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Wladimir I. Lenin 19210119 Die Krise der Partei

Wladimir I. Lenin: Die Krise der Partei

[Geschrieben am 19. Januar 1921. Veröffentlicht am 21. Januar 1921 in der „Prawda“ Nr. 13. Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 26, Moskau 1940, S. 103-114]

Die Diskussion zum Parteitag hat schon ziemlich breiten Umfang angenommen. Aus kleinen Differenzen und Meinungsverschiedenheiten sind große geworden, wie es immer zu sein pflegt, wenn man auf einem kleinen Fehler beharrt und sich aus allen Kräften gegen dessen Korrektur wehrt, oder wenn an den kleinen Fehler eines Einzelnen oder mehrerer sich Leute klammern, die einen großen Fehler begehen.

So wachsen stets Meinungsverschiedenheiten und Spaltungen. So sind auch wir von kleinen Meinungsverschiedenheiten zum Syndikalismus „emporgewachsen“, der den völligen Bruch mit dem Kommunismus und die unvermeidliche Spaltung der Partei bedeutet, falls die Partei sich nicht als gesund und stark genug erweisen sollte, um sich von dieser Krankheit rasch und gründlich zu heilen.

Man muss den Mut haben, der bitteren Wahrheit direkt ins Gesicht zu schauen. Die Partei ist krank. Die Partei wird vom Fieber geschüttelt. Die ganze Frage besteht darin, ob die Krankheit nur die „fiebernden Spitzen“, und auch da vielleicht ausschließlich die Moskauer, erfasst hat, oder ob der ganze Organismus von der Krankheit ergriffen ist. Und in diesem Fall, ob dieser Organismus fähig ist, in wenigen Wochen (bis zum Parteitag und auf dem Parteitag) vollständig zu gesunden und einen Rückfall in die Krankheit unmöglich zu machen, oder ob die Krankheit langwierig und gefährlich wird.

Was muss getan werden, um eine möglichst rasche und möglichst sichere Heilung zu erreichen? Es ist notwendig, dass alle Mitglieder der Partei ganz kaltblütig und mit größter Sorgfalt darangehen, erstens das Wesen der Meinungsverschiedenheiten und zweitens die Entwicklung des Kampfes in der Partei zu studieren. Sowohl das eine wie das andere tut Not, denn das Wesen der Meinungsverschiedenheiten entfaltet sich, klärt sich, wird konkretisiert (und sehr häufig auch modifiziert) im Verlaufe des Kampfes, der, verschiedene Etappen durchlaufend, stets in jeder Etappe nicht den gleichen Bestand und die gleiche Zahl der Kämpfenden, nicht die gleichen Positionen im Kampfe usw. aufweist. Man muss das eine wie das andere studieren und dabei unbedingt möglichst genaue, gedruckte, der Nachprüfung von allen Seiten zugängliche Dokumente fordern. Wer aufs Wort glaubt, ist ein hoffnungsloser Idiot, den man mit einer Handbewegung abtut. Liegen keine Dokumente vor, so muss ein Verhör von Zeugen beider oder mehrerer Parteien erfolgen, und zwar unbedingt ein „peinliches Verhör“, und zwar vor Zeugen.

Ich will versuchen, eine Skizze meiner Auffassung sowohl über das Wesen der Meinungsverschiedenheiten als auch über den Wechsel der Etappen des Kampfes zu entwerfen.

1. Etappe. Die 5. Allrussische Gewerkschaftskonferenz vom 2. bis 6. November. Der Kampf entspinnt sich. Die einzigen „Kämpfer“ unter den Mitgliedern des Zentralkomitees sind Trotzki und Tomski. Trotzki prägte das „geflügelte Wort“ vom „Durchrütteln“ der Gewerkschaften. Tomski polemisierte heftig. Die Mehrheit der ZK-Mitglieder sieht zu. Ihr ungeheurer Fehler (und der meine in erster Linie) war, dass wir die von der 5. Konferenz angenommenen Thesen von Rudsutak über die „Produktionsaufgaben der Gewerkschaften“ „übersehen“ haben. Das ist das allerwichtigste Dokument in dem ganzen Streit.

2. Etappe. ZK-Plenum am 9. November. Trotzki legt den „Rohentwurf der Thesen“: „Die Gewerkschaften und ihre fernere Rolle“ vor, wo die Politik des „Durchrüttelns“ vertreten wird, bemäntelt oder beschönigt durch Betrachtungen über die „schlimmste Krise“ der Gewerkschaften und über neue Aufgaben und Methoden. Tomski, von Lenin nachdrücklich unterstützt, hält für den Schwerpunkt der Streitigkeiten gerade das „Durchrütteln“, im Zusammenhang mit den Unrichtigkeiten und den bürokratischen Übertreibungen im Zektran. Dabei entschlüpfen Lenin in der Polemik einige offensichtlich übertriebene und deshalb falsche „Ausfälle“, so dass die Notwendigkeit einer „Puffergruppe“ entsteht, die sich auch aus zehn ZK-Mitgliedem bildet (ihr gehören sowohl Bucharin als auch Sinowjew an, aber weder Trotzki noch Lenin). Der „Puffer“ beschließt, „die Meinungsverschiedenheiten nicht in einer breiten Diskussion auszutragen“ und bestimmt, indem er das Referat von Lenin (bei den Gewerkschaften) absetzt, als Referenten Sinowjew, dem vorgeschrieben wird, „ein sachliches, nicht polemisches Referat zu halten“.

Die Thesen Trotzkis sind abgelehnt. Angenommen sind die Thesen Lenins. In endgültiger Form geht die Resolution mit 10 Stimmen gegen 4 (Trotzki, Andrejew, Krestinski, Rykow) durch. Auch in dieser Resolution werden die „gesunden Formen der Militarisierung der Arbeit“ verteidigt; verurteilt wird die „Ausartung des Zentralismus und der militarisierten Formen der Arbeit in Bürokratismus, Eigendünkel, Formalismus“ usw. Das Zektran wird angewiesen, „tätigeren Anteil zu nehmen an der allgemeinen Arbeit des Allrussischen Zentralrats der Gewerkschaften, dem es mit den gleichen Rechten wie die anderen Gewerkschaftsvereinigungen angehören soll“.

Das Zentralkomitee wählt eine Gewerkschaftskommission, in die auch Genosse Trotzki gewählt wird. Trotzki weigert sich, in dieser Kommission zu arbeiten, und erst durch diesen Schritt erfährt der ursprüngliche Fehler des Genossen Trotzki eine Überspannung, die im weiteren zur Fraktionsmacherei führt. Ohne diesen Schritt wäre der Fehler des Genossen Trotzki (die Einbringung unrichtiger Thesen) ganz gering, von der Art, wie er allen ZK-Mitgliedern ohne jede Ausnahme wohl schon unterlaufen ist.

3. Etappe. Der Konflikt der Schifffahrtsarbeiter mit dem Zektran im Dezember. Das ZK-Plenum am 7. Dezember. Die Haupt„kämpfer“ sind nicht mehr Trotzki und Lenin, sondern Trotzki und Sinowjew. Sinowjew hat als Vorsitzender der Gewerkschaftskommission den Konflikt der Schifffahrtsarbeiter mit dem Zektran im Dezember untersucht. ZK-Plenum am 7. Dezember. Sinowjew stellt den praktischen Antrag, unverzüglich die Zusammensetzung des Zektran zu ändern. Die Mehrheit des ZK spricht sich dagegen aus. Rykow geht auf die Seite Sinowjews über. Angenommen wird die Resolution Bucharins, die sich in ihrem praktischen Teil zu drei Vierteln für die Schifffahrtsarbeiter ausspricht, in der Einleitung aber, unter Ablehnung der „Umgestaltung der Gewerkschaften von oben“ (Paragraph 3), die berüchtigte „Produktionsdemokratie“ (Paragraph 5) billigt. Unsere Gruppe von ZK-Mitgliedern bleibt in der Minderheit, sie ist gegen die Resolution Bucharins, in der Hauptsache deshalb, weil sie den „Puffer“ für Papier hält, denn die Nichtbeteiligung Trotzkis an der Gewerkschaftskommission bedeutet faktisch die Fortsetzung des Kampfes und sein Hinaustragen über den Rahmen des Zentralkomitees.

Wir stellen den Antrag, den Parteitag auf den 6. Februar 1921 festzusetzen. Angenommen. Die Verschiebung auf den 6. März erfolgte später, auf Verlangen der entlegenen Randgebiete.

4. Etappe. Der VIII. Sowjetkongress. Auftreten Trotzkis am 25. Dezember mit der „Plattformbroschüre“: „Die Rolle und die Aufgaben der Gewerkschaften“. Vom Standpunkt des formalen Demokratismus hatte Trotzki das unbedingte Recht, mit einer Plattform hervorzutreten, denn das Zentralkomitee hatte am 24. Dezember die Freiheit der Diskussion beschlossen. Vom Standpunkt der revolutionären Zweckmäßigkeit war das schon eine gewaltige Übertreibung des Fehlers, die Bildung einer Fraktion auf falscher Plattform. Die Broschüre zitiert aus der Resolution des Zentralkomitees vom 7. Dezember nur das, was sich auf die „Produktionsdemokratie“ bezieht, zitiert aber nicht das, was gegen die „Umgestaltung von oben“ gesagt wurde. Der von Bucharin am 7. Dezember mit Hilfe Trotzkis geschaffene Puffer wurde von Trotzki am 25. Dezember zerschlagen. Der ganze Inhalt der Broschüre ist von Anfang bis zu Ende vom Geiste des „Durchrüttelns“ durchdrungen. „Neue Aufgaben und Methoden“, die das „Durchrütteln“ beschönigen oder bemänteln oder rechtfertigen sollten, konnte jedoch die Broschüre nicht angeben, wenn man von den Intellektuellen-Mätzchen („Produktionsatmosphäre“, „Produktionsdemokratie“) absieht, die theoretisch falsch sind und in ihrem sachlichen Teil ganz und gar zu dem Begriff, den Aufgaben und in den Rahmen der Produktionspropaganda gehören.

5. Etappe. Die Diskussion vor Tausenden verantwortlicher Parteifunktionäre von ganz Russland, in der kommunistischen Fraktion des VIII. Sowjetkongresses am 30. Dezember. Die Wogen des Streites gehen hoch. Sinowjew und Lenin auf der einen, Trotzki und Bucharin auf der anderen Seite. Bucharin will „puffern“, spricht aber nur gegen Lenin und Sinowjew, kein Wort gegen Trotzki. Bucharin verliest ein Bruchstück aus seinen (am 16. Januar veröffentlichten) Thesen, aber nur das Bruchstück, wo mit keiner Silbe von dem Bruch mit dem Kommunismus und vom Übergang zum Syndikalismus die Rede ist. Schljapnikow verkündet (im Namen der „Arbeiteropposition“) eine syndikalistische Plattform, die schon vorher vom Genossen Trotzki zerfetzt worden ist (These 16 in seiner Plattform) und die (teilweise wahrscheinlich gerade aus diesem Grunde) niemand ernst nimmt.

Für den Kernpunkt der ganzen Diskussion vom 30. Dezember halte ich persönlich die Bekanntgabe der Thesen von Rudsutak. In der Tat: weder Genosse Bucharin noch Genosse Trotzki vermochten auch nur ein einziges Wort gegen sie vorzubringen; sie setzten sogar die Legende in die Welt, dass die „bessere Hälfte“ dieser Thesen von den Zektranisten Holzmann, Andrejew und Ljubimow ausgearbeitet worden sei. Und Trotzki witzelte daher sehr lustig und sehr nett über die misslungene „Diplomatie“ Lenins, der die Diskussion habe „absetzen, sprengen“ wollen, nach einem „Blitzableiter“ gesucht und zufällig nicht einen Blitzableiter, sondern das Zektran erwischt habe.

Die Legende ist damals schon, am 30. Dezember, von Rudsutak widerlegt worden, der darauf hinwies, dass ein Ljubimow „im Bereiche des Zentralrats der Gewerkschaften“ überhaupt nicht existiere, dass Holzmann im Präsidium des Zentralrats der Gewerkschaften gegen die Thesen Rudsutaks gestimmt habe, und dass diese von einer Kommission, bestehend aus Andrejew, Zyperowitsch und Rudsutak, ausgearbeitet worden seien.

Aber nehmen wir für einen Augenblick an, die Legende der Genossen Bucharin und Trotzki sei Tatsache. Nichts schlägt sie so vernichtend wie eine derartige Annahme. Denn wenn die „Zektranisten“ ihre „neuen“ Ideen in die Resolution Rudsutaks hineingebracht haben, wenn Rudsutak sie angenommen hat, wenn alle Gewerkschaften diese Resolution angenommen haben (am 2.–6. November!!), wenn Bucharin und Trotzki gegen sie nichts einwenden können, was ergibt sich dann daraus?

Daraus ergibt sich, dass alle Meinungsverschiedenheiten bei Trotzki ausgeklügelt sind; weder er noch die „Zektranisten“ haben irgendwelche „neue Aufgaben und Methoden“, alles Sachliche und Wesentliche ist von den Gewerkschaften gesagt, angenommen, beschlossen worden, und zwar noch bevor die Frage im Zentralkomitee auf gerollt wurde.

Wenn jemand gehörig ausgeschimpft und „durchgerüttelt“ werden muss, dann ist es nicht der Zentralrat der Gewerkschaften, sondern eher das Zentralkomitee der KPR, und zwar dafür, dass es die Thesen Rudsutaks „übersehen“ hat und infolge dieses seines Fehlers die ödeste Diskussion sich hat auswachsen lassen.

Bemänteln lässt sich der Fehler der Zektranisten (der im Grunde kein übermäßiger ist, sondern ein ganz gewöhnlicher Fehler, der in einer gewissen Übertreibung des Bürokratismus besteht) durch nichts. Und man soll ihn auch nicht bemänteln, nicht beschönigen, nicht rechtfertigen, sondern korrigieren. Das ist alles.

Das Wesen der Thesen Rudsutaks habe ich am 30. Dezember in vier Punkten ausgedrückt: 1. der übliche Demokratismus (ohne jegliche Übertreibung, ohne jeglichen Verzicht auf die Rechte des Zentralkomitees, zu „ernennen“ usw., aber auch ohne starrsinniges Verteidigen der Fehler und Extreme mancher „Ernennungseifrigen“, die eine Korrektur erheischen). 2. Produktionspropaganda (darunter fällt alles, was in den plumpen, lächerlichen, theoretisch falschen „Formeln“, wie „Produktionsdemokratie“, „Produktionsatmosphäre“ usw., sachlich ist). Es ist bei uns eine Sowjetinstitution geschaffen worden: das Allrussische Büro für Produktionspropaganda. Diese Institution gilt es mit allen Kräften zu unterstützen, nicht aber die Produktionsarbeit durch die Produktion… von schlechten Thesen zu verderben. Das ist alles. 3. Naturalprämien und 4. kameradschaftliche Disziplinargerichte. Ohne die Punkte 3 und 4 ist alles Gerede über die „Rolle in der Produktion und die Aufgaben“ und dergleichen ein leeres Intellektuellengeschwätz. In der „Plattformbroschüre“ Trotzkis sind gerade diese beiden Punkte vergessen worden. Bei Rudsutak dagegen sind sie vorhanden.

Da ich von der Diskussion vom 30. Dezember spreche, muss ich noch einen Fehler von mir berichtigen. Ich sagte: „Wir haben in Wirklichkeit nicht einen Arbeiterstaat, sondern einen Arbeiter- und Bauernstaat.“1 Genosse Bucharin hat sofort dazwischengerufen: „Was für einen Staat?“ Als Antwort habe ich ihn auf den soeben zu Ende gegangenen VIII. Sowjetkongress verwiesen. Beim Lesen des Berichts über die Diskussion sehe ich nun, dass ich Unrecht und Genosse Bucharin Recht hatte. Ich hätte sagen sollen: „Der Arbeilerstaat ist eine Abstraktion. In Wirklichkeit bähen wir einen Arbeiterstaat, erstens mit der Besonderheit, dass im Lande nicht die Arbeiter-, sondern die Bauernbevölkerung überwiegt; und zweitens einen Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen.“ Der Leser, der meine ganze Rede nachlesen will, wird sehen, dass durch diese Richtigstellung weder der Gang meiner Argumentation noch meine Schlussfolgerungen geändert werden.

6. Etappe. Das Auftreten der Petrograder Organisation mit dem ,.Aufruf an die Partei“ gegen die Plattform Trotzkis und die Gegenaktion des Moskauer Parteikomitees („Prawda“ vom 13. Januar).

Übergang vom Kampf der von oben gebildeten Fraktionen zum Eingreifen der Organisationen von unten. Ein großer Schritt vorwärts zur Gesundung. Kurios ist, dass das Moskauer Parteikomitee die „gefährliche“ Seite des Auftretens der Petersburger Organisation mit einer Plattform bemerkt hat, ohne die gefährliche Seite der Bildung einer Fraktion durch den Genossen Trotzki am 25. Dezember bemerken zu wollen !!! Witzbolde nennen eine derartige Blindheit (auf einem Auge) „Pufferblindheit“…

7. Etappe. Die Gewerkschaftskommission beendet ihre Arbeit und gibt eine Plattform heraus (eine Broschüre unter dem Titel: „Entwurf des Beschlusses des X. Parteitags der KPR über die Rolle und die Aufgaben der Gewerkschaften“ vom 14. Januar, die von neun ZK-Mitgliedern: Sinowjew, Stalin, Tomski, Rudsutak, Kalinin, Kamenew, Petrowski, Artjom, Lenin und dem Mitglied der Gewerkschaftskommission Losowski unterschrieben ist; die Genossen Schljapnikow und Lutowinow „flüchteten“ anscheinend in die „Arbeiteropposition“). Die „Prawda“ veröffentlichte die Broschüre unter Hinzufügung der Unterschriften von Schmidt, Zyperowitsch und Miljutin am 18. Januar.

In der „Prawda“ vom 16. Januar erscheinen Plattformen: die Bucharinsche (unterschrieben: „Im Aufträge einer Gruppe von Genossen: Bucharin, Larin, Preobraschenski, Serebrjakow, Sokolnikow, Jakowlewa“) und die Sapronowsche (unterschrieben: „Eine Gruppe von Genossen, die auf der Plattform des demokratischen Zentralismus stehen: Bubnow, Boguslawski, Kamenski, Maximowski, Ossinski, Rafail, Sapronow“). In der erweiterten Sitzung des Moskauer Parteikomitees vom 17. Januar treten sowohl die Vertreter dieser Plattformen als auch die „Ignatowianer“ auf (die Thesen erschienen in der „Prawda“ vom 19. Januar, unterschrieben von Ignatow, Orechow, Korsinow, Kuranowa, Burowzew, Maslow*).

Wir sehen hier einerseits wachsenden Zusammenschluss (denn die Plattform der neun ZK-Mitglieder stimmt vollkommen überein mit dem Beschluss der 5. Allrussischen Gewerkschaftskonferenz); anderseits Zerfahrenheit und Zerfall. Dabei bilden die Thesen von Bucharin und Konsorten den Gipfel des ideologischen Zerfalls. Hier wurde eine jener „Wendungen“ vollführt, über die die Marxisten in alten Zeiten zu witzeln pflegten: „Weniger eine historische als vielmehr eine hysterische Wendung.“ In der These 17 lesen wir: „ … Gegenwärtig müssen diese Kandidaturen obligatorisch gemacht werden“ (nämlich: die Kandidaturen der Gewerkschaften für die entsprechenden „Hauptverwaltungen und Zentralstellen“).

Das ist völliger Bruch mit dem Kommunismus und Übergang auf die Position des Syndikalismus. Das ist im Grunde genommen eine Wiederholung der Schljapnikowschen Losung: „Vergewerkschaftlichung des Staates“; das ist die Übergabe des Apparats des Obersten Volkswirtschaftsrates stückweise in die Hände der betreffenden Gewerkschaften. Ob man sagt: „Ich stelle obligatorische Kandidaturen auf“, oder ob man sagt: „Ich ernenne“ – ist Jacke wie Hose.

Der Kommunismus sagt: die Avantgarde des Proletariats, die Kommunistische Partei, führt die parteilose Masse der Arbeitenden, indem sie diese Masse, zuerst die Arbeiter und dann auch die Bauern, aufklärt, schult, bildet und erzieht („Schule“ des Kommunismus), damit sie imstande sei, die Verwaltung der gesamten Volkswirtschaft in ihren Händen zu konzentrieren, und auch wirklich konzentriere.

Der Syndikalismus überträgt die Verwaltung der Industriezweige („Hauptverwaltungen und Zentralstellen“) der Masse der parteilosen, nach Produktionszweigen gegliederten Arbeiter; er hebt dadurch die Notwendigkeit der Partei auf, leistet keine langwierige Arbeit zur Erziehung der Massen und zur tatsächlichen Konzentrierung der Verwaltung der gesamten Volkswirtschaft in ihren Händen.

Das Programm der KPR besagt: „ … Die Gewerkschaften … müssen dahin gelangen“ (also sind sie noch nicht dahin gelangt und sind nicht einmal nahe daran), „dass sie tatsächlich in ihren Händen konzentrieren“ (in ihren, d. h. in den Händen der Gewerkschaften, d. h. in den Händen der Massen, die restlos vereinigt sind; jeder sieht, wie weit wir selbst von der ersten Annäherung an eine solche tatsächliche Konzentrierung noch entfernt sind) … Was konzentrieren? „die ganze Verwaltung der gesamten Volkswirtschaft als eines einheitlichen wirtschaftlichen Ganzen“. (Also nicht der Industriezweige und nicht der Industrie, sondern der Industrie plus Landwirtschaft usw. Sind wir nahe daran, dass die Verwaltung der Landwirtschaft tatsächlich in den Händen der Gewerkschaften konzentriert wird?) Und die nächsten Sätze des Programms der KPR sprechen von der „Verbindung“ zwischen der „zentralen Staatsverwaltung“ und „den breiten Massen der Werktätigen“, von der „Teilnahme der Gewerkschaften an der Wirtschaftsführung“.

Wenn die Gewerkschaften, d. h. die zu neun Zehntel parteilosen Arbeiter, die Verwaltung der Industrie ernennen („obligatorische Kandidaturen“), wozu dann die Partei? Sowohl logisch, theoretisch als auch praktisch bedeutet das, wozu sich Bucharin verstiegen hat, die Spaltung der Partei, richtiger: den Bruch der Syndikalisten mit der Partei.

Bisher war die „Hauptperson“ im Kampfe Trotzki. Jetzt hat ihn Bucharin weit „überholt“ und völlig „in den Schatten gestellt“; er hat ein ganz neues Wechselverhältnis im Kampf geschaffen, denn er hat sich zu einem Fehler verstiegen, der hundertmal größer ist als alle Fehler Trotzkis zusammengenommen.

Wie konnte Bucharin sich zu diesem Bruch mit dem Kommunismus versteigen? Wir kennen die ganze Weichheit des Genossen Bucharin, eine der Eigenschaften, derentwegen man ihn so gern hat und gern haben muss. Wir wissen, dass er mehr als einmal, im Scherz „weiches Wachs“ genannt wurde. Wie sich nun herausstellt, kann auf diesem „weichen Wachs“ der erste beste „prinzipienlose“ Kerl, der erste beste „Demagoge“ schreiben, was ihm beliebt. Diese in Anführungsstriche gesetzten scharfen Ausdrücke gebrauchte Genosse Kamenew in der Diskussion vom 17. Januar, und er hatte recht, sie zu gebrauchen. Aber weder Kamenew noch irgendeinem anderen wird es natürlich einfallen, das Geschehene durch prinzipienlose Demagogie zu erklären und alles auf sie zurückzuführen.

Im Gegenteil. Es gibt eine objektive Logik des Fraktionskampfes, die sogar die Besten, wenn sie auf einer von ihnen eingenommenen falschen Stellung beharren, unvermeidlich zu einer Stellung führt, die sich faktisch durch nichts von prinzipienloser Demagogie unterscheidet. Das lehrt uns die ganze Geschichte der Fraktionskriege (Beispiel: die Vereinigung der „Wperjod“-Leute und der Menschewiki gegen die Bolschewiki). Gerade deshalb ist es notwendig, nicht nur abstrakt das Wesen der Meinungsverschiedenheiten, sondern auch ihre konkrete Entfaltung und Modifizierung in der Entwicklung der verschiedenen Etappen des Kampfes zu studieren. Die Diskussion vom 17. Januar hat das Ergebnis dieser Entwicklung zum Ausdruck gebracht. Weder das „Durchrütteln“ noch die „neuen Produktionsaufgaben“ lassen sich noch länger verteidigen (denn alles Praktische und Sachliche ist in die Thesen Rudsutaks aufgenommen worden). Es bleibt nur noch übrig, entweder, um einen Ausdruck Lassalles zu gebrauchen, die „physische Kraft des Verstandes“ (und des Charakters) in sich aufzubringen, um den Fehler einzugestehen, ihn zu korrigieren und dieses Blatt der Geschichte der KPR umzuschlagen, oder… oder sich an die übriggebliebenen Bundesgenossen, wer sie auch sein mögen, zu klammem und über alle Prinzipien „hinwegzusehen“. Übriggeblieben sind die Anhänger der „Demokratie“ bis zur Bewusstlosigkeit. Und Bucharin rutscht zu ihnen hinab, rutscht zum Syndikalismus hinab.

Während wir nach und nach das in uns aufnehmen, was an der „demokratischen“ „Arbeiteropposition“ gesund war, muss sich Bucharin an das Ungesunde klammem. Genosse Bumaschny, ein prominenter Zektranist oder Trotzkist, erklärt sich am 17. Januar bereit, die syndikalistischen Vorschläge Bucharins anzunehmen. Die „Sapronowianer“ haben es fertiggebracht, in ein und derselben These (Nr. 3) über die „tiefgehende Krise“ und die „bürokratische Erstarrung“ der Gewerkschaften zu räsonieren und gleichzeitig als „absolut“ notwendig eine „Erweiterung der Rechte der Gewerkschaften in der Produktion“ zu beantragen … wahrscheinlich wohl wegen ihrer „bürokratischen Erstarrung“? Kann man denn eine solche Gruppe ernst nehmen? Sie haben über die Rolle der Gewerkschaften in der Produktion reden hören und, um die anderen zu überschreien, platzten sie heraus: „Erweiterung der Rechte“ wegen der „bürokratischen Erstarrung“. Es genügt, die ersten Zeilen ihrer „praktischen“ Vorschläge: „Das Präsidium des Obersten Volkswirtschaftsrats wird vom Plenum des Allrussischen Zentralrats der Gewerkschaften vorgeschlagen und vom Allrussischen Zentralexekutivkomitee endgültig bestätigt“ zu lesen, um nicht weiterlesen zu brauchen. Und ihre „prinzipielle“ demokratische Stellung? Man höre (These 2): „ … Sie“ (Sinowjew und Trotzki) „bringen in Wirklichkeit zwei Richtungen ein und derselben Gruppe der früheren Militarisatoren der Wirtschaft zum Ausdruck!!“

Wenn man das ernst nehmen soll, so ist das übelster Menschewismus und Sozialrevolutionarismus. Die Sapronow, Ossinski und Konsorten kann man aber nicht ernst nehmen, wenn diese – meines Erachtens sehr wertvollen – Funktionäre vor jedem Parteitag („jedes Mal an just derselben Stelle“) in eine Art Fieberparoxysmus verfallen, unbedingt alle zu überschreien suchen (die Fraktion der „lautesten Schreihälse“) und sich feierlich in die Nesseln setzen. Die „Ignatowianer“ segeln im Fahrwasser der „Sapronowianer“. Blockbildungen sind den verschiedenen Gruppen (besonders vor dem Parteitage) natürlich gestattet (und den Stimmen nachzujagen ebenfalls). Aber man soll das im Rahmen des Kommunismus (und nicht des Syndikalismus) tun, und zwar so tun, dass es nicht zum Lachen reizt. Wer bietet mehr? Alle, die den Parteilosen mehr „Rechte“ bieten, vereinigt euch aus Anlass des Parteitags der Kommunistischen Partei Russlands!…

Bisher war unsere Plattform die: bürokratische Auswüchse dürfen nicht in Schutz genommen, sondern müssen korrigiert werden. Der Kampf gegen den Bürokratismus ist eine langwierige und schwere Arbeit. Die Ausmerzung der Auswüchse kann und muss sofort geschehen. Die Autorität der Militärfunktionäre sowie der ernannten Funktionäre wird nicht von demjenigen untergraben, der auf die schädlichen Auswüchse aufmerksam macht und sie ausmerzt, sondern von demjenigen, der sich dieser Ausmerzung widersetzt. Gerade dieser Art waren die extremen Bestrebungen einiger Zektranisten, die sonst wertvolle und nützliche Mitarbeiter sein werden (und waren). Man soll an den Gewerkschaften nicht herumzerren und nicht Meinungsverschiedenheiten mit ihnen erfinden, wenn alles Neue, Praktische und Sachliche in der Frage der Produktionsaufgaben der Gewerkschaften von ihnen selbst anerkannt und beschlossen worden ist. Lasst uns auf diesem Boden intensiv und einmütig praktisch arbeiten!

Jetzt ist zu unserer Plattform hinzugekommen: die Notwendigkeit des Kampfes gegen die ideologische Zerfahrenheit und gegen jene ungesunden Elemente der Opposition, die sich bis zum Verzicht auf jegliche „Militarisierung der Wirtschaft“, bis zum Verzicht nicht nur auf die „Methode der Ernennung“ versteigen, wie sie bis jetzt vorwiegend praktiziert wurde, sondern auch auf jegliche „Ernennung“ überhaupt, d. h. letzten Endes auf die führende Rolle der Partei gegenüber der Masse der Parteilosen. Man muss gegen die syndikalistische Abweichung kämpfen, die die Partei zugrunde richten wird, falls man sich (nicht endgültig von ihr auskuriert.

Die Krankheit unserer Partei werden zweifellos sowohl die Kapitalisten der Entente zu einer neuen Invasion als auch die Sozialrevolutionäre zur Anstiftung von Verschwörungen und Aufständen auszunutzen suchen. Uns schreckt das nicht, denn wir werden uns alle wie ein Mann zusammenschließen, ohne Scheu, die Krankheit einzugestehen, aber in der Erkenntnis, dass sie von uns allen auf jedem Posten mehr Disziplin, mehr Ausdauer und mehr Festigkeit fordert. Die Partei wird auf dem X. Parteitag der KPR im März und nach ihm nicht schwächer, sondern stärker dastehen.

19. Januar 1921.

1 Siehe vorl. Band, S. 83. Die Red.

* Übrigens muss die Partei fordern, dass „Plattformen“ mit den vollen Unterschriften aller für die jeweilige Plattform verantwortlichen Genossen eingebracht werden. Dieser Forderung leisten Genüge die „Ignatowianer“ und „Sapronowianer“, nicht aber die „Trotzkisten“, auch nicht die „Bucharinianer“ und die „Schljapnikowianer“, die sich auf ungenannte, für die betreffende Plattform angeblich verantwortliche Genossen berufen.

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