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Wladimir I. Lenin 19180305 Eine ernste Lehre und eine ernste Verantwortung

Wladimir I. Lenin: Eine ernste Lehre und eine ernste Verantwortung

[Abgefasst am 5. März 1918. „Prawda" Nr. 42, 6. März 1918. Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 22, Zürich 1934, S. 334-340]

Unsere kläglichen „Linken", die gestern mit einem eigenen Organ „Der Kommunist" (man muss hinzufügen: Kommunist der vormarxschen Epoche) hervorgetreten sind, gehen der Lehre und den Lehren der Geschichte aus dem Wege und drücken sich vor der Verantwortung.

Vergebliche Ausflüchte! Das wird ihnen nicht gelingen.

Diese Genossen machen krampfhafte Anstrengungen, füllen die Zeitungsspalten mit zahllosen Artikeln, mühen sich im Schweiße ihres Angesichts ab, sparen „nicht einmal" Druckerschwärze, um die „Theorie" von der „Atempause" als eine haltlose und schlechte „Theorie" hinzustellen.

O weh! Ihre Bemühungen sind nicht imstande, Tatsachen zu widerlegen. Tatsachen sind ein hartnäckiges Ding, wie es mit Recht in einem englischen Sprichwort heißt. Eine Tatsache ist es, dass wir seit dem 3. März, wo die Deutschen um 1 Uhr mittags die militärischen Operationen einstellten, und bis zum 5. März 7 Uhr abends, wo ich diese Zeilen schreibe, eine Atempause haben und diese zwei Tage uns bereits zunutze gemacht haben für eine wirkliche (nicht in Phrasen, sondern in Taten sich äußernde) Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes. Das ist eine Tatsache, die mit jedem Tag für die Massen immer offenkundiger werden wird. Es ist eine Tatsache, dass in dem Augenblick, wo die Frontarmee in panischem Schrecken davonläuft., die Geschütze hinwirft und es nicht einmal fertigbringt, die Brücken zu sprengen, wo die Frontarmee kampfunfähig ist, die Verteidigung des Vaterlandes und die Hebung seiner Wehrhaftigkeit nicht in dem Geschwätz vom revolutionären Krieg besteht (in einem Augenblick, wo die Armee panikartig flüchtet und die Anhänger des revolutionären Kriegs keine einzige Abteilung zurückgehalten haben, ist dieses Geschwätz einfach eine Schande), sondern in dem geordneten Rückzug zur Rettung der Überreste der Armee, zur Ausnutzung eines jeden Tages der Atempause für diesen Zweck.

Tatsachen sind ein hartnäckiges Ding!

Unsere kläglichen „Linken", die sich vor den Tatsachen, vor den Lehren, vor der Frage der Verantwortung drücken, versuchen, dem Leser die jüngste, ganz frische, historisch bedeutsame Vergangenheit zu unterschlagen und sie durch Berufung auf das längst Vergangene und Unwesentliche zu vertuschen. Um nur ein Beispiel anzuführen: Karl Radek erinnert in seinem Artikel daran, dass er im Dezember (im Dezember!) davon geschrieben habe, dass man der Armee helfen müsse, sich zu halten, dass er darüber „in einem Bericht an den Rat der Volkskommissare"1 geschrieben habe. Ich hatte nicht die Möglichkeit, den Bericht zu lesen, und ich frage mich: weshalb veröffentlicht Karl Radek nicht den vollständigen Text dieses Berichts? Weshalb erklärt er nicht klar und deutlich, was er damals unter einem „Kompromissfrieden" verstanden hat? Weshalb erinnerte er nicht an die nähere Vergangenheit, als er in der „Prawda" von seiner Illusion (der allerschlimmsten) über die Möglichkeit des Abschlusses eines Friedens mit den deutschen Imperialisten unter der Bedingung der Rückgabe Polens schrieb?2 Weshalb?

Deshalb, weil die kläglichen „Linken" gezwungen sind, die Tatsachen zu vertuschen, die ihre, der „Linken", Verantwortung für die Verbreitung der Illusionen enthüllen, die in Wirklichkeit den deutschen Imperialisten geholfen und das Wachstum und die Entwicklung der Revolution in Deutschland behindert haben.

N. Bucharin versucht jetzt sogar die Tatsache zu bestreiten, dass er und seine Freunde behauptet haben, der Deutsche werde nicht imstande sein, die Offensive aufzunehmen.3 Aber sehr, sehr viele wissen, dass es eine Tatsache ist, dass Bucharin und seine Freunde das behauptet haben, dass sie durch die Verbreitung einer solchen Illusion dem deutschen Imperialismus geholfen und das Wachstum der deutschen Revolution behindert haben, die jetzt dadurch geschwächt worden ist, dass der großrussischem Sowjetrepublik bei der panischen Flucht der Bauernarmee Tausende und aber Tausende Geschütze, Hunderte und aber Hunderte Millionen von Schätzen weggenommen worden sind. Ich habe das klar und deutlich in den Thesen vom 20. (7.) Januar vorausgesagt. Wenn N. Bucharin jetzt gezwungen ist, zu „leugnen", dann um so schlimmer für ihn. Jeder, der sich an die Worte Bucharins und seiner Freunde über die Unmöglichkeit einer Offensive der Deutschen erinnert, wird die Achseln zucken, dass N. Bucharin seine eigenen Worte leugnen musste.

Wer sich aber nicht an diese Worte erinnert, wer sie nicht gehört hat, den verweisen wir auf ein Dokument, das jetzt etwas wertvoller, interessanter und lehrreicher ist als das Geschreibsel Radeks vom Dezember. Dieses Dokument, das leider die „Linken" ihren Lesern unterschlagen haben, ist erstens das Resultat der Abstimmungen vom 3. Februar (21. Januar) 1918 in der Sitzung des ZK unserer Partei zusammen mit der jetzigen „linken" Opposition und, zweitens, der Abstimmung des ZK vom 17. Februar 1918.

Als am 3. Februar (21. Januar) 1918 die Frage aufgeworfen wurde, ob man die Verhandlungen mit den Deutschen sofort abbrechen solle, da stimmte (von den Mitarbeitern des pseudolinken „Kommunist") nur Stukow dafür. Dagegen – alle übrigen.

Als die Frage aufgeworfen wurde, ob die Unterzeichnung eines annexionistischen Friedens zulässig sei, wenn die Deutschen die Verhandlungen abbrechen oder ein Ultimatum stellen, stimmten nur Obolenski (wann werden „seine" Thesen4 veröffentlicht werden, weshalb schweigt der „Kommunist" über sie?) und Stukow dagegen. Alle übrigen stimmten dafür.

Als die Frage gestellt wurde, ob man in einem solchen Falle den angebotenen Frieden unterzeichnen müsse, stimmten nur Obolenski und Stukow dagegen, die übrigen „Linken" enthielten sich der Stimme!! Das ist eine Tatsache.

Als am 17. Februar 1918 die Frage gestellt wurde, wer für den revolutionären Krieg sei, lehnten es Bucharin und Lomow ab, „angesichts einer solchen Fragestellung an der Abstimmung teilzunehmen". Niemand stimmte dafür. Das ist eine Tatsache!

Bei der Frage, ob man „mit der Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen solange warten solle, bis die deutsche Offensive genügend (buchstäblich so!) in Erscheinung treten und ihr Einfluss auf die deutsche Arbeiterbewegung sich zeigen werde", stimmten von den jetzigen Mitarbeitern der „linken" Zeitung dafür: Bucharin, Lomow und Urizki.

In der Frage, „ob wir Frieden schließen, wenn die deutsche Offensive zur Tatsache wird, aber in Deutschland und Österreich kein revolutionärer Aufschwung einsetzt", enthielten Lomow, Bucharin und Urizki der Stimme. Tatsachen sind ein hartnäckiges Ding. Die Tatsachen aber besagen, dass Bucharin die Möglichkeit eines deutschen Vormarsches geleugnet, Illusionen gesät hat, die in Wirklichkeit gegen seinen eigenen Wunsch den deutschen Imperialisten geholfen, das Wachstum der deutschen Revolution behindert haben. Eben das ist das Wesen der revolutionären Phrase. Man will in ein bestimmtes Zimmer, gerät aber an eine falsche Tür.

N. Bucharin wirft mir vor, dass ich die Bedingungen des jetzigen Friedens nicht konkret analysiere. Es ist aber nicht schwer zu verstehen, dass das für meine Argumentation und für das Wesen der Sache absolut nicht notwendig war. Es genügte der Beweis, dass für uns nur ein einziges wirkliches, nicht zusammenphantasiertes Dilemma vorhanden war: entweder solche Bedingungen, die uns wenigstens auf einige Tage eine Atempause geben, oder die Lage Belgiens und Serbiens. Und das hat Bucharin nicht einmal für Petrograd widerlegt. Das hat sein Kollege M. N. Pokrowski zugegeben.5

Dass aber die neuen Bedingungen schlimmer, schwerer, erniedrigender sind als die schlimmen, schweren und erniedrigenden Bedingungen von Brest-Litowsk, daran tragen die Schuld gegenüber der großen Sowjetrepublik Russland unsere pseudolinken Bucharin, Lomow, Urizki und Co. Das ist eine geschichtliche Tatsache, die durch die obenerwähnten Abstimmungen bewiesen ist. Diese Tatsache kann man durch keinerlei Ausflüchte aus der Welt schaffen. Man gab euch die Friedensbedingungen von Brest-Litowsk, ihr aber habt darauf mit Phrasendreschen und Schwadronieren geantwortet und die Bedingungen verschlechtert. Das ist eine Tatsache. Und die Verantwortung dafür werdet ihr nicht von euch abwälzen können.

In meinen Thesen vom 20. (7.) Januar 1918 habe ich ganz klar vorausgesagt, dass infolge des Zustandes unserer Armee (den man mit dem Phrasendreschen „gegen" die ermüdeten Bauernmassen nicht ändern konnte) Russland einen schlechteren Separatfrieden werde schließen müssen , wenn es nicht den Frieden von Brest-Litowsk annimmt.

Die „Linken" sind der russischen Bourgeoisie in die Falle gegangen, die uns in einen Krieg treiben wollte, der für uns am allerungünstigsten ist.

Dass die „linken Sozialrevolutionäre", die für einen sofortigen Krieg waren, in einen ausgesprochenen Gegensatz zu den Bauern geraten sind, ist eine Tatsache. Und diese Tatsache ist ein Beweis für den unernsten Charakter der Politik der linken Sozialrevolutionäre, genau so wie die angeblich „revolutionäre" Politik aller Sozialrevolutionäre im Sommer 1907 keinen ernsten Charakter trug.

Dass die klassenbewusstesten und fortgeschrittensten Arbeiter sich von dem Rausch der revolutionären Phrase rasch befreien, zeigt das Beispiel Petrograds und Moskaus. In Petrograd sind die besten Arbeiterbezirke, Wiborg und Wassilij-Ostrow, bereits zur Besinnung gekommen. Der Petrograder Arbeiterrat ist nicht für einen sofortigen Krieg, er hat begriffen, dass man sich vorbereiten muss, und bereitet sich auch vor. In Moskau haben in der Stadtkonferenz der Bolschewiki vom 3. und 4. März 1918 bereits die Gegner der revolutionären Phrase gesiegt.6

Bis zu welchem ungeheuerlichen Selbstbetrug sich die „Linken" verstiegen, sieht man aus einem Satz eines Artikels von Pokrowski, in dem es heißt: „Wenn man kämpfen will, so muss man jetzt kämpfen (hervorgehoben von Pokrowski) … wo – hört, hört! – die russische Armee noch nicht demobilisiert ist, einschließlich der neugebildeten Truppenteile."

Wer über Tatsachen nicht einfach hinweggeht, der weiß, dass das größte Hindernis beim Widerstand gegen die Deutschen sowohl in Großrussland als auch in der Ukraine, als auch in Finnland im Februar 1918 unsere nicht demobilisierte Armee war. Das ist eine Tatsache. Denn es war unvermeidlich, dass sie panikartig auseinander lief und dabei die Rotarmistenabteilungen mit sich riss. Wer aus den Lehren der Geschichte lernen will, sich nicht vor der Verantwortung für diese Lehren drücken will, nicht über sie hinweggehen will, der wird sich zumindest an den Krieg Napoleons I. gegen Deutschland erinnern. Preußen und Deutschland haben mehrmals mit dem Eroberer zehnfach schwerere und erniedrigendere (als unsere) Friedensverträge abgeschlossen, mussten sogar eine ausländische Polizei dulden, mussten sogar die Verpflichtung übernehmen, ihre Truppen zur Unterstützung der Eroberungsfeldzüge Napoleons I. herzugeben. In seinen Verträgen mit Preußen peinigte und zerstückelte Napoleon I. Deutschland zehnmal mehr als Hindenburg und Wilhelm uns jetzt. Und nichtsdestoweniger fanden sich in Preußen Männer, die nicht schwadronierten, sondern die aller„schändlichsten" Friedensverträge unterzeichneten, sie unterzeichneten, weil sie keine Armee hatten, zehnfach drückendere und erniedrigendere Bedingungen unterzeichneten, sich dann aber trotzdem zum Aufstand und Krieg erhoben. Das war sieht einmal, sondern vielmal der Fall. Die Geschichte kennt mehrere solcher Friedensverträge und Kriege. Mehrere Fälle von Atempause. Mehrere neue Kriegserklärungen des Eroberers. Mehrere Fälle von Bündnissen einer unterdrückten Nation mit einer Unterdrückernation, die der Konkurrent des Eroberers und eine ebensolche Eroberernation war (zur Kenntnis der Anhänger des revolutionären Krieges" ohne Unterstützung durch die Imperialisten!).

So gestaltete sich die geschichtliche Entwicklung.

So war es. So wird es sein. Wir sind in die Epoche einer Reihe von Kriegen eingetreten. Wir gehen einem neuen vaterländischen Krieg entgegen. Wir gehen ihm entgegen in einer Zeit der heranreifenden sozialistischen Revolution. Und auf diesem schweren Wege wird das russische Proletariat und die russische Revolution sich vom Schwadronieren, von der revolutionären Phrase befreien, wird auch die allerschwersten Friedensvertrage annehmen und sich von neuem erheben.

Wir haben einen Tilsiter Frieden geschlossen. Wir gehen auch unserem Sieg, unserer Befreiung entgegen, genau so wie die Deutschen nach dem Frieden von Tilsit 1807–1810 ihre Befreiung von Napoleon in den Jahren 1813/14 erlangt haben. Der Zeitraum, der unseren Tilsiter Frieden von unserer Befreiung trennt, wird wahrscheinlich kürzer sein, denn die Geschichte marschiert schneller.

Nieder mit dem Schwadronieren! An die ernste Arbeit der Disziplin und Organisation!

1 Das „Schreiben an den Rat der Volkskommissare über den Waffenstillstand und den Kampf für den Frieden" wurde von K. Radek in einer der darauffolgenden Nummern des „Kommunist" mit der Einleitung „Zur Geschichte der Friedensverhandlungen" veröffentlicht.

2 Welchen Artikel von K. Radek Lenin hier meint, konnte nicht festgestellt werden. Karl Radek erklärte in seiner Notiz „Zur Geschichte der Friedensverhandlungen" kategorisch, dass er „niemals, weder in der ,Prawda' noch an anderer Stelle dafür eingetreten sei, Polen zu erhalten oder abzutreten". („Kommunist" Nr. 3, vom 7. März 1918).

3 Aus den im Lenin-Institut aufbewahrten Aufzeichnungen der auf der Parteikonferenz vom 20. (7.) Januar 1918 gehaltenen Reden geht hervor, dass Lenin die Rede N. Bucharins, W. Jakowlewas u. a. „Linken" meint.

4 Die „Thesen über die Frage Krieg und Frieden" wurden von W. Obolenski (Ossinski) für die erweiterte Beratung des ZK der Partei mit den Parteifunktionären vom 3. Februar (21. Januar) 1918 abgefasst. Nach dem Erscheinen des Artikels von Lenin veröffentlichte Obolenski seine „Thesen" und schickte ihnen als Einleitung den Artikel „Zur Frage Krieg und Frieden" voraus.

5 M. Pokrowski versuchte in seinem Artikel „Die deutschen Friedensbedingungen" zu beweisen, dass die Annahme der deutschen Friedensbedingungen faktisch Russland in eine Kolonie oder Halbkolonie Deutschlands verwandele.

6Der Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat nahm am 24. Februar nach einem Referat G. Sinowjews eine Resolution an, in der der Beschluss des Zentralexekutivkomitees über die Notwendigkeit des Friedensschlusses und über die Ergreifung aller notwendigen Maßnahmen zur Organisierung von Truppenteilen für den Abtransport an die Front gebilligt wurde (siehe „Prawda" Nr. 35 vom 26. Februar 1918).

Am 3. März 1918 fand eine Plenarsitzung des Moskauer Arbeiter- und Soldatenrats unter Teilnahme der Betriebsräte, der Gewerkschaften, der Bezirkssowjets, der verantwortlichen Funktionäre u. a. statt. In dieser Sitzung hielt Sinowjew das Referat, in dem er für die Unterzeichnung des Friedens eintrat. Pokrowski sprach gegen die Unterzeichnung des Friedens. Obwohl in dieser Sitzung nicht abgestimmt wurde, war die Mehrheit der Anwesenden für den Abschluss des Friedens gestimmt. Am 4. März 1918 wurde die Frage in der Sitzung des Moskauer Parteikomitees behandelt, in der die Resolution Sinowjews für die Unterzeichnung des Friedens mit 10 gegen 7 Stimmen angenommen wurde. Nachts fand eine Stadtkonferenz der Moskauer Organisation der Bolschewiki statt, in der eine Resolution angenommen wurde, die dem ZK der Partei das Vertrauen aussprach. In dieser Resolution hieß es: „Im Interesse sowohl der russischen als auch der internationalen Revolution war die Sowjetmacht verpflichtet, die Atempause auszunutzen, die ihr der in Brest-Litowsk am 3. März 1918 unterzeichnete Frieden bringen kann" („Prawda" Nr. 42 vom 6. März 1918).

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