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Wladimir I. Lenin 19161000 Brief an A. G. Schljapnikow

Wladimir I. Lenin: Brief an A. G. Schljapnikow

[Geschrieben im September/Oktober 1916 Erstmalig veröffentlicht 1924 in „Leninski Sbornik" II. Nach Sämtliche Werke, Band 19, 1930, S. 341-345]

Teurer Freund! Offenbar ist der Entschluss Belenins über seine „Spritztour“1 schon gefasst, nach dem Brief zu urteilen, den mir heute Grigori übersandte. Und die Frist ist äußerst kurz! Dabei sind Korrespondieren und Kontakt mit ihm doppelt notwendig: diese Sache ist jetzt unglaublich wichtig. Deshalb bitte ich Sie sehr, sehr nachdrücklich, alle Maßnahmen zu treffen, um Belenin persönlich zu sehen, ihm alles Nachfolgende mitzuteilen und mir offen und ausführlich zu schreiben (unbedingt!), wie die Dinge stehen, d. h. ob es Missverständnisse, Differenzen usw. zwischen uns und Belenin gibt oder nicht, welcher Art sie sind (und wie sie zu beheben, falls vorhanden).

Die Entfernung James’2 (ich bitte Sie inständig, davon keinem einzigen Menschen im Auslande ein Wort zu sagen: Sie können sich nicht vorstellen, wie gefährlich in jeder Hinsicht der Tratsch im Auslande über solche Themen und in Verbindung mit solchen Ereignissen ist) – die Entfernung von James gestaltet die Lage kritisch und stellt neuerlich die Frage eines allgemeinen Arbeitsplans auf die Tagesordnung.

Meiner Überzeugung nach setzt sich dieser Plan zusammen 1. aus der theoretischen Linie; 2. aus den nächsten taktischen Aufgaben und 3. aus den unmittelbaren Organisationsaufgaben.

(1) Zum ersten Punkt steht jetzt auf der Tagesordnung nicht nur die Weiterführung der Linie, die bei uns (gegen den Zarismus usw.) in den Resolutionen und der Broschüre festgelegt ist (diese Linie ist glänzend bestätigt worden durch die Ereignisse, die Spaltung in England usw.), sondern auch ihre Reinigung von den gereiften Dummheiten und der konfusen Negierung der Demokratie (hierher gehört die Entwaffnung, die Ablehnung der Selbstbestimmung, die theoretisch falsche Ablehnung der Vaterlandsverteidigung „schlechthin“, die Schwankungen in der Frage der Rolle und Bedeutung des Staates überhaupt usw.).

Es wäre sehr schade, wenn Belenin meinen Antwortartikel an Kijewski nicht abwarten könnte (er wurde gerade gestern zum Abschreiben geschickt und wird erst in einigen Tagen fertig). Was tun? Vernachlässigen Sie nicht die theoretische Verständigung: wahrhaftig, sie ist unumgänglich für die Arbeit in so schwerer Zeit. Überlegen Sie, ob nicht folgender (oder ein ähnlicher) Plan verwirklicht werden könnte: ich ahne, dass die Frau Belenins nicht in Amerika ist, wie ich glaubte, sondern in Spanien3, durch welches Land ja auch Belenin jetzt reisen wird. Könnte man es da nicht so einrichten, dass Korrespondenz und Manuskripte an seine Frau nach Spanien gesandt werden? Dann könnte vielleicht auch mein Artikel, selbst wenn er erst in einer Woche abgesandt würde, Belenin rechtzeitig erreichen, da er sicherlich einige Tage in Spanien bleiben wird.

Bedenken Sie: außer diesem Sonderfall ist die reguläre Korrespondenz mit der Frau Belenins und mit Spanien überhaupt äußerst wichtig. Spanien ist jetzt ein überaus wichtiger Punkt. Denn dort arbeitet man gegen England immerhin unter günstigeren Bedingungen als anderwärts.

Ich kann mich über die theoretische Verständigung nicht weiter auslassen. Unsere Gegner haben schon bei der dummen Verneinung der Bedeutung der Demokratie eingehakt (Potressow in Nr. 1 des „Djelo4). Basarow hat in der „Ljetopis einen Bock geschossen. Bogdanow schreibt in der „Ljetopis“ einen anderen, aber auch einen Unsinn zusammen.5 Dort bildet sich ein höchst verdächtiger Block von Machisten und OK-Anhängern. Ein niederträchtiger Block! Man wird ihn kaum zerschlagen können … Vielleicht einen Block mit den Machisten gegen die OK-Anhänger versuchen? Wird wohl kaum gelingen!! Gorki ist in der Politik immer höchst charakterlos und gibt sich Gefühlen und Stimmungen hin.

Die legale Presse gewinnt in Russland doppelte Bedeutung, und deshalb erhält auch die Frage der richtigen Linie immer größere und größere Wichtigkeit, denn auf diesem Felde können uns die Feinde leichter „unter Feuer nehmen“.

Das Beste wäre wohl, wenn Belenin eine „Basis“ in Spanien haben könnte, nach dorthin unsere Briefe und Manuskripte erhalten könnte, der Kontakt würde fortdauern, die Korrespondenz könnte weitergehen, Belenin könnte dorthin nach einer kurzen Weiterreise zurückkehren (denn die Gefahr ist sehr groß, und für die Sache wäre es viel nützlicher, wenn Belenin kurze Reisen nach einigen Städten unternähme und dann immer nach Spanien zurückkehrte, oder dorthin, wo er jetzt ist, oder nach dem Nachbarland zum Ausbau der Verbindungen usw.).

Zum zweiten Punkt. Das Wichtigste ist jetzt meiner Meinung nach die Herausgabe populärer Flugblätter und Aufrufe gegen den Zarismus. Denken Sie darüber nach, ob es nicht möglich wäre, sie in Spanien herzustellen? Wenn nicht, werden wir sie hier fertigstellen und schicken; dazu sind aber tadellose Transportverbindungen notwendig. Sie hatten ganz recht damit, dass die Japaner6 sich als absolut ungeeignet erwiesen haben. Am besten wären Ausländer, mit denen wir auch englisch oder in einer anderen fremden Sprache korrespondieren könnten. Über den Transport werde ich mich nicht verbreitern, da Sie selbst sehen und wissen. Ein Jammer ist, dass kein Geld da ist, aber in Petersburg muss Geld aufgebracht werden.

Die wichtigste Parteifrage in Russland war und bleibt die Frage der „Einheit“. Trotzki hat in den 500-600 Nummern seiner Zeitung die Sache weder zu Ende ausgesprochen noch zu Ende gedacht: Einheit mit Tschcheïdse, Skobeljew und Co. oder nicht? Es scheint, dass es auch in Petersburg noch „Vereiniger“ gibt, wenn sie auch sehr schwach sind (sind nicht sie es, die in Petersburg die „Rabotschije Wjedomosti“ herausgegeben haben?). Es heißt, dass „Makar“ in Moskau sei und auch in Versöhnung mache. Versöhnlertum und Vereinigerei ist das Schlimmste für die Arbeiterpartei in Russland, nicht nur eine Idiotie, sondern auch der Untergang der Partei. Denn faktisch ist die „Vereinigung“ (oder Versöhnung usw.) mit Tschcheïdse und Skobeljew (um sie handelt es sich, denn sie geben sich als „Internationalisten“ aus) eine „Einheit“ mit dem Organisationskomitee, und durch dieses mit Potressow und Co., d. h. faktisch Liebedienerei vor den Sozialchauvinisten. Wenn Trotzki und Co. das nicht begriffen haben, um so schlimmer für sie. Nr. 1 des „Djelo“ und – was die Hauptsache ist – die Teilnahme der Arbeiter an den Kriegsindustriekomitees beweisen, dass dem so ist.

Nicht nur bei den Dumawahlen am Tage nach dem Friedensschluss, sondern überhaupt in allen Fragen der Parteipraxis ist die „Einheit“ mit Tschcheïdse und Co. augenblicklich die Kernfrage. Rechnen können wir nur auf die, die den ganzen Betrug durch die Idee der Einheit und die ganze Notwendigkeit des Bruches mit dieser Kumpanei (Tschcheïdse und Co.) in Russland begriffen haben. Belenin sollte nur solche Leute als Führer heranziehen.

Nebenbei: die Spaltung im internationalen Ausmaße ist ebenfalls herangereift. Ich halte es jetzt für völlig zeitgemäß, dass alle bewusst führenden Arbeiter Russlands dies begreifen und Resolutionen annehmen für den organisatorischen Bruch mit der II. Internationale und dem Internationalen Büro Huysmans', Vanderveldes und Co., für einen Aufbau der III. Internationale nur gegen die Kautskyaner aller Länder (Tschcheïdse und Co. wie auch Martow mit Axelrod sind die russischen Kautskyaner), nur durch Annäherung an Leute, die auf dem Boden der Zimmerwalder Linken stehen.

Zum dritten Punkt. Der wundeste Punkt ist jetzt die Schwäche der Verbindung zwischen uns und den führenden Arbeitern in Russland!! Keinerlei Korrespondenz!! Niemand außer James, und der ist jetzt auch nicht mehr da! So geht das nicht! Weder Herausgabe von Flugblättern noch Transport noch Fühlungnahme wegen Aufrufen, noch das Einsenden von Entwürfen ist möglich ohne eine geregelte konspirative Korrespondenz. Das ist die Kernfrage!

Das hat Belenin während seiner ersten Reise nicht gemacht (vielleicht konnte er es auch damals nicht). Überzeugen Sie ihn um Christi willen, dass dies während der zweiten Reise unbedingt zu machen ist! Unbedingt! An der Zahl der Verbindungen muss der nächste Erfolg der Reise gemessen werden, wirklich!! (Natürlich ist der persönliche Einfluss Belenins noch wichtiger, aber er wird sich nicht lange an einem Ort aufhalten können, ohne sich selbst zugrunde zu richten und der Sache zu schaden.) An der Zahl der Verbindungen, die in jeder Stadt hergestellt werden, wird der Erfolg der Reise gemessen!!

Mindestens zwei oder drei Verbindungen in jeder Stadt mit den führenden Arbeitern, d. h. sie selbst sollen schreiben, selbst die konspirative Korrespondenz erlernen („nicht Götter brennen Töpfe“), selbst jeder einen oder zwei „Nachfolger“ für den Fall seines Hochgehens ausbilden. Nicht das den Intellektuellen allein anvertrauen. Nicht anvertrauen. Das können und müssen die führenden Arbeiter machen. Ohne das ist es unmöglich, die Kontinuierlichkeit und Geschlossenheit der Arbeit sicherzustellen, und das ist die Hauptsache.

Das dürfte wohl alles sein.

Hinsichtlich der legalen Literatur füge ich noch hinzu: es ist wichtig klarzustellen, ob man in der „Ljetopis“ (wenn es unmöglich ist, die OK-Anhänger mittels eines Blocks mit den Machisten hinauszudrängen) meine Artikel durchlassen wird.7 Mit Einschränkungen? Welchen?

Genaueres bezüglich der „Wolna“ ist notwendig.

Über mich persönlich muss ich sagen, dass ein Verdienst nottut. Sonst krepiere ich glatt, wirklich!! Die Teuerung ist höllisch, und zum Leben gibt es nichts. Man muss Geld herauspressen (wegen Geld wird Belenin mit Katin und Gorki selbst sprechen, natürlich nur, wenn das nicht peinlich ist) aus dem Verleger des „Ljetopis“, dem zwei meiner Broschüren8 geschickt worden sind (er soll zahlen, sofort und möglichst viel!). Ebenso mit Bontsch9. Ebenso wegen Übersetzungen. Wenn das nicht zustande kommt, dann kann ich mich wirklich nicht mehr über Wasser halten, das ist mein vollster Ernst.

Ich drücke Ihre Hand, tausend beste Wünsche an Belenin, und schreiben Sie mir über den Empfang sofort – wenn auch nur zwei Worte.

Ihr Lenin

PS. Schreiben Sie offen, in welcher Stimmung Bucharin abreiste10. Wird er uns schreiben oder nicht? Wird er unsere Bitten erfüllen oder nicht? Korrespondenz ist nur möglich über Norwegen (mit Amerika): sagen Sie ihm das und richten Sie es ein.

1 „Der Entschluss Belenins über eine ,Spritztour'“ – gemeint ist der Entschluss A. Schljapnikows, der damals Vertreter des ZK der SDAPR in Russland war, aus dem Auslande wieder nach Russland zurückzukehren. Zur Zeit der Absendung des Briefes befand sich Schljapnikow in Dänemark, wohin er Ende September von einer Reise nach Amerika zurückgekehrt war. Bei der Reise durch Schweden und Finnland organisierte Schljapnikow den Transport von Propagandamaterial. In einem Brief aus Kopenhagen vom 2. Oktober teilt er mit, dass er bis zum 15. Oktober nach Russland abreisen und demgemäß Kopenhagen spätestens am 10. verlassen müsse.

2 „Die Entfernung James’“ – gemeint ist die Verhaftung von A. E. Jelisarowa in Petersburg, die eine Zeitlang die Verbindung zwischen dem ZK und den Organisationen in Russland besorgte.

3 Mit „Spanien“ meint Lenin Norwegen. Norwegen und Schweden hatten während des Krieges große Bedeutung für die Verbindung des im Auslande befindlichen Teils des ZK mit den russischen Organisationen, da Briefe und Propagandamaterial zum großen Teil über Finnland und Skandinavien gingen. Eine in Stockholm befindliche Gruppe von Bolschewiki (Bucharin, Pjatakow u. a.) unterstützte das ZK bei seiner Korrespondenz. In Skandinavien hielt sich auch Alexandra Kollontai auf (diese ist hier mit der „Frau Belenins“ gemeint), die dem ZK besonders bei der Verbindung mit den linken Gruppen in Skandinavien half.

4 Im Artikel „Ein alter Freund“ („Djelo“ Nr. 1, 1916) polemisierte Potressow gegen einen Artikel von W. Basarow und erklärte, seine Auffassungen seien ein „Rückfall in das Narodnikitum“. Basarow sei nicht eine Einzelerscheinung, sondern der Vertreter des „Maximalismus“ im russischen Marxismus. „Allerdings“ – schreibt Potressow weiter – „treten als offizielle Sprecher dieses Maximalismus andere (d. h. die Bolschewiki, Die Red.) auf“, aber auch „sie tragen ihr Teil an der Verantwortung für seine (Basarows) offenherzigen Reden.“

5 Der Artikel A. Bogdanows „Weltkrisen – friedliche und kriegerische“ erschien in Nr. 3, 4, 5 und 7 der Zeitschrift „Ljetopis“ für das Jahr 1916. In ihm kritisierte Bogdanow die herrschenden marxistischen Krisen- und Markttheorien und behandelte den Krieg als ein Elementarereignis des gleichen Charakters wie die friedlichen Produktionskrisen. Der Krieg ist nach Bogdanow „eine Krise der Überproduktion organisierter menschlicher Kraft“. Nach dem Krieg werde eine Wirtschaftskrise hereinbrechen, die sich besonders auf die zurückgebliebenen Länder auswirken werde. Die fortgeschrittenen Länder würden es verstehen, dem Zusammenbruch (d. h. der Revolution) zu entgehen, was man von den rückständigen nicht behaupten könne.

6 „Japaner“ nennt Lenin Georg Pjatakow und E. B. Bosch, die über Japan der sibirischen Verbannung entflohen waren. 1916 gaben das ZK und die „Hilfskommission für Kriegsgefangene“ in Bern (beim ZK) eine Reihe von Flugblättern heraus, betitelt: „Krieg und Teuerung“, „Die Arbeiterklasse und der Krieg“, „Die Bodenfrage in Russland“, „Schwarzhunderter und Pogromisten in Russland“. Zur gleichen Serie gehört auch die Broschüre „Wem nützt der Krieg?“ von A. Kollontai. Diese Flugblätter wurden teils in Zürich, teils in Genf in russischer Sprache gedruckt.

7 In der Zeitschrift „Ljetopis“ ist niemals ein Artikel Lenins erschienen.

8 Lenin meint folgende zwei Broschüren „Neue Daten über die ökonomische Entwicklung Amerikas“ und „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“. Die erste wurde vom Verlag „Parus“ nicht veröffentlicht.

9 „Verhandlungen mit Bontsch" – W. D. Bontsch-Brujewitsch besaß damals den Verlag „Schisn i Snanije“ („Leben und Wissen“).

10 N. I. Bucharin reiste im Oktober 1916 von Kopenhagen nach Amerika, wo er bis Mai 1917 blieb. In Amerika war damals der Boden für eine internationalistische Propaganda günstig. Vor seiner Abreise schrieb er einen Brief an Lenin (der sich jetzt im Archiv des Lenin-Instituts befindet), in dem er darlegt, dass ihm trotz der theoretischen Meinungsverschiedenheiten und der Reibungen im Zusammenhang mit der Herausgabe der Zeitschrift „Kommunistder Gedanke an einen Bruch mit Lenin fern liege Diesen Brief erhielt Lenin offenbar erst nach Absendung seines Briefes an Schljapnikow.

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