung“ sich der Absolutismus „aussöhnen“ kann, und die keine einzige Frage, selbst in den beschränktesten Grenzen der Sicherung der Wirtschaftsentwicklung des Landes, zu lösen vermag, verwandelt den Kampf „für die Verfassung“ in einen revolutionären Kampf gegen den Absolutismus. Die Teilkonflikte der einzelnen bürgerlichen Fraktionen untereinander und mit der Regierung bewirken unter diesen Verhältnissen ein Näherrücken dieses Kampfes. Die Verelendung des Dorfes, die Depression in der Industrie, das allgemeine Bewusstsein der Ausweglosigkeit der gegenwärtigen politischen Lage und der Hoffnungslosigkeit des viel gerühmten „friedlichen konstitutionellen Weges“ gebären immer neue und neue Elemente der revolutionären Krise. Unsere Aufgabe besteht heute nicht in der künstlichen Erfindung neuer Losungen (z. B. der Losung „Nieder mit der Duma“ anstatt „Nieder mit dem Absolutismus“), sondern in der Befestigung der illegalen Parteiorganisation (trotz des reaktionären Geheuls der Menschewiki, die sie schon begraben wollen) und in der Entwicklung einer breiten revolutionären sozialdemokratischen Agitation, die die Partei mit den proletarischen Massen zusammenschließen und diese Massen mobilisieren wird.

1 Das Datum des Briefes von Engels an Bernstein ist von Lenin nicht richtig angegeben – er ist nicht am 31. August geschrieben, wie es im „Proletarij" heißt, sondern am 27. August. In dem gleichen Brief finden wir einen Hinweis Engels' darauf, dass Marx im „18. Brumaire des Louis Bonaparte" und Engels selbst in der „Wohnungsfrage" die Unvermeidlichkeit des Bonapartismus festgestellt haben, worüber Lenin denn auch auf Grund dieser Worte im vorliegenden Artikel spricht. Der Brief von Engels ist ursprünglich im „Vorwärts" veröffentlicht, Nr. 278 vom 29. XI. 1899, und in „Mouvement Socialiste", Nr. 45 vom 1. XI. 1900, S. 523, ferner in Ed. Bernstein, „Die Briefe von Friedrich Engels an Ed. Bernstein", Verlag Dietz, Berlin 1925.

2 Der Kampf zwischen Feudalismus und Bourgeoisie. Die Red.

* In der nächsten Nummer werden wir die andere Seite der Frage der „Dumataktik" betrachten und uns mit dem „Brief" des otsowistischen Genossen in Nr. 5 des „Rabotscheje Snamja" befassen.

3 Moskau und Łódź waren die Mittelpunkte der zwei wichtigsten Textilindustrie-Reviere. Die Red.

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