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Wladimir I. Lenin 19190714 Über die Aufgaben der III. Internationale

Wladimir I. Lenin: Über die Aufgaben der III. Internationale

Ramsay MacDonald über die III. Internationale

[Ausgewählte Werke, Band 10. Die Kommunistische Internationale. Moskau 1937, S. 41-53]

III1

Ramsay MacDonald erklärt mit der possierlichen Naivität eines „Salon“-Sozialisten, der mit Worten herumwirft, ohne ihre ernste Bedeutung im geringsten zu verstehen und ohne im geringsten daran zu denken, dass Worte zu Taten verpflichten: in Bern wurde ein „Zugeständnis an die öffentliche Meinung der nichtsozialistischen Kreise“ gemacht.

Das ist es ja! Die ganze Berner Internationale betrachten wir als gelb, verräterisch, treubrüchig, denn ihre gesamte Politik ist ein „Zugeständnis“ an die Bourgeoisie.

Ramsay MacDonald weiß ausgezeichnet, dass wir die III. Internationale aufgebaut und mit der II. Internationale vorbehaltlos gebrochen haben, weil wir uns von ihrer Aussichtslosigkeit, von ihrer Unverbesserlichkeit, von ihrer Rolle eines Dieners des Imperialismus, eines Schrittmachers des bürgerlichen Einflusses, der bürgerlichen Lüge und der bürgerlichen Demoralisation in der Arbeiterbewegung überzeugt haben. Wenn Ramsay MacDonald in dem Wunsch, über die III. Internationale Betrachtungen anzustellen, den Kern der Sache umgeht, drum herum redet, leere Phrasen drischt und nicht davon spricht, wovon gesprochen werden muss, so ist das seine Schuld und sein Verbrechen. Denn das Proletariat braucht die Wahrheit, und nichts ist für seine Sache schädlicher als die gut aussehende, wohlanständige, spießbürgerliche Lüge.

Die Frage des Imperialismus und seines Zusammenhangs mit dem Opportunismus in der Arbeiterbewegung, mit dem Verrat an der Sache der Arbeiter durch die Arbeiterführer wurde schon vor langem, sehr langem aufgeworfen.

Marx und Engels wiesen im Laufe von vierzig Jahren, von 1852-1892, ständig auf die Verbürgerlichung der Spitzen der Arbeiterklasse Englands infolge der wirtschaftlichen Besonderheiten Englands (Kolonien, Monopol auf dem Weltmarkt usw.) hin. Marx zog sich in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts den ehrenvollen Hass der gemeinen Helden der damaligen „Berner“ internationalen Richtung, der Opportunisten und Reformisten zu, weil er viele Führer der englischen Trade Unions als Leute brandmarkte, die sich an die Bourgeoisie verkauft haben oder von der Bourgeoisie für die Dienstleistungen an ihre Klasse, die sie ihr innerhalb der Arbeiterbewegung erwiesen, bezahlt werden.

Während des Krieges zwischen England und den Buren hat die angelsächsische Presse die Frage des Imperialismus als des jüngsten (und letzten) Stadiums des Kapitalismus bereits ganz klar gestellt. Lässt mich mein Gedächtnis nicht im Stich, so verließ damals kein anderer als Ramsay MacDonald die „Gesellschaft der Fabier“, dieses Urbild der „Berner“ Internationale, diesen Keimboden und dieses Musterbeispiel des Opportunismus, das Engels im Briefwechsel mit Sorge mit genialer Kraft, Klarheit und Wahrhaftigkeit charakterisiert hat. „Fabianischer Imperialismus“ – dieser Ausdruck war damals in der englischen sozialistischen Literatur gang und gäbe.

Wenn Ramsay MacDonald dies vergessen hat, um so schlimmer für ihn.

Fabianischer Imperialismus“ und „Sozialimperialismus“, das ist ein und dasselbe: Sozialismus in Worten, Imperialismus in der Tat. Hinüberwachsen des Opportunismus in den Imperialismus. Diese Erscheinung wurde jetzt, während des Krieges 1914-1918 und nachher, zu einer internationalen Tatsache. Das Nichtverstehen dieser Tatsache ist die größte Blindheit der „Berner“, der gelben Internationale und ihr größtes Verbrechen. Der Opportunismus oder Reformismus musste unvermeidlich in den sozialistischen Imperialismus oder Sozialchauvinismus hinüberwachsen, der von welthistorischer Bedeutung ist; denn der Imperialismus sonderte eine Handvoll überreicher, vorgeschrittener Nationen aus, die die ganze Welt ausplündern, und gestattete dadurch der Bourgeoisie dieser Länder, aus ihren monopolistischen Extraprofiten (Imperialismus ist monopolistischer Kapitalismus) die Spitzen der Arbeiterklasse dieser Länder zu bestechen.

Die wirtschaftliche Zwangsläufigkeit dieser Tatsache unter dem Imperialismus können nur vollständig unwissende Menschen oder Heuchler nicht sehen, die die Arbeiter dadurch betrügen, dass sie Gemeinplätze über den Kapitalismus wiederholen und auf diese Weise die bittere Wahrheit über den Übergang einer ganzen Strömung innerhalb des Sozialismus auf die Seite der imperialistischen Bourgeoisie verdecken.

Aus dieser Tatsache aber ergeben sich zwei unstrittige Schlussfolgerungen:

Erste Schlussfolgerung: Die „Berner“ Internationale ist faktisch, ihrer wirklichen historischen und politischen Rolle nach, unabhängig vom guten Willen und den frommen Wünschen dieser oder jener ihrer Mitglieder, eine Organisation der Agenten des internationalen Imperialismus, die innerhalb der Arbeiterbewegung tätig sind, in ihr den bürgerlichen Einfluss, die bürgerlichen Ideen, die bürgerliche Lüge und die bürgerliche Demoralisation zur Geltung bringen.

In den Ländern mit alter demokratisch-parlamentarischer Kultur erlernte es die Bourgeoisie ausgezeichnet, nicht nur Gewalt sondern auch Betrug, Bestechung und Schmeicheleien, bis zu den raffiniertesten Formen dieser Methoden, anzuwenden. Die „Frühstücke“ der englischen „Arbeiterführer“ (d. h. der Sachwalter der Bourgeoisie bei der Beschwindelung der Arbeiter) haben nicht umsonst Berühmtheit erlangt, von ihnen sprach schon Engels. Derselben Art sind auch der „berückende“ Empfang des Sozialverräters Merrheim durch Herrn Clemenceau, die liebenswürdigen Empfänge der Führer der „Berner“ Internationale durch die Ententeminister usw. u. dgl. m. „Ihr unterrichtet sie, und wir kaufen sie“, sagte eine kluge englische Kapitalistin dem Sozialimperialisten Herrn Hyndman, der in seinen Erinnerungen erzählt, wie diese Dame – die scharfsinniger war als alle Führer der „Berner“ Internationale zusammengenommen – die „Arbeit“ der sozialistischen Intellektuellen an der Heranbildung von sozialistischen Führern aus den Reihen der Arbeiter einschätzte.

Während des Krieges, als die Vandervelde, Branting und diese ganze Verräterbande „internationale“ Konferenzen veranstalteten, lachten die französischen bürgerlichen Blätter sehr giftig und sehr richtig: „Diese Vandervelde haben so etwas wie ein Gesichtszucken. Ebenso wie Leute, die an Gesichtszucken leiden, nicht zwei Sätze hervorbringen können, ohne eigenartig mit den Gesichtsinuskeln zu zucken, können auch die Vandervelde nicht politisch auftreten, ohne papagaienhaft die Worte: Internationalismus, Sozialismus, internationale Solidarität der Arbeiter, Revolution des Proletariats usw. herzusagen. Mögen sie beliebige sakramentale Formeln hersagen, wenn sie nur helfen, die Arbeiter an der Nase herumzuführen, wenn sie nur uns, den Kapitalisten, bei der Führung des imperialistischen Krieges und bei der Unterjochung der Arbeiter dienen.“

Die englischen und französischen Bourgeois sind manchmal sehr klug, und sie schätzen die Lakaienrolle der „Berner“ Internationale ausgezeichnet ein.

Martow schrieb irgendwo: „Ihr Bolschewiki schmäht die Berner Internationale, aber in ihr ist doch ,euer‘ Freund Loriot.“

Das ist der Beweisgrund eines Gauners. Denn allen ist bekannt, dass Loriot offen, ehrlich, heldenhaft für die III. Internationale kämpft. Als Subatow im Jahre 1002 in Moskau Arbeiterversammlungen veranstaltete, um die Arbeiter mit dem „Polizeisozialismus" zu foppen, ging der Arbeiter Babuschkin – den ich seit dem Jahre 1894 kannte, als er in meinem Arbeiterzirkel in Petersburg war, einer der besten, ergebensten Arbeiter von der „Iskra“-Richtung, die die Führer des revolutionären Proletariats waren – der im Jahre 1906 von Rennenkampf in Sibirien erschossen worden ist, in die Subatow-Versammlungen, um gegen die Subatowiade zu kämpfen und die Arbeiter aus ihren Krallen wegzufangen. Babuschkin war ebensowenig ein „Subatowscher“ als Loriot ein „Berner“ ist.

IV

Zweite Schlussfolgerung: Die III., die Kommunistische Internationale wurde eben zu dem Zweck gegründet, um es den „Sozialisten“ nicht zu gestatten, mit jenem Lippenbekenntnis zur Revolution davonzukommen, für das Ramsay MacDonald in seinem Artikel Musterbeispiele bietet. Das Lippenbekenntnis zur Revolution, das in Wirklichkeit eine durch und durch opportunistische, reformistische, nationalistische, kleinbürgerliche Politik bemäntelte, war die Hauptsünde der II. Internationale, und gegen dieses Übel führen wir einen Krieg auf Leben und Tod.

Wenn man sagt: die II. Internationale ist tot, da sie einen schmählichen Bankrott erlitten hat, so muss man dies verstehen können. Das bedeutet: bankrott und tot ist der Opportunismus, der Reformismus, der kleinbürgerliche Sozialismus. Denn die II. Internationale hat sich ein historisches Verdienst erworben, sie weist eine Errungenschaft εὶς ἁεί (für immer) auf, die der klassenbewusste Arbeiter niemals preisgeben wird, nämlich die Schaffung von Massenorganisationen der Arbeiter, von genossenschaftlichen, gewerkschaftlichen und politischen Organisationen, die Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus sowie aller Einrichtungen der bürgerlichen Demokratie überhaupt u. a. m.

Um den Opportunismus, der den schmählichen Tod der II. Internationale herbeigeführt hat, wirklich zu besiegen, um wirklich der Revolution zu helfen, deren Herannahen anzuerkennen sogar Rainsay MacDonald gezwungen ist, muss man:

Erstens die gesamte Propaganda und Agitation vom Gesichtspunkt der Revolution aus, im Gegensatz zu den Reformen, betreiben und dabei diesen Gegensatz sowohl theoretisch als auch praktisch den Massen bei jedem Schritt auf dem Gebiet der parlamentarischen, gewerkschaftlichen, genossenschaftlichen usw. Arbeit systematisch klarmachen. In keinem Fall darf man (abgesehen von besonderen Fällen, die als Ausnahmen erscheinen) auf die Ausnutzung des Parlamentarismus und aller „Freiheiten“ der bürgerlichen Demokratie verzichten; auch darf man nicht auf Reformen verzichten, die jedoch nur als ein Nebenresultat des revolutionären Klassenkampfes des Proletariats betrachtet werden dürfen. Keine Partei der „Berner“ Internationale entspricht dieser Forderung. Keine zeigt auch nur Verständnis dafür, wie die gesamte Propaganda und Agitation betrieben, wie dabei der Unterschied zwischen Reformen und Revolution erklärt werden muss und wie sowohl die Partei als auch die Massen unablässig zur Revolution erzogen werden müssen.

Zweitens muss man die legale Arbeit mit der illegalen verbinden. Das haben die Bolschewiki immer und besonders beharrlich während des Krieges 1914-1918 gelehrt. Darüber lachten die Helden des niederträchtigen Opportunismus, die selbstzufrieden die „Gesetzlichkeit“, „Demokratie“, „Freiheit“ der westeuropäischen Länder, der Republik usw. priesen. Jetzt können nur noch ausgesprochene Gauner, die die Arbeiter mit Phrasen betrügen, bestreiten, dass die Bolschewiki recht behalten haben.

Es gibt kein Land in der Welt, möge es die fortgeschrittenste und „freieste“ der bürgerlichen Republiken sein, wo nicht der Terror der Bourgeoisie herrscht, wo die Freiheit der Agitation für die sozialistische Revolution, der Propaganda und der Organisationsarbeit eben in dieser Richtung nicht verboten wird. Eine Partei, die dies unter der Herrschaft der Bourgeoisie bisher nicht zugegeben hat und keine systematische, allseitige illegale Arbeit, den Gesetzen der Bourgeoisie und der bürgerlichen Parlamente zum Trotz leistet, ist eine Partei von Verrätern und Schurken, die durch das Lippenbekenntnis zur Revolution das Volk betrügt. Solche Parteien gehören in die gelbe, die „Berner“ Internationale. In der Kommunistischen Internationale wird es sie nicht geben.

Drittens ist ein unentwegter und unversöhnlicher Kampf notwendig, um diejenigen opportunistischen Führer, die sowohl vor dem Kriege als auch besonders während des Krieges, sowohl in der Politik als auch insbesondere in den Gewerkschaften und in den Genossenschaften ihr wahres Gesicht gezeigt haben, aus der Arbeiterbewegung ganz hinauszujagen. Die „Neutralitäts“-Theorie ist eine verlogene und niederträchtige Finte, die der Bourgeoisie in den Jahren 1914-1918 geholfen hat, die Massen zu erobern. Parteien, die in Worten für die Revolution eintreten, in Wirklichkeit aber keine unentwegte Arbeit leisten für den Einfluss gerade der revolutionären und nur der revolutionären Partei in allen und jedweden Massenorganisationen der Arbeiterschaft, sind Parteien von Verrätern.

Viertens darf man sich nicht damit abfinden, dass sie in Worten den Imperialismus verurteilen, in der Tat aber keinen revolutionären Kampf für die Befreiung der Kolonien (und der abhängigen Völker) von der eigenen imperialistischen Bourgeoisie führen. Das ist Heuchelei. Das ist die Politik von Agenten der Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung (labour lieutenants of the capitalist dass). Jene Parteien in England, Frankreich, Holland, Belgien usw., die dem Imperialismus in Worten feindselig gegenüberstehen, in Wirklichkeit jedoch in „ihren“ Kolonien keinen revolutionären Kampf zum Sturz „ihrer“ Bourgeoisie führen, die überall bereits begonnene revolutionäre Arbeit in den Kolonien nicht systematisch unterstützen, in die Kolonien keine Waffen und keine Literatur für die revolutionären Parteien einführen, sind Parteien von Schurken und Verrätern.

Fünftens ist die größte Heuchelei die für die Parteien der „Berner“ Internationale typische Erscheinung: die Revolution in Worten anerkennen und vor den Arbeitern mit üppigen Phrasen über die Anerkennung der Revolution paradieren, in Wirklichkeit aber eine rein reformistische Stellung zu den Ansätzen, Keimen, Anzeichen des Wachstums der Revolution einnehmen, wie es allerlei Aktionen der die bürgerlichen Gesetze durchbrechenden, jedwede Legalität überschreitenden Massen sind, z. B. Massenstreiks, Straßendemonstrationen, Soldatenproteste, Versammlungen in der Armee, Verbreitung von Flugschriften in den Kasernen und Militärlagern usw.

Fragt man irgendeinen Helden der „Berner“ Internationale, ob seine Partei eine solche systematische Arbeit leistet, so wird er entweder mit ausweichenden Phrasen antworten, die das Fehlen einer solchen Arbeit bemänteln: es seien keine Organisationen und kein Apparat für sie vorhanden, seine Partei sei unfähig, diese Arbeit zu leisten; oder aber er wird mit einer Deklamation gegen den „Putschismus“, „Anarchismus“ u. dgl. antworten. Darin besteht eben der Verrat an der Arbeiterklasse durch die Berner Internationale, ihr faktischer Übergang ins Lager der Bourgeoisie.

Alle diese Schurken von Führern der Berner Internationale bemühen sich außergewöhnlich, um ihre „Sympathien“ für die Revolution im Allgemeinen und für die russische Revolution im Besonderen kundzutun. Aber nur Heuchler oder Dummköpfe bringen es fertig nicht zu begreifen, dass die überaus raschen Erfolge der Revolution in Russland mit der langjährigen Arbeit der revolutionären Partei in der erwähnten Richtung verbunden sind: Jahre hindurch wurde an der Schaffung eines systematischen illegalen Apparates zur Leitung der Demonstrationen und Streiks, für die Arbeit in der Armee gearbeitet, jahrelang wurden die Arbeitsmethoden eingehend studiert, wurde eine illegale Literatur geschaffen, die die Bilanz der Erfahrungen zog und die ganze Partei im Gedanken an die Notwendigkeit der Revolution erzog, wurden Führer der Massen für derartige Fälle herangebildet usw. usf.

V

Die tiefgehendsten, hauptsächlichsten Meinungsverschiedenheiten, die alles oben Gesagte zusammenfassen und die Unvermeidlichkeit des unversöhnlichen theoretischen und praktisch-politischen Kampfes des revolutionären Proletariats gegen die „Berner“ Internationale klarmachen, bestehen in den Fragen der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg und der Diktatur des Proletariats.

Dass die „Berner“ Internationale der bürgerlichen Ideologie verfallen ist, äußert sich am meisten darin, dass sie, da sie den imperialistischen Charakter des Krieges von 1914-1918 nicht begriff (oder: nicht begreifen wollte, oder: so tat, als ob sie ihn nicht begriffe), auch die Unabwendbarkeit seiner Umwandlung in den Bürgerkrieg zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie aller vorgeschrittenen Länder nicht begriff.

Als die Bolschewiki im November 1914 auf diese Unabwendbarkeit hinwiesen, antworteten die Philister aller Länder mit stumpfsinnigen Spötteleien, und zu diesen Philistern gehörten auch alle Führer der „Berner“ Internationale. Jetzt ist die Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg in einer ganzen Reihe von Ländern zur Tatsache geworden, nicht nur in Russland, sondern auch in Finnland, in Ungarn, in Deutschland, sogar in der neutralen Schweiz, und das Anwachsen des Bürgerkrieges ist in allen vorgeschrittenen Ländern ohne Ausnahme wahrnehmbar, fühlbar, greifbar.

Diese Frage jetzt mit Schweigen zu umgehen (wie es Ramsay MacDonald tut), oder aber über den unvermeidlichen Bürgerkrieg mit süßlichen Versöhnungsphrasen hinwegzugehen (wie es die Herren Kautsky und Komp. tun), ist gleichbedeutend mit direktem Verrat am Proletariat, ist gleichbedeutend mit dem tatsächlichen Übergang auf die Seite der Bourgeoisie. Denn die wirklichen politischen Führer der Bourgeoisie haben schon längst die Unvermeidlichkeit des Bürgerkriegs begriffen und betreiben ausgezeichnet, durchdacht, systematisch seine Vorbereitung, die Befestigung ihrer Positionen für ihn.

Die Bourgeoisie der ganzen Welt strengt alle ihre Kräfte an, wendet ungeheure Energie, Geist, Entschlossenheit auf, macht vor keinem Verbrechen halt, verurteilt ganze Länder zum Hunger und zur vollständigen Ausrottung, um die Unterdrückung des Proletariats im herannahenden Bürgerkrieg vorzubereiten. Die Helden der „Berner“ Internationale aber singen wie Narren oder heuchlerische Pfaffen oder pedantische Professoren das alte, abgenutzte, abgedroschene reformistische Liedchen! Es gibt keinen widerwärtigeren, keinen ekelerregenderen Anblick!

Die Kautsky und MacDonald fahren fort, die Kapitalisten mit der Revolution zu schrecken, der Bourgeoisie mit dem Bürgerkrieg Schreck einzujagen, um von ihr Zugeständnisse, die Zustimmung zum reformistischen Weg zu erlangen. Darauf laufen alle Schreibereien, läuft die ganze Philosophie, die ganze Politik der ganzen „Berner“ Internationale hinaus.

Diese jämmerliche Lakaienmanier beobachteten wir in Russland im Jahre 1905 bei den Liberalen (den Kadetten), in den Jahren 1917-1919 bei den Menschewiki und den „Sozialrevolutionären“. Dass man die Massen im Bewusstsein der Unvermeidlichkeit und Notwendigkeit, die Bourgeoisie im Bürgerkrieg zu besiegen, zu erziehen hat, dass man die gesamte Politik unter dem Gesichtspunkt dieses Zieles zu betreiben und alle Fragen von diesem und nur von diesem Gesichtspunkt aus zu beleuchten, zu stellen und zu lösen hat – daran denken die Lakaienseelen der „Berner“ Internationale gar nicht. Und daher muss unser Ziel nur darin bestehen, die unverbesserlichen Reformisten, d. h. neun Zehntel der Führer der Berner Internationale endgültig in die Kehrrichtgrube der Handlanger der Bourgeoisie zu stoßen.

Die Bourgeoisie braucht solche Handlanger, denen ein Teil der Arbeiterklasse vertraut und die die Bourgeoisie mit Redereien über die Möglichkeit des reformistischen Weges aufputzen und herausstreichen, dem Volk mit solchen Redereien Sand in die Augen streuen, das Volk durch Ausmalen der Reize und Möglichkeiten des reformistischen Weges von der Revolution ablenken.

Alle Schriften Kautskys sowie unserer Menschewiki und Sozialrevolutionäre laufen auf ein solches Ausmalen hinaus und sind nichts anderes als das Geflenne des feigen Spießbürgers, der vor der Revolution Angst hat.

Hier haben wir keine Möglichkeit, eingehend zu wiederholen, welche wirtschaftlichen Hauptursachen eben den revolutionären und nur den revolutionären Weg unvermeidlich gemacht und jede andere Lösung der von der Geschichte auf die Tagesordnung gestellten Fragen als die durch den Bürgerkrieg unmöglich gemacht haben. Darüber müssen und darüber werden Bände geschrieben werden. Wenn die Herren Kautsky und die anderen Führer der „Berner“ Internationale dies nicht begriffen haben, so kann man nur sagen: die Unwissenheit ist von der Wahrheit weniger entfernt als das Vorurteil.

Denn unwissende, aber aufrichtige arbeitende Menschen und Anhänger der Werktätigen begreifen jetzt, nach dem Kriege, die Unvermeidlichkeit der Revolution, des Bürgerkrieges und der Diktatur des Proletariats leichter als die mit den gelehrtesten reformistischen Vorurteilen vollgestopften Herren Kautsky, MacDonald, Vandervelde, Branting, Turati und tutti quanti2.

Als eine der besonders anschaulichen Bestätigungen der überall wahrnehmbaren Massenerscheinung des Wachstums des revolutionären Bewusstseins in den Massen können die Romane von Henri Barbusse, „Le feu“ (Das Feuer) und „Clarté“ (Klarheit), angesehen werden. Der erstgenannte Roman wurde bereits in alle Sprachen übersetzt und in Frankreich in 230.000 Exemplaren verbreitet. Die Umwandlung eines vollständig unwissenden, gänzlich von Ideen und Vorurteilen erdrückten Spießbürgers und Massenmenschen in einen Revolutionär eben unter dem Einfluss des Krieges wird hier ungewöhnlich kräftig, talentvoll und wahrheitsgetreu geschildert.

Die Massen der Proletarier und Halbproletarier sind für uns und gehen täglich, ja stündlich immer mehr zu uns über. Die „Berner“ Internationale ist ein Stab ohne Armee, der wie ein Kartenhaus zusammenfallen wird, sobald er vor den Massen restlos demaskiert wird.

Der Name Karl Liebknechts wurde während des Krieges von der gesamten bürgerlichen Presse der Entente benutzt, um die Massen zu betrügen, um die Räuber und Plünderer des französischen und englischen Imperialismus als mit diesem Helden, diesem „einzigen ehrlichen Deutschen“, wie sie sagten, sympathisierend hinzustellen.

Jetzt sitzen die Helden der Berner Internationale in einer Organisation mit den Scheidemännern, die die Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs anzettelten, mit den Scheidemännem, die die Rolle der Henker aus den Arbeiterreihen gespielt haben und die der Bourgeoisie Henkersdienste leisten. In Worten heuchlerische Versuche, die Scheidemänner zu „verurteilen“ (als ob sich die Sache mit der „Verurteilung“ änderte!), in der Tat das Verbleiben in einer Organisation mit den Mördern.

Der verstorbene Harry Quelch wurde im Jahre 1907 von der deutschen Regierung aus Stuttgart ausgewiesen, weil er eine Tagung der europäischen Diplomaten eine „Diebesversammlurig“ genannt hatte. Die Führer der „Berner“ Internationale sind nicht nur eine Versammlung von Dieben sondern eine Versammlung niederträchtiger Mörder.

Dem Gericht der revolutionären Arbeiter werden sie nicht entgehen.

VI

Über die Frage der Diktatur des Proletariats geht Ramsay MacDonald mit ein paar Worten hinweg, als sei das ein Gegenstand zur Diskussion über Freiheit und Demokratie.

Nein. Es ist Zeit zu handeln. Für Diskussionen ist es zu spät.

Das Gefährlichste an der „Berner“ Internationale ist das Lippenbekenntnis zur Diktatur des Proletariats. Diese Leute sind imstande, alles anzuerkennen, alles zu unterschreiben, nur um an der Spitze der Arbeiterbewegung zu bleiben. Kautsky sagt schon jetzt, er sei nicht gegen die Diktatur des Proletariats! Die französischen Sozialchauvinisten und „Zentristen“ setzen ihre Unterschrift unter eine Resolution für die Diktatur des Proletariats!

Vertrauen verdienen sie nicht für einen Pfennig.

Notwendig ist nicht ein Lippenbekenntnis sondern der völlige wirkliche Bruch mit der Politik des Reformismus, mit den Vorurteilen über bürgerliche Freiheit und bürgerliche Demokratie, notwendig ist die wirkliche Durchführung der Politik des revolutionären Klassenkampfes.

Sie versuchen, die Diktatur des Proletariats in Worten anzuerkennen, um neben ihr insgeheim den „Willen der Mehrheit“, die „allgemeine Abstimmung“ (wie es Kautsky tut), den bürgerlichen Parlamentarismus, den Verzicht auf die völlige Vernichtung, Zertrümmerung, das völlige Zerbrechen des gesamten bürgerlichen Staatsapparates durchzuschmuggeln. Diese neuen Ausflüchte, diese neuen Schlupflöcher des Reformismus muss man am meisten fürchten.

Die Diktatur des Proletariats wäre unmöglich, wenn die Mehrheit der Bevölkerung nicht aus Proletariern und Halbproletariern bestünde. Diese Wahrheit versuchen die Kautsky und Komp. in der Weise zu fälschen, dass sie behaupten, es wäre „eine Abstimmung der Mehrheit" notwendig, um die Diktatur des Proletariats als „richtig“ anzuerkennen.

Komische Pedanten! Sie haben nicht begriffen, dass die Abstimmung im Rahmen, in den Institutionen, unter den Gepflogenheiten des bürgerlichen Parlamentarismus einen Teil des bürgerlichen Staatsapparates darstellt, den man von oben bis unten zertrümmern und zerbrechen muss, um die Diktatur des Proletariats zu verwirklichen, um von der bürgerlichen Demokratie zur proletarischen Demokratie überzugehen.

Sie haben nicht begriffen, dass in dem Augenblick, wo von der Geschichte die Diktatur des Proletariats auf die Tagesordnung gestellt wird, alle wichtigen Fragen der Politik überhaupt nicht durch Abstimmungen sondern durch den Bürgerkrieg entschieden werden.

Sie haben nicht begriffen, dass die Diktatur des Proletariats die Macht einer Klasse ist, die den ganzen Apparat des neuen Staatswesens in ihre Hände nimmt, die Bourgeoisie besiegt und die ganze Kleinbourgeoisie, die Bauernschaft, das Spießbürgertum, die Intelligenz neutralisiert.

Die Kautsky und MacDonald anerkennen in Worten den Klassenkampf, um ihn im entscheidendsten Augenblick der Geschichte, des Kampfes für die Befreiung des Proletariats in Wirklichkeit zu vergessen: in dem Augenblick, wo das Proletariat nach Ergreifung der Staatsmacht, unterstützt vom Halbprolelariat, mit Hilfe dieser Macht den Klassenkampf fortsetzt und bis zur Aufhebung der Klassen führt.

Als richtige Philister wiederholen die Führer der „Berner“ Internationale die bürgerlich-demokratischen Redensarten über Freiheit, Gleichheit und Demokratie, ohne zu sehen, dass sie Bruchstücke der Ideen über den freien und gleichberechtigten Warenbesitzer wiederholen, ohne zu verstehen, dass das Proletariat den Staat nicht wegen der „Freiheit“ sondern zur Unterdrückung seines Feindes, des Ausbeuters, des Kapitalisten, braucht.

Die Freiheit und Gleichheit des Warenbesitzers sind gestorben, so wie der Kapitalismus gestorben ist. Die Kautsky und MacDonald werden ihn nicht wieder zum Leben bringen.

Das Proletariat braucht die Aufhebung der Klassen – das ist der reale Inhalt der proletarischen Demokratie, der proletarischen Freiheit (der Freiheit vom Kapitalisten, vom Warenaustausch), der proletarischen Gleichheit (nicht der Gleichheit der Klassen – diese Plattheit behaupten die Kautsky Vandervelde und MacDonald – sondern der Gleichheit der Werktätigen, die das Kapital und den Kapitalismus stürzen).

Solange Klassen bestehen, sind Freiheit und Gleichheit der Klassen bürgerlicher Betrug. Das Proletariat ergreift die Macht, wird zur herrschenden Klasse, zertrümmert den bürgerlichen Parlamentarismus und die bürgerliche Demokratie, unterdrückt die Bourgeoisie, unterdrückt alle Versuche aller anderen Klassen, zum Kapitalismus zurückzukehren; es gibt den Werktätigen wirkliche Freiheit und Gleichheit (was nur bei Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln verwirklicht werden kann), gibt ihnen nicht nur „Rechte“ sondern die reale Nutzung dessen, was der Bourgeoisie weggenommen worden ist.

Wer diesen Inhalt der Diktatur des Proletariats (oder, was dasselbe ist, der Sowjetmacht oder der proletarischen Demokratie) nicht begriffen hat, der wird dieses Wort vergebens im Munde führen.

Ich kann hier diese Gedanken, die ich in „Staat und Revolution und in der Broschüre „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“ ausgeführt habe, nicht eingehender entwickeln. Ich kann damit schließen, dass ich diese Bemerkungen den Delegierten zum Luzerner Kongress der Berner Internationale vom 10. August 1919 widme.

14. Juli 1919

1 Hier werden nur die Kapitel III, IV, V und VI abgedruckt; ganz ist diese Arbeit in Bd. XXIV, russ., der Sämtl. Werke enthalten. Die Red.

2 tutti quanti = wie sie alle heißen. Die Red.

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