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Wladimir I. Lenin 19101200 Helden des „Vorbehalts“

Wladimir I. Lenin: Helden des „Vorbehalts“

[„Mysl“ Nr. 1, Dezember 1910. Gezeichnet: W. I. Nach Sämtliche Werke, Band 15, Moskau 1941, S. 57-66]

Das zehnte Heft der Zeitschrift des Herrn Potressow und Konsorten, Nascha Sarja, das wir soeben erhalten haben, bietet solch erstaunliche Proben von Sorglosigkeit oder richtiger Prinzipienlosigkeit in der Einschätzung Leo Tolstois, dass es notwendig ist, unverzüglich, und sei es auch nur in aller Kürze, auf sie einzugehen.

Da gibt es einen Artikel W. Basarows, eines neuen Streiters der Potressowschen Heerschar. Die Redaktion ist mit „einzelnen Sätzen“ dieses Artikels nicht einverstanden, nennt aber natürlich diese Sätze nicht. Ist es so doch viel bequemer, die Konfusion zu bemänteln! Was uns betrifft, so fällt es uns schwer, solche Sätze dieses Artikels zu nennen, über die ein Mensch, der den Marxismus auch nur ein ganz klein wenig schätzt, nicht empört wäre.

Unsere Intelligenz“, schreibt W. Basarow, „zerschlagen und erschlafft, zu irgendeinem formlosen geistigen und moralischen Schlamm geworden, an der äußersten Grenze des geistigen Verfalls angelangt, hat Tolstoi — den ganzen Tolstoi — einmütig als ihr Gewissen anerkannt.“

Das ist nicht wahr. Das ist eine Phrase. Unsere Intelligenz im Allgemeinen und die der „Nascha Sarja“ im Besonderen ähnelt sehr etwas „Erschlafftem“, aber in der Einschätzung Tolstois hat sie gar keine „Einmütigkeit“ offenbart und konnte sie auch nicht offenbaren, sie hat den ganzen Tolstoi niemals richtig eingeschätzt und konnte ihn auch nicht richtig einschätzen. Und eben der Mangel an Einmütigkeit wird mit der doppelt heuchlerischen, des „Nowoje Wremja“ durchaus würdigen Phrase vom „Gewissen“ bemäntelt. Basarow bekämpft nicht den „Schlamm“, sondern fördert den Schlamm.

Basarow „möchte an gewisse Ungerechtigkeiten (!!) Tolstoi gegenüber erinnern, deren sich die russischen Intellektuellen im Allgemeinen und wir, die Radikalen verschiedener Richtungen, im Besonderen schuldig gemacht haben“. Wahr daran ist nur, dass Basarow, Potressow und Konsorten eben „Radikale verschiedener Richtungen“ sind, die dermaßen vom allgemeinen „Schlamm“ abhängen, dass sie in einer Zeit, wo die fundamentalen Inkonsequen-

zcn und Schwächen der Weltanschauung Tolstois in unverzeihlichster Weise verschwiegen werden, geschäftig hinter „aller Welt“ herlaufen und über „Ungerechtigkeit“ Tolstoi gegenüber schreien. Sie wollen sich nicht berauschen „an dem unter uns besonders verbreiteten Narkotikum, das Tolstoi ,die Erbitterung des Streites' nennt“, — das eben sind solche Reden, solche Melodien, wie sie die Spießbürger brauchen, welche sich mit grenzenloser Verachtung abwenden von dem Streit um ganz und konsequent verfochtene Prinzipien, welche es auch immer sein sollten.

Die Hauptstärke Tolstois besteht eben darin, dass er, der alle Stadien des für den modernen gebildeten Menschen typischen Verfalls durchgemacht hat, imstande war, eine Synthese zu finden“

Falsch. Gerade eine Synthese hat Tolstoi weder in den philosophischen Grundlagen seiner Weltanschauung noch in seiner sozialpolitischen Lehre zu finden gewusst, oder richtiger: er konnte sie nicht finden.

Tolstoi hat jene rein menschliche“ (Sperrungen überall von Basarow selbst) „Religion, von der Comte, Feuerbach und andere Repräsentanten der modernen Kultur nur subjektiv (!) träumen konnten, zum ersten Mal (!) objektiviert, d. h. nicht nur für sich selbst, sondern auch für die anderen geschaffen“ usw. usw.

Derartige Reden sind schlimmer als die übliche Spießerhaftigkeit. Das ist eine Ausstaffierung des „Schlamms“ mit trügerischen Blumen, was nur geeignet ist, die Menschen zu täuschen. Vor mehr als einem halben Jahrhundert hat sich Feuerbach, der nicht imstande war, in seiner Weltanschauung, die in vielen Beziehungen das „letzte Wort“ der deutschen klassischen Philosophie darstellte, „eine Synthese zu finden“, in jenen „subjektiven Träumen“ verfangen, deren negative Bedeutung schon längst von den wirklich fortschrittlichen „Repräsentanten der modernen Kultur“ gewürdigt worden ist. Jetzt erklären, dass Tolstoi diese „subjektiven Träume“ „zum ersten Mal objektiviert hat“, heißt sich in das Lager jener schlagen, die sich rückwärts wenden, heißt dem Spießer schmeicheln, heißt in den Chor der Anhänger des Wjechismus einstimmen.

Es versteht sich von selbst, dass die von Tolstoi begründete Bewegung (!?) tiefgehende Veränderungen erleiden muss, falls es ihr tatsächlich bestimmt sein sollte, eine große weltgeschichtliche Rolle zu spielen: die Idealisierung des patriarchalischen Bauernlebens, der Hang zur Naturalwirtschaft und viele andere utopische Züge des Tolstoianertums, die sich gegenwärtig in den Vordergrund schieben (!) und als die wesentlichsten erscheinen, sind in Wirklichkeit gerade subjektive Elemente, die mit der Grundlage der Tolstoischen ,Religion“ nicht notwendig verbunden sind.“

Also, die „subjektiven Träume“ Feuerbachs hat Tolstoi „objektiviert“, das aber, was Tolstoi sowohl in seinen genialen Kunstwerken als auch in seiner so widerspruchsvollen Lehre widerspiegelt hat, nämlich die von Basarow hervorgehobenen wirtschaftlichen Eigentümlichkeiten des Russlands des vorigen Jahrhunderts, das sind „gerade subjektive Elemente“ seiner Lehre. Das eben nennt man gründlich danebenhauen. Aber immerhin: für die „Intelligenz, zerschlagen und erschlafft“ (usw., wie oben zitiert), gibt es nichts Angenehmeres, Erwünschteres, Lieberes, gibt es nichts, was ihrer Erschlaffung mehr Vorschub leisten würde, als diese Verhimmelung der von Tolstoi „objektivierten“ „subjektiven Träume“ Feuerbachs und diese Ablenkung der Aufmerksamkeit von jenen konkreten historischen, ökonomischen und politischen Fragen, die „sich gegenwärtig in den Vordergrund schieben“!

Es ist begreiflich, dass Basarow besonders die „scharfe Kritik“ missfällt, die die Lehre von dem „Nicht-Widerstreben-dem-Übel“ „bei der radikalen Intelligenz“ hervorgerufen hat. Für Basarow ist „klar, dass von Passivität und Quietismus hier nicht die Rede sein kann“. Zur Erläuterung seines Gedankens beruft sich Basarow auf das bekannte Märchen von „Iwan dem Narren“ und schlägt dem Leser vor,

sich nur vorzustellen, dass nicht der Zar von Tarakan Soldaten gegen die Narren schickt, sondern ihr eigener vernünftig gewordener Gebieter Iwan, und dass mit Hilfe dieser Soldaten, die unter eben diesen Narren angeworben worden sind, und ihnen folglich ihrer ganzen seelischen Verfassung nach nahestehen, Iwan seine Untertanen zwingen will, irgendwelche ungerechten Forderungen zu erfüllen. Es ist völlig handgreiflich, dass die Narren, fast ohne Waffen und mit dem Kriegshandwerk nicht vertraut, von einem physischen Sieg über die Truppen Iwans nicht einmal träumen können. Selbst unter der Bedingung des energischsten ,Mit-Gewalt-Widerstrebens“ können die Narren Iwan nicht physisch überwältigen, sondern nur durch moralische Einwirkung, d. h. nur auf dem Wege der sogenannten .Demoralisierung“ der Soldaten der Iwanschen Armee“... „Das Widerstreben der Narren mit Gewalt erzielt dasselbe Resultat (aber nur schlechter und mit größeren Opfern) wie das Widerstreben ohne Gewalt“. … „Das Dem-Übel-nicht-mit-Gewalt-Widerstreben oder, allgemeiner, die Harmonie des Mittels und des Zieles (!!) ist keineswegs eine Idee, die nur außerhalb der Gesellschaft stehenden Moralpredigern eigen wäre. Diese Idee ist ein notwendiger Bestandteil jeder geschlossenen Weltanschauung.“

So argumentiert der neue Streiter der Potressowschen Heerschar. Wir können hier nicht seine Argumente analysieren, auch genügt es fürs Erste ja wohl, einfach das Wichtigste daraus wiederzugeben und kurz hinzuzufügen: das ist der Geist der „Wjechi“ in Reinkultur.

Aus den Schlussakkorden der Kantate über das Thema, dass niemand aus seiner Haut heraus könne:

Wozu unsere Schwäche als Kraft, als Überlegenheit über den ,Quietismus’ und die ,beschränkte Urteilsfähigkeit' Tolstois“ (und über die Inkonsequenz seiner Beurteilungen?) „darstellen! So darf nicht gesprochen werden, nicht nur, weil das der Wahrheit widerspricht, sondern weil es uns auch hindert, von dem größten Menschen unserer Zeit zu lernen.“

So. So. Weshalb bloß ärgern Sie sich, meine Herren, und antworten mit lächerlichen Herausforderungen und Schmähreden (wie Herr Potressow in den Nr. 8 und 9 der „Nascha Sarja“), wenn Sie den Segen, die Billigung und die Küsse der Isgojew erhalten. Von diesen Küssen werden sich sowohl die alten als auch die neuen Streiter der Potressowschen Heerschar nicht reinwaschen.

Der Generalstab dieser Heerschar hat den Basarowschen Artikel mit einem „diplomatischen“ Vorbehalt versehen. Aber nicht viel besser ist der ohne jegliche Vorbehalte veröffentlichte Leitartikel des Herrn Newedomski.

Dadurch, dass Leo Tolstoi“, schreibt dieser Herold der heutigen Intelligenz, „die grundlegenden Aspirationen und Bestrebungen der großen Epoche der Abschaffung der Sklaverei in Russland in sich aufgenommen und in vollendeter Gestalt verkörpert hatte, erwies er sich eben als die reinste, vollendetste Verkörperung des allgemein-menschlichen ideologischen Prinzips — des Prinzips des Gewissens.“

Bumm, bumm, bumm. . . Dadurch, dass M. Newedomski die grundlegenden Manieren des Deklamierens, die der liberal-bürgerlichen Publizistik eigen sind, in sich aufgenommen und in vollendeter Gestalt verkörpert hat, erwies er sich eben als die reinste und vollendetste Verkörperung des allgemein-menschlichen ideologischen Prinzips, des Prinzips der Kannegießerei.

Und noch ein Lied, das allerletzte:

All diese europäischen Verehrer Tolstois, all diese Anatole France verschiedenster Bezeichnungen und die Deputiertenkammern, die kürzlich mit gewaltiger Mehrheit gegen die Abschaffung der Todesstrafe stimmten, jetzt aber den großen ganzen Menschen durch Erheben von den Plätzen ehrten, dieses ganze Reich der goldenen Mitte, der Halbheit, des Vorbehalts — als welch hehre, welch machtvolle, aus einem Stück lauteren Metalls gegossene Gestalt steht vor ihnen dieser Tolstoi, diese lebendige Verkörperung eines einheitlichen Prinzips.“

Uff, so schön geredet — und doch ist alles nicht wahr. Nicht aus einem Stück, und nicht aus lauterem, und nicht aus Metall ist Tolstois Gestalt gegossen. Und „all diese“ bürgerlichen Verehrer haben gerade nicht wegen der „Ganzheit“, sondern wegen der Abweichung von der Ganzheit sein Andenken durch „Erheben von den Plätzen“ geehrt.

Nur ein einziges treffendes Wörtchen ist Herrn Newedomski unbeabsichtigt entschlüpft. Dieses Wörtchen —Vorbehalt — kennzeichnet ebenso richtig die Herren der „Nascha Sarja“, wie sie durch die oben angeführte Charakteristik der Intelligenz bei W. Basarow gekennzeichnet werden. Wir haben vor uns lauter — Helden des „Vorbehaltes“. Potressow macht den Vorbehalt, dass er mit den Machisten nicht einverstanden sei, obwohl er sie verteidigt. Die Redaktion macht den Vorbehalt, dass sie mit „einzelnen Sätzen“ Basarows nicht einverstanden sei, obwohl es für jeden klar ist, dass es sich hier nicht um einzelne Sätze handelt. Potressow macht den Vorbehalt, dass er von Isgojew verleumdet worden sei, Martow macht den Vorbehalt, dass er mit Potressow und Lewizki nicht ganz einverstanden sei, obwohl er gerade ihnen politisch treue Dienste leistet. Sie alle zusammen machen den Vorbehalt, dass sie mit Tscherewanin nicht.einverstanden seien, obwohl sie sein zweites liquidatorisches Büchlein, das den „Geist“ seines ersten Sprösslings noch vertieft, durchaus billigen. Tscherewanin macht den Vorbehalt, dass er mit Maslow nicht einverstanden sei. Maslow macht den Vorbehalt, dass er mit Kautsky nicht einverstanden sei.

Alle zusammen sind sie miteinander nur darin einverstanden, dass sie mit Plechanow nicht einverstanden seien, und dass er sie verleumderisch des Liquidatorentums bezichtige, ohne angeblich selbst imstande zu sein, seine jetzige Annäherung an seine Gegner von gestern zu erklären.

Es gibt nichts Einfacheres als die Erklärung für diese Annäherung, die nur Leuten mit Vorbehalten unverständlich ist. Als wir eine Lokomotive hatten, hatten wir die stärksten Differenzen in bezug darauf, ob der Stärke dieser Lokomotive, den Brennstoffvorräten usw. eine Geschwindigkeit von, sagen wir, 25 oder 50 Werst in der Stunde entspricht. Die Diskussion darüber wurde, wie die Diskussion über jede brennende Frage, mit Leidenschaft, und nicht selten mit Erbitterung geführt. Diese Diskussion, und zwar in absolut jeder Frage, aus der sie entstand, liegt klar auf der Hand, offen vor aller Augen, in ihr gibt es nichts Unausgesprochenes, sie ist durch keinerlei „Vorbehalte“ verkleistert worden. Und keinem von uns kommt es in den Sinn, etwas zurückzunehmen oder über die „Erbitterung des Streites“ zu jammern. Jetzt aber, wo die Lokomotive aus dem Geleise gesprungen ist, wo sie im Sumpf steckt, umgeben von Intellektuellen mit „Vorbehalten“, die infam darüber grinsen, dass „es ja nichts zu liquidieren gibt“, denn eine Lokomotive gäbe es ja nicht mehr, da werden wir, die „erbitterten Streiter“ von gestern, durch die gemeinsame Sache einander nähergebracht. Ohne uns von etwas loszusagen, ohne etwas zu vergessen, ohne irgendwelche Versprechungen hinsichtlich eines Verschwindens der Meinungsverschiedenheiten zu machen, verrichten wir die gemeinsame Sache gemeinsam. Wir richten die ganze Aufmerksamkeit und die ganze Kraft darauf, die Lokomotive zu heben, sie zu reparieren, sie stabiler und stärker zu machen, sie auf das Geleise zu setzen, — über die Geschwindigkeit der Bewegung und über die Stellung dieser oder jener Weichen werden wir noch zu gegebener Zeit streiten können. In unserer schwierigen Zeit ist die Aufgabe des Tages, etwas zu schaffen, was geeignet ist, den Leuten mit „Vorbehalt“ und den „erschlafften Intellektuellen“, die direkt und indirekt den herrschenden „Schlamm“ unterstützen, eine Abfuhr zu erteilen. Die Aufgabe des Tages ist, selbst unter den schwierigsten Umständen das Erz zu schürfen, das Eisen zu gewinnen, den Stahl der marxistischen Weltanschauung und des Überbaus, der dieser Weltanschauung entspricht, zu gießen.

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