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Wladimir I. Lenin 19161000 Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus“ Teil 5

Wladimir I. Lenin: Über eine Karikatur auf den Marxismus

und über den „imperialistischen Ökonomismus1

Oktober 1916

[Verfasst Anfang Oktober 1916. Erstmalig veröffentlicht 1924 in der Zeitschrift „Swjesda“ Nr. 1 und 2. Nach Ausgewählte Werke, Band 5, Der Imperialismus und der imperialistische Krieg. Wien 1933, S. 307-317]

5. Über „Monismus und Dualismus“

P. Kijewski erhebt gegen uns den Vorwurf der „dualistischen Auslegung der Forderung“ und schreibt:

Die monistische Aktion der Internationale wird durch eine dualistische Propaganda ersetzt.“

Das klingt durchaus marxistisch, materialistisch: eine Aktion, die einheitlich ist, wird der Propaganda entgegengestellt, die „dualistisch“ ist. Bedauerlicherweise müssen wir bei näherem Hinsehen sagen, dass das ebenso ein Buchstaben-Monismus ist, wie es der „Monismus“ Dührings war.

Wenn ich eine Schuhbürste unter die Einheit Säugetier zusammenfasse“ – schrieb Engels gegen den „Monismus“ Dührings –, „so bekommt sie damit noch lange keine Milchdrüsen.“

Das heißt, dass man als „Einheit“ nur solche Dinge, Eigenschaften, Erscheinungen, Handlungen bezeichnen kann, die in der objektiven Wirklichkeit eine Einheit sind. Gerade diese „Kleinigkeit“ hat unser Autor vergessen!

Er erblickt unseren „Dualismus“ erstens darin, dass wir von den Arbeitern der Unterdrückernationen in erster Linie nicht das verlangen – die Rede ist nur von der nationalen Frage –, was wir von den Arbeitern der unterdrückten Nationen fordern.

Um zu überprüfen, ob nicht der „Monismus“ P. Kijewskis hier der „Monismus“ Dührings ist, muss man untersuchen, wie die Dinge in der objektiven Wirklichkeit liegen.

Ist etwa die wirkliche Lage der Arbeiter der unterdrückenden und der unterdrückten Nationen, was die nationale Frage anbetrifft, die gleiche?

Nein.

(1) Ökonomisch ist der Unterschied der, dass Teile der Arbeiterklasse in den unterdrückenden Ländern Brocken von dem Überprofit der Bourgeois der Unterdrückernationen erhalten, die den Arbeitern der unterdrückten Nationen stets das Feil mehrfach über die Ohren ziehen. Die ökonomischen Daten besagen außerdem, dass aus den Arbeitern der Unterdrückernationen ein größerer Prozentsatz von „Zwischenmeistern“ hervorgeht als aus den Arbeitern der unterdrückten Nationen –, dass ein größerer Prozentsatz zur „Arbeiteraristokratie“ emporsteigt.* Das ist eine Tatsache. Die Arbeiter der unterdrückenden Nation sind bis zu einem gewissen Grade Teilhaber ihrer Bourgeoisie bei der Ausplünderung der Arbeiter (und der Masse der Bevölkerung) der unterdrückten Nation.

    (2) Politisch ist der Unterschied der, dass die Arbeiter der unterdrückenden Nationen eine privilegierte Stellung auf einer Reihe von Gebieten des politischen Lebens im Vergleich zu den Arbeitern der unterdrückten Nation einnehmen.

    (3) Ideell oder geistig ist der Unterschied der, dass die Arbeiter der unterdrückenden Nationen durch die Schule und das Leben immer im Geiste der Verachtung oder der Geringschätzung der Arbeiter der unterdrückten Nationen erzogen werden. Zum Beispiel jeder Großrusse, der unter Großrussen erzogen wurde oder unter ihnen gelebt hat, hat dies durchgemacht.

Somit ist in der objektiven Wirklichkeit auf der ganzen Linie ein Unterschied vorhanden, d. h. ein „Dualismus“ in der objektiven Welt, die vom Willen und Bewusstsein einzelner Personen unabhängig ist.

Wie kann man sich da zu den Worten P. Kijewskis über die „monistische Aktion der Internationale“ stellen?

Das ist eine leere wohlklingende Phrase, sonst nichts.

Damit die Aktion der Internationale, die sich im Leben aus Arbeitern zusammensetzt, die durch ihre Zugehörigkeit zu unterdrückenden und unterdrückten Nationen gespalten sind, einheitlich sei, ist es notwendig, in dem einen und dem anderen Fall keine gleichartige Propaganda zu treiben: so muss man vom Standpunkt eines wirklichen (und nicht des Dühringschen) „Monismus“, vom Standpunkt des Marxschen Materialismus denken!

Ein Beispiel? Ein Beispiel dafür haben wir schon (in der legalen Presse vor mehr als zwei Jahren!) in Bezug auf Norwegen angeführt, und niemand hat uns zu widerlegen versucht. Die Aktion der norwegischen und der schwedischen Arbeiter war in diesem konkreten, aus dem Leben gegriffenen Falle „monistisch“, einheitlich, international nur deshalb und insoweit, als die schwedischen Arbeiter bedingungslos Norwegen die Freiheit der Lostrennung zusprachen, während die norwegischen Arbeiter die Frage dieser Lostrennung bedingt stellten. Wenn die schwedischen Arbeiter nicht bedingungslos für die Freiheit der Lostrennung der Norweger eingetreten wären, wären sie Chauvinisten gewesen, Mitkämpfer des Chauvinismus der schwedischen Grundbesitzer, die mit Gewalt, durch einen Krieg Norwegen „zurückhalten“ wollten. Wenn die norwegischen Arbeiter die Frage der Lostrennung nicht bedingt gestellt hätten, d. h. so, dass auch Mitglieder der sozialdemokratischen Partei gegen die Lostrennung stimmen und Propaganda machen durften, dann hätten die norwegischen Arbeiter ihre Pflicht als Internationalisten verletzt und wären in einen engen, bürgerlichen norwegischen Nationalismus verfallen. Warum? Weil die Lostrennung von der Bourgeoisie vollzogen wurde und nicht vom Proletariat! Weil die norwegische Bourgeoisie (wie jede andere auch) immer die Arbeiter ihres Landes und die eines „fremden“ zu spalten versucht! Deshalb, weil jede beliebige demokratische Forderung (darunter die der Selbstbestimmung) für klassenbewusste Arbeiter den höheren Interessen des Sozialismus untergeordnet ist. Wenn z. B. die Lostrennung Norwegens von Schweden sicher oder wahrscheinlich den Krieg Englands gegen Deutschland bedeutet hätte, dann hätten die Arbeiter Norwegens aus diesem Grunde gegen die Lostrennung sein müssen. Und die schwedischen Arbeiter hätten das Recht und die Möglichkeit gehabt, in einem solchen Falle gegen die Lostrennung zu agitieren, ohne aufzuhören, Sozialisten zu sein, nur wenn sie systematisch, konsequent, unaufhörlich gegen die schwedische Regierung, für die Freiheit der Lostrennung Norwegens gekämpft hätten. Im gegenteiligen Falle hätten die norwegischer Arbeiter und das norwegische Volk an die Aufrichtigkeit des Ratschlags der schwedischen Arbeiter nicht geglaubt und nicht glauben können.

Der ganze Jammer der Gegner der Selbstbestimmung kommt daher, dass sie sich auf tote Abstraktionen beschränken und Angst haben, auch nur ein einziges konkretes Beispiel aus dem lebendigen Leben zu Ende zu analysieren. Gegen unseren konkreten Hinweis in den Thesen, dass ein neuer polnischer Staat jetzt, beim Zusammentreffen bestimmter Bedingungen ausschließlich militärisch-strategischen Charakters, „zu verwirklichen“ sei, haben weder die Polen noch P. Kijewski Einwände erhoben. Darüber nachdenken, was sich aus dieser stillschweigenden Anerkennung unserer Behauptung ergibt, wollte aber niemand. Es ergibt sich aber daraus offenkundig, dass die Propaganda der Internationalisten unter Russen und unter Polen nicht gleicher Art sein kann, wenn sie die einen wie die anderen zur „einheitlichen Aktion“ erziehen will. Der großrussische (und deutsche) Arbeiter ist verpflichtet, unbedingt für die freie Lostrennung Polens zu sein, da er sonst jetzt faktisch ein Lakai Nikolaus' II. oder Hindenburgs ist. Der polnische Arbeiter könnte für die Lostrennung nur bedingt sein, denn (wie die „Fraki“) auf den Sieg der einen oder der anderen imperialistischen Bourgeoisie spekulieren, heißt deren Lakai werden. Diesen Unterschied, der die Voraussetzung für die „monistische Aktion“ der Internationale ist, nicht verstehen, ist genau dasselbe, als wenn man nicht versteht, dass für eine „monistische Aktion“ gegen die zaristische Armee z. B. bei Moskau die revolutionären Truppen aus Nischni-Nowgorod westwärts, aus Smolensk ostwärts marschieren müssten.

Zweitens macht unser neuer Anhänger des Dühringschen Monismus uns den Vorwurf, wir kümmerten uns nicht um die „engste organisatorische Verbindung der verschiedenen nationalen Sektionen der Internationale“ bei der sozialen Umwälzung.

Unter dem Sozialismus fällt die Selbstbestimmung weg – schreibt P. Kijewski –, denn dann fällt der Staat weg. Das schreibt man, um uns angeblich zu widerlegen! Aber wir haben ja in drei Zeilen – den drei letzten Zeilen des ersten Absatzes unserer Thesen – klar und deutlich gesagt, dass „die Demokratie eine Staatsform ist, die mit dem Absterben des Staates überhaupt ebenfalls verschwinden muss“. Und diese Wahrheit wiederholt – natürlich zu unserer „Widerlegung“ – P. Kijewski auf mehreren Seiten seines § c (Kapitel I), wiederholt sie entstellt.

Wir denken uns“ – schreibt er – „und haben uns immer die sozialistische Gesellschaft als ein streng demokratisch (!!?) zentralisiertes System der Wirtschaft gedacht, wobei der Staat als Apparat zur Herrschaft eines Teils der Bevölkerung über den anderen verschwindet.“

Das ist Konfusion, denn Demokratie ist auch „Herrschaft eines Teiles der Bevölkerung über einen anderen“, ist auch ein Staat. Worin das Absterben des Staates nach dem Sieg des Sozialismus besteht und welches die Bedingungen dieses Prozesses sind, hat der Autor offenbar nicht verstanden.

Aber die Hauptsache sind seine „Einwände“, die sich auf die Epoche der sozialen Revolution beziehen. Nachdem er uns mit dem furchtbar schrecklichen Wort „Talmudisten der Selbstbestimmung“ beschimpft hat, sagt der Autor:

Diesen Prozess (die soziale Umwälzung) denken wir uns als die vereinte Aktion der Proletarier aller (!!) Länder, die die Grenzen des bürgerlichen (!!) Staates zerstören, die Grenzpfähle ausreißen“ (unabhängig von der „Zerstörung der Grenzen“?), „die Volksgemeinschaft sprengen (!!) und die Klassengemeinschaft aufrichten.“

Der strenge Richter über die „Talmudisten“ möge es uns nicht verübeln – hier sind viele Phrasen, aber es ist kein „Gedanke“ zu entdecken.

Die soziale Umwälzung kann nicht die vereinte Aktion der Proletarier aller Länder sein, aus dem einfachen Grunde, weil die Mehrzahl der Länder und die Mehrzahl der Bewohner der Erde bis jetzt noch nicht einmal auf der kapitalistischen Entwicklungsstufe stehen bzw. sie eben erst erreichen. Darüber haben wir in § 6 unserer Thesen gesprochen, und P. Kijewski hat nur aus Unaufmerksamkeit oder aus Denkunfähigkeit „nicht bemerkt“, dass dieser Paragraph nicht überflüssigerweise dort steht, sondern gerade zur Widerlegung karikierender Entstellungen des Marxismus. Für den Sozialismus sind nur die vorgeschrittenen Länder des Westens und Nordamerikas reif, und in einem Brief Engels’ an Kautsky („Sbornik Sozialdemokrata“)2 kann P. Kijewski die konkrete Illustration dieses – wirklichen und nicht nur versprochenen – „Gedankens“ lesen, dass von der „vereinten Aktion der Proletarier aller Länder“ träumen heißt, den Sozialismus ad calendas graecas, d. h. auf den St. Nimmerleinstag verschieben.3

Den Sozialismus werden die Proletarier nicht aller Länder in geeinter Aktion verwirklichen, sondern die einer Minderzahl von Ländern, die bis zur Entwicklungsstufe des vorgeschrittenen Kapitalismus gelangt sind. Eben das Nichtverstehen dieses Umstandes hat den Fehler P. Kijewskis verursacht. In diesen vorgeschrittenen Ländern (England, Frankreich, Deutschland u. a.) ist die nationale Frage schon längst gelöst, die Volksgemeinschaft hat sich schon lange überlebt, und „allgemein-nationale Aufgaben“ gibt es objektiv nicht mehr. Deshalb kann man nur in diesen Ländern jetzt schon die Volksgemeinschaft „sprengen“ und die Klassengemeinschaft aufrichten.

Anders ist es in den unentwickelten Ländern, in den Ländern, die wir (in § 6 unserer Thesen) in der zweiten und dritten Rubrik aufgezählt haben, d. h. im ganzen Osten Europas und in allen Kolonien und Halbkolonien. Hier gibt es noch in der Regel unterdrückte und kapitalistisch unentwickelte Nationen. Bei solchen Nationen bestehen noch objektiv allgemein-nationale Aufgaben, und zwar demokratische Aufgaben, die Aufgaben des Sturzes der Fremdherrschaft.

Gerade als Beispiel solcher Nationen führt Engels Indien an, wenn er sagt, dass es eine Revolution gegen den siegreichen Sozialismus machen könnte – denn Engels war weit entfernt von jenem lächerlichen „imperialistischen Ökonomismus“, der sich einbildet, dass das in den vorgeschrittenen Ländern siegreiche Proletariat „automatisch“, ohne bestimmte demokratische Maßnahmen die nationale Unterdrückung überall beseitigen wird. Das siegreiche Proletariat wird die Länder reorganisieren, in denen es gesiegt hat. Das ist nicht auf einmal möglich, und auch die Bourgeoisie kann man nicht mit einem Schlage „besiegen“. Wir haben das in unseren Thesen absichtlich unterstrichen, und P. Kijewski hat wieder nicht darüber nachgedacht, warum wir das in Verbindung mit der nationalen Frage unterstreichen.

Während das Proletariat der vorgeschrittenen Länder die Bourgeoisie stürzt und ihre konterrevolutionären Versuche abwehrt, werden die unentwickelten und unterdrückten Nationen nicht warten, nicht aufhören zu leben, nicht verschwinden. Wenn sie sogar eine solche, im Vergleich mit der sozialen Revolution geringfügige Krise der imperialistischen Bourgeoisie, wie den Krieg 1915/16, zu Aufständen ausnützen (Kolonien, Irland), so kann es keinem Zweifel unterliegen, dass sie in noch höherem Maße die große Krise des Bürgerkriegs in den vorgeschrittenen Ländern zu Aufständen ausnützen werden.

Die soziale Revolution kann nicht anders vor sich gehen als in der Form einer Epoche, die den Bürgerkrieg des Proletariats gegen die Bourgeoisie in den vorgeschrittenen Ländern verbindet mit einer ganzen Reihe demokratischer und revolutionärer Bewegungen der unentwickelten, rückständigen und unterdrückten Nationen, darunter auch nationaler Befreiungsbewegungen.

Warum das? Weil der Kapitalismus sich ungleichmäßig entwickelt und die objektive Wirklichkeit uns neben hochentwickelten kapitalistischen Nationen eine Reihe von Nationen zeigt, die ökonomisch sehr wenig oder gar nicht entwickelt sind. P. Kijewski hat über die objektiven Bedingungen der sozialen Revolution vom Standpunkt der ökonomischen Reife der einzelnen Länder absolut nicht nachgedacht, und deshalb dreht er mit seinem Vorwurf, dass wir „ausklügeln“, wo man das Selbstbestimmungsrecht anwenden könnte, in Wirklichkeit den Spieß um.

Mit einem Eifer, der einer besseren Sache würdig wäre, wiederholt P. Kijewski viele Male Zitate aus Marx und Engels darüber, dass die Mittel zur Befreiung der Menschheit von diesem oder jenem gesellschaftlichen Missstand „nicht etwa aus dem Kopfe zu erfinden, sondern vermittels des Kopfes in den vorliegenden materiellen Tatsachen der Produktion zu entdecken sind“. Beim Lesen dieser wiederholten Zitate kann ich die Erinnerung an die „Ökonomisten traurigen Gedenkens nicht loswerden, die ebenso langweilig ihre „neue Entdeckung“ über den Sieg des Kapitalismus in Russland … wiederkäuten. P. Kijewski will uns mit diesen Zitaten „schlagen“, denn wir hätten die Bedingungen der Anwendung der Selbstbestimmung der Nationen in der Epoche des Imperialismus ausgeklügelt! Aber bei demselben P. Kijewski finden wir folgendes „unvorsichtige Bekenntnis“:

Schon allein der Umstand, dass wir gegen (vom Autor gesperrt) die Vaterlandsverteidigung sind, zeigt auf das Klarste, dass wir uns aktiv jeder Unterdrückung eines nationalen Aufstandes entgegenstellen werden, da wir dadurch den Kampf gegen unseren Todfeind – den Imperialismus – führen werden“ (Kap. 2, § c seines Artikels).

Man kann manchen Autor nicht kritisieren, man kann ihm nicht antworten, ohne wenigstens die wichtigsten Behauptungen seines Artikels im Wortlaut anzuführen. Sobald aber wir nur eine einzige Behauptung P. Kijewskis anführen, stellt sich immer heraus, dass auf jeden beliebigen seiner Sätze zwei bis drei Fehler oder Unüberlegtheiten kommen, die den Marxismus entstellen!

1. P. Kijewski hat nicht bemerkt, dass ein nationaler Aufstand auch „Vaterlandsverteidigung“ ist! Indes wird nur ein klein bisschen Überlegung jeden überzeugen, dass dem wirklich so ist, denn jede „aufständische Nation“ „verteidigt“ sich gegen die unterdrückende Nation, verteidigt ihre Sprache, ihre Heimat, ihr Vaterland.

Jede nationale Unterdrückung ruft Abwehr in den breiten Massen des Volkes hervor, die Tendenz jeder Abwehr der national unterdrückten Bevölkerung ist aber der nationale Aufstand. Wenn wir nicht selten (besonders in Österreich und Russland) feststellen müssen, dass die Bourgeoisie der unterdrückten Nationen vom nationalen Aufstand nur schwätzt und in Wirklichkeit hinter dem Rücken des eigenen Volkes und gegen es reaktionäre Abmachungen mit der Bourgeoisie der unterdrückenden Nation trifft, so soll sich in derartigen Fällen die Kritik der revolutionären Marxisten nicht gegen die nationale Bewegung richten, sondern gegen ihre Verflachung, gegen ihre Trivialisierung, gegen ihre Verwandlung in ein kleinliches Geplänkel. Nebenbei gesagt, vergessen sehr viele österreichische und russische Sozialdemokraten diesen Umstand, und ihr berechtigter Hass gegen den kleinlichen, trivialen, lächerlichen nationalen Zank in der Art des Streits darüber, welche Sprache auf den Straßentafeln oben und welche unten stehen soll – ihren berechtigten Hass dagegen verwandeln sie in die Ablehnung der Unterstützung des nationalen Kampfes. Wir werden uns nicht dazu hergeben, etwa die komödienhafte Republikspielerei in einem Fürstentum Monaco oder „republikanische“ Abenteuer von „Generalen“ in den kleinen Staaten Südamerikas oder auf irgendeiner Insel des stillen Ozeans zu „unterstützen“, aber daraus folgt keineswegs, dass es erlaubt ist, bei ernsten demokratischen und sozialistischen Bewegungen die Losung der Republik zu vergessen. Wir verspotten den armseligen nationalistischen Zank und das nationalistische Feilschen der Völker in Russland und Österreich und sollen es verspotten, aber daraus folgt keineswegs, dass es erlaubt wäre, der nationalen Bewegung oder dem ernsten Kampfe eines ganzen Volkes gegen nationale Unterdrückung die Unterstützung zu versagen.

2. Wenn nationale Aufstände in der „imperialistischen Epoche“ unmöglich sind, dann hat P. Kijewski nicht das Recht, über sie zu sprechen. Wenn sie aber möglich sind, dann werden alle seine endlosen Phrasen über den „Monismus“, darüber, dass wir Beispiele der Selbstbestimmung unter dem Imperialismus „ausklügeln“ usw. und dergl. – all das wird dann zu nichts. P. Kijewski schlägt sich selbst.

Wenn „wir“ „uns aktiv der Unterdrückung nationaler Aufstände entgegenstellen“ – ein Fall, den P. Kijewski „selbst“ als möglich annimmt –, was heißt das?

Das heißt, dass die Aktion eine zweifache, „dualistische“ wird, wenn man diesen philosophischen Ausdruck ebenso unangebracht gebrauchen will, wie ihn unser Autor gebraucht: a) erstens, die „Aktion“ des national unterdrückten Proletariats und des Bauerntums zusammen mit der national unterdrückten Bourgeoisie gegen die unterdrückende Nation; b) zweitens, die „Aktion“ des Proletariats bzw. dessen klassenbewussten Teils innerhalb der unterdrückenden Nation gegen die Bourgeoisie und alle ihr folgenden Elemente der unterdrückenden Nation.

Die endlose Zahl der Phrasen gegen den „nationalen Block“, gegen nationale „Illusionen“, gegen das „Gift“ des Nationalismus, gegen das „Schüren des nationalen Hasses“ usw. – alle diese Phrasen, die P. Kijewski zum Überdruss gebraucht, sind Albernheiten, denn indem der Autor dem Proletariat der unterdrückenden Länder rät (vergessen wir nicht, dass der Autor dieses Proletariat als eine ernste Kraft betrachtet), „sich aktiv der Unterdrückung des nationalen Aufstandes entgegenzustellen“, schürt er den nationalen Hass, fördert er den „Block“ der Arbeiter der unterdrückten Nationen „mit der Bourgeoisie“.

3. Wenn nationale Aufstände unter dem Imperialismus möglich sind, sind auch nationale Kriege möglich. In politischer Hinsicht ist zwischen dem einen und dem anderen kein wesentlicher, Unterschied. Die Militärhistoriker der Kriege haben vollkommen recht, wenn sie Aufstände ebenfalls zu den Kriegen zählen. P. Kijewski hat unbedachterweise nicht nur sich, sondern auch Junius und die Gruppe „Internationale“ geschlagen, die die Möglichkeit nationaler Kriege unter dem Imperialismus bestreiten. Diese Negierung ist aber die einzig denkbare theoretische Begründung einer Auffassung, die die Selbstbestimmung der Nationen unter dem Imperialismus verneint.

4. Denn was ist ein „nationaler“ Aufstand? Ein Aufstand, der nach der politischen Unabhängigkeit einer unterdrückten Nation strebt, d. h. nach der Bildung eines besonderen Nationalstaates.

Wenn das Proletariat der unterdrückenden Nation eine ernste Kraft darstellt (wie der Autor für die Epoche des Imperialismus annimmt und annehmen muss), ist dann nicht die Entschlossenheit dieses Proletariats, „sich aktiv der Unterdrückung des nationalen Aufstandes entgegenzustellen“, „Mitwirkung“ an der Schaffung eines besonderen Nationalstaates? Natürlich ist sie das!

Unser kühner Bestreiter der „Möglichkeit der Verwirklichung“ des Selbstbestimmungsrechtes hat sich zu der Behauptung verstiegen, dass das klassenbewusste Proletariat der vorgeschrittenen Länder an der Verwirklichung dieser „nicht verwirklichbaren“ Maßnahme mitwirken soll!

5. Warum sollen „wir“ uns der Unterdrückung eines nationalen Aufstandes „aktiv entgegenstellen“? P. Kijewski führt nur ein Argument an: „Da wir dadurch den Kampf gegen unseren Todfeind“ – den Imperialismus – „führen werden“. Die ganze Kraft dieses Arguments liegt in dem kräftigen Wort „Todfeind“, wie überhaupt der Autor die Stärke seiner Argumente ersetzt durch die Stärke wuchtiger und klangvoller Phrasen, wie „den Pfahl in den zitternden Leib der Bourgeoisie jagen“ und ähnliche Stilverzierungen im Geiste Alexinskis.

Aber dieses Argument P. Kijewskis ist falsch. Der Imperialismus ist ebenso unser „Todfeind“ wie der Kapitalismus. Das ist so. Aber kein Marxist wird vergessen, dass der Kapitalismus im Vergleich mit dem Feudalismus fortschrittlich ist und der Imperialismus ebenso im Vergleich mit dem vormonopolistischen Kapitalismus. Das heißt also, dass wir kein Recht haben, jeden Kampf gegen den Imperialismus zu unterstützen. Einen Kampf reaktionärer Klassen gegen den Imperialismus werden wir nicht unterstützen, Aufstände reaktionärer Klassen gegen Imperialismus und Kapitalismus werden wir nicht unterstützen.

Wenn also der Autor die Notwendigkeit anerkennt, den Aufständen unterdrückter Nationen zu Hilfe zu kommen (sich der Unterdrückung „aktiv entgegenstellen“, heißt dem Aufstand zu Hilfe kommen), dann anerkennt der Autor damit die Fortschrittlichkeit des nationalen Aufstandes und, im Falle eines Erfolgs dieses Aufstandes, die Fortschrittlichkeit der Bildung eines besonderen, neuen Staates, der Festsetzung neuer Grenzen usw.

Der Autor führt buchstäblich keinen einzigen seiner politischen Gedanken logisch zu Ende!

Der irische Aufstand von 1916, der erst nach der Veröffentlichung unserer Thesen im „Vorboten“ Nr. 2 vor sich ging, hat – nebenbei bemerkt --bewiesen, dass sogar in Europa Worte über die Möglichkeit nationaler Aufstände nicht in den Wind geredet waren!

1 Der Artikel „Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den ,imperialistischen Ökonomismus‘“ ist gegen die Ansichten der Gruppe Bucharin-Pjatakow über die nationale Frage gerichtet und wurde im Oktober 1916 als Antwort auf einen Artikel Pjatakows (gezeichnet: P. P. Kijewski) „Proletariat und Selbstbestimmungsrecht der Nationen in der Epoche des Finanzkapitals“ geschrieben. Pjatakow entwickelte in seinem Artikel jene Ansichten, die die Gruppe Bucharin-Pjatakow in ihren Thesen vom November 1915 ausgesprochen hatte. Sowohl der Artikel Pjatakows als auch der Lenins waren für die Nummer 3 des „Sbornik Sozialdemokrata“ bestimmt, der damals von den Bolschewiki in der Schweiz herausgegeben wurde; aber diese Nummer erschien nicht, und beide Artikel blieben unveröffentlicht. Der Artikel Lenins wurde erst 1924 vom Lenin-Institut veröffentlicht. Mit Rücksicht auf den beschränkten Raum der vorliegenden Ausgabe ist hier nur das Kapitel V dieses Artikels abgedruckt, der die Erwiderung auf einen Abschnitt des Artikels Pjatakows, überschrieben „Eine dualistische Auslegung der Forderungen“, war. In diesem Abschnitt seines Artikels widersprach Pjatakow der Leninsche These über den Unterschied der Taktik der proletarischen Partei in dem Lande der unterdrückten und in dem Lande der unterdrückenden Nation (siehe Punkt 4 der Thesen Lenins „Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“). Er sieht darin einen „Dualismus“ (Zweiheit) der Taktik, die unzulässig sei vom Gesichtspunkt des Marxismus, der die Einheit („Monismus“) sowohl in der Erklärung der Erscheinungen als auch in den Handlungen sowie in der Taktik erfordert. Die Hauptbedeutung des hier abgedruckten Artikel Lenins besteht nicht nur in der Erwiderung an Pjatakow, sondern liegt noch mehr in jenen Gedanken, die Lenin hier über die Stelle und die Bedeutung der nationalen Befreiungsbewegungen und überhaupt der demokratischen Bewegungen in der proletarischen Weltrevolution sowie über die Charakteristik dieser Weltrevolution entwickelt, bei welcher er von dem Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung des Kapitalismus ausgeht. Diese Gedanken und diese Charakteristik gehören zu den wichtigsten Beiträgen Lenins zur Theorie der proletarischen Revolution. Eine notwendige Ergänzung zu dem, was Lenin in diesem Kapitel seines Artikels gegen Pjatakow sagt, bildet das weiter unten abgedruckte Kapitel 10 eines anderen Artikels, „Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung“, das, wie schon gesagt wurde, die in den Thesen Lenins „Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ niedergelegten Gedanken entwickelt.

[Aus der Anmerkung 96 aus den „Sämtlichen Werken“, Band 19:] Dieser Artikel Lenins ist die Antwort auf den Artikel P. Kijewskis (Pjatakows) „Das Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in der Epoche des Finanzkapitals“, dessen Manuskript sich im Lenininstitut befindet. Kijewskis Artikel wurde im August 1916 verfasst. Beide Artikel sollten, wie aus dem Umschlag der Nr. 2 des „Sbornik“ hervorgeht, in Nr. 3 des „Sbornik Sozialdemokrata erscheinen, die nie gedruckt wurde. Daher spricht Lenin vom Artikel Kijewskis als dem „oben abgedruckten“. Lenins Antwort wurde Ende September und Anfang Oktober verfasst und zur Stellungnahme an einige ausländische Sektionen der Partei versandt, so z. B. an die Pariser, wie aus dem Brief an Kiknadse hervorgeht. Sie wurde auch Schljapnikow übermittelt, der ihren Inhalt den Parteiarbeitern in Russland mitteilen sollte. Im Archiv des Lenininstituts befinden sich sowohl das Manuskript Lenins als auch die von seiner Hand korrigierte Abschrift. Der Titel wurde dreimal geändert, und zwar hieß er: 1. „Über eine entstehende Richtung des imperialistischen Ökonomismus“; 2. „Über die Vulgarisierung des Marxismus und imperialistischen Ökonomismus“; 3. „Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den imperialistischen Ökonomismus“.

* Siehe z. B. das englische Buch von Hourwich über die Einwanderung und die Lage der Arbeiterklasse in Amerika („Immigration and Labor“).

2 Der hier erwähnte Brief von Engels an Kautsky vom 12. September 1882 ist abgedruckt in Kautskys Broschüre „Sozialismus und Kolonialpolitik“ (Berlin 1907) und wurde von Lenin in seinem Artikel „Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung“ auszugsweise übersetzt. [Anmerkung 107 aus „Sämtliche Werke“, Band 19]

Mit dem Brief von Engels an Kautsky meint Lenin die folgende Stelle aus dem Brief von Engels vom 12. September 1882: „Meiner Ansicht nach werden die eigentlichen Kolonien, d. h. die von der europäischen Bevölkerung besetzten Länder, Kanada, Kap, Australien, alle selbständig werden; dagegen die bloß beherrschten, von Eingeborenen besetzten Länder, Indien, Algier, die holländischen, portugiesischen und spanischen Besitzungen vom Proletariat vorläufig übernommen werden und so rasch wie möglich der Selbständigkeit entgegen geführt werden müssen. Wie sich dieser Prozess abwickeln wird, ist schwer zu sagen, Indien macht vielleicht Revolution, sogar sehr wahrscheinlich, und da das sich befreiende Proletariat keine Kolonialkriege führen kann, würde man es gewähren lassen müssen, wobei es natürlich nicht ohne allerhand Zerstörung abgehen würde. Aber dergleichen ist eben von allen Revolutionen unzertrennlich“ (abgedruckt bei Kautsky: „Sozialismus und Kolonialpolitik“, Anhang, S. 79).

3 Pjatakow hatte in seinem Artikel geschrieben: „Wir vertagen die Lösung dieser Frage nicht bis zum Sankt-Nimmerleinstag, sondern wir fügen sie in das allgemeine System der proletarischen Aktion gegen den Imperialismus ein“ … „Wir sehen, dass das Problem der Beziehungen zwischen den Nationen sich an die schwankende Mauer des Imperialismus anlehnt, und darum kommen auch wir zu dem Schluss, dass hier die Frage so steht: Imperialismus oder Sozialismus“. In diesen Worten wurde der ganz falsche Gedanke ausgeführt, dass die nationale Frage überhaupt keine Lösung erfordere und durch den Kampf zwischen Imperialismus und Sozialismus erledigt werde: unter dem Imperialismus sei ihre Lösung unmöglich, unter dem Sozialismus bestehe sie nicht.

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