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Wladimir I. Lenin 19140400 Was man der deutschen Arbeiterbewegung nicht nachahmen soll

Wladimir I. Lenin: Was man der deutschen Arbeiterbewegung nicht

nachahmen soll

[Prosweschtschenije" Nr. 4. April 1914 Gez.: W. I. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 415-418]

Einer der prominentesten und verantwortlichsten Vertreter der deutschen Gewerkschaften, K. Legien, veröffentlichte unlängst seinen Bericht über eine Amerikareise in Form eines ziemlich umfangreichen Buches mit dem Titel: „Aus Amerikas Arbeiterbewegung“.

Als einer der prominentesten Vertreter nicht nur der deutschen sondern auch der internationalen Gewerkschaftsbewegung hat K. Legion seine Reise mit einer besonderen, sozusagen staatlich-offiziellen Wichtigkeit umgeben. Jahrelang führte er über diese Reise Verhandlungen sowohl mit der Sozialistischen Partei Amerikas als auch mit der American Federation of Labor, dem Gewerkschaftsbund, der von dem berühmten (traurig berühmten) Gompers geführt wird. Als sich herausstellte, dass auch Karl Liebknecht nach Amerika reist, wollte Legten nicht gleichzeitig mit ihm fahren, damit nicht

zwei Redner aus Deutschland zu gleicher Zeit in den Vereinigten Staaten tätig sind, zumal wenn, wie in diesem Falle, ihre Ansichten über die Taktik der Partei und den Wert und die Bedeutung der einzelnen Zweige der Arbeiterbewegung nicht völlig übereinstimmen."

Material über die Gewerkschaftsbewegung in Amerika hat K. Legien in Hülle und Fülle gesammelt, hat es in seinem Buch aber nicht zu verarbeiten verstanden. Das Buch ist vorwiegend mit Plunderkram in der Gestalt kurzer Reisebeschreibungen gefüllt, die dem Inhalt nach Feuilletons, in ihrer langweiligen Darstellung aber schlechter als Feuilletons sind. Sogar die Statuten der amerikanischen Gewerkschaften, die Legien besonders interessierten, sind nicht studiert und bearbeitet, sondern nur – unsystematisch und unvollständig – übersetzt worden.

Eine Episode von der Reise Legiens ist außerordentlich lehrreich und zeigt uns besonders klar die zwei Tendenzen der internationalen, besonders aber der deutschen Arbeiterbewegung.

Legien besuchte das Abgeordnetenhaus der Vereinigten Staaten, den sogenannten „Kongress". Die demokratischen Einrichtungen der Republik machten auf den im preußischen Polizeistaat erzogenen Menschen einen angenehmen Eindruck, und er stellt mit begreiflichem Wohlgefallen fest, dass der Staat in Amerika jedem Abgeordneten nicht nur ein eigenes, mit allem modernen Komfort ausgestattetes Zimmer, sondern auch, einen bezahlten Sekretär für die Erledigung der umfangreichen Abgeordnetenarbeit zur Verfügung stellt. Die einfachen und ungezwungenen Umgangsformen der Abgeordneten und des Kongresspräsidenten unterschieden sich krass von dem, was Legien in anderen europäischen Parlamenten und besonders in Deutschland gesehen hatte. In Europa könnte ein Sozialdemokrat gar nicht daran denken, in der offiziellen Sitzung eines bürgerlichen Parlaments diesem eine Begrüßungsrede darzubringen! In Amerika aber wickelte sich das sehr einfach ab, und der Name eines Sozialdemokraten erschreckte niemanden … außer diesen Sozialdemokraten selbst.

Hierin zeigte sich eben die amerikanische bürgerliche Art, die nicht hieb- und stichfesten Sozialisten „durch Weichheit umzubringen", und die deutsche opportunistische Art, aus Gefälligkeit gegenüber der „weichen", liebenswürdigen und demokratischen Bourgeoisie auf den Sozialismus zu verzichten.

Legiens Begrüßungsrede wurde ins Englische übertragen (die Demokratie erschrak nicht im Mindesten vor einer „fremden" Sprache in ihrem Parlament), mehr als 200 Abgeordnete schüttelten der Reihe nach Legien als dem „Gast" der Republik die Hand; der Präsident des Hauses dankte ihm besonders.

Form und Inhalt, die ich für die Ansprache wählte“ – schreibt Legien – „fanden die Zustimmung der sozialistischen Presse der Vereinigten Staaten und auch der Deutschlands. Einige Redakteure in Deutschland konnten jedoch nicht umhin, zu bemerken, dass die Rede aufs Neue beweise, dass es für einen Sozialdemokraten nicht möglich ist, vor einem bürgerlichen Auditorium eine sozialdemokratische Rede zu halten. Nun, sie, diese Redakteure, hätten sicher an meiner Stelle eine Rede gegen den Kapitalismus und für den Massenstreik gehalten, während es mir darauf ankam, vor diesem Parlament zu betonen dass die sozialdemokratische und die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft Deutschlands den Frieden unter den Nationen will und durch den Frieden die Fortentwicklung der Kultur bis zur höchsten erreichbaren Stufe."

Die armen „Redakteure" – wie sie doch unser Legien durch seine „staatsmännische" Rede zerschmettert hat! In der Arbeiterbewegung Deutschlands ist der Opportunismus der Gewerkschaftsführer ihn Allgemeinen und Legiens im Speziellen und Besonderen eine altbekannte Tatsache, die von vielen klassenbewussten Arbeitern, richtig gewertet wird. Aber bei uns in Russland, wo man allzu oft von dem „Vorbild" des europäischen Sozialismus spricht, wobei man gerade die schlechtesten, gerade die negativen Züge des „Vorbildes" wählt, wird es gut sein, sich mit der Rede Legiens etwas ausführlicher zu beschäftigen.

Der Führer der Zweimillionenarmee der deutschen Gewerkschafter, und zwar des sozialdemokratischen Gewerkschaftsbundes, ein Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion des deutschen Reichstags hält vor der höchsten Instanz der Repräsentanten des kapitalistischen Amerika eine rein liberal-bürgerliche Rede. Es versteht sich, dass kein Liberaler, ja nicht einmal ein Oktobrist sich weigern würde, die Worte über „Frieden" und „Kultur" zu unterschreiben.

Und als Sozialisten in Deutschland die Bemerkung machten, dass das keine sozialdemokratische Rede war, da bedenkt unser „Führer" der Lohnsklaven des Kapitals die Sozialisten mit seiner großartigen Verachtung. „Redakteure“ – wer sind sie schon im Vergleich zu dem „praktischen Politiker" und Sammler von Arbeitergroschen! Unser kleinbürgerliche Narziss hat für Redakteure eine ebensolche Verachtung wie der polizeiliche Pompadour in einem gewissen Lande für das dritte Element.1

Sie, „diese Redakteure", hätten wahrscheinlich eine Rede „gegen den Kapitalismus" gehalten!

Man denke, worüber sich dieser Auch-Sozialist lustig macht: darüber, dass einem Sozialisten der Gedanke aufkommen kann, es sei notwendig, gegen den Kapitalismus zu sprechen. Den „Staatsmännern" des deutschen Opportunismus liegt ein solcher Gedanke unendlich fern: sie reden in einer Weise, dass dem Kapitalismus nur ja nicht zu nahe getreten werde. Und während sie sich durch diesen lakaienhaften Verzicht auf den Sozialismus mit Schande bedecken, brüsten sie sich noch mit ihrer Schmach.

Legien ist nicht der erste beste. Er ist der Vertreter der Armee, oder besser gesagt, des Offizierskorps der Armee der Gewerkschaften. Seine Rede ist durchaus kein Zufall, durchaus kein falscher Zungenschlag, kein einzelner Streich, sie ist keineswegs der Fehler eines deutschen provinzialen „Büromannes", der vor den Sehenswürdigen, von polizeilichem Dünkel freien Kapitalisten Amerikas verlegen geworden ist. Wenn dem nur so wäre, würde es sich nicht lohnen, bei der Rede Legiens zu verweilen.

Jeder weiß aber, dass dem nicht so ist.

Auf dem internationalen Kongress in Stuttgart erwies sich die Hälfte der deutschen Delegation als solche „Auch-Sozialisten" und stimmte für die erz-opportunistische Resolution zur Kolonialfrage.

Man nehme die deutsche Zeitschrift „Sozialistische (??) Monatshefte", und man wird darin ständig Artikel von Legien und anderen ihm ähnlichen Funktionären finden, Artikel, die durch und durch opportunistisch sind, nichts mit dem Sozialismus gemein haben und dabei alle wichtigsten Fragen der Arbeiterbewegung behandeln.

Und wenn die „offizielle" Erklärung der „offiziellen" deutschen Partei dahin geht, dass „kein Mensch die Sozialistischen Monatshefte liest", dass sie „keinerlei Einfluss haben" usw., so ist das nicht wahr. Der Stuttgarter „Fall" hat bewiesen, dass das nicht wahr ist. Die prominentesten und verantwortlichsten Funktionäre, Parlamentarier und Gewerkschaftsführer, die in den „Sozialistischen Monatsheften" schreiben, tragen ihre Anschauungen ständig und unablässig in die Massen.

Der „offizielle Opportunismus" der deutschen Partei ist in ihrem eigenen Lager von jenen Leuten, die sich von Legien den (vom bürgerlichen Standpunkt) verächtlichen und (vom sozialistischen Standpunkt) ehrenvollen Spitznahmen „diese Redakteure" verdient haben, schon längst erkannt worden. Und je öfter in Russland von den Liberalen und Liquidatoren (unter ihnen natürlich Trotzki) der Versuch gemacht wird, diese nette Eigenschaft auf unseren Boden zu verpflanzen, desto entschiedenerer Widerstand muss dem entgegengesetzt werden.

Die deutsche Sozialdemokratie hat gewaltige Verdienste. Dank dem Kampfe Marxens gegen alle die Höchberg, Dühring und Komp. besitzt sie eine streng durchgearbeitete Theorie, die zu umgehen oder opportunistisch zu korrigieren unsere Narodniki sich vergeblich bemühen. Sie hat eine Massenorganisation, Zeitungen, Gewerkschaften, politische Verbände, sie besitzt jene die Massen erfassende Organisiertheit, die jetzt auch bei uns in Gestalt des allgemeinen Siegs der marxistischen „Prawda"-Richtung sowohl bei den Dumawahlen als auch auf dem Gebiet der Tagespresse, sowohl in den Wahlen zum Arbeiterversicherungsrat als auch in den Gewerkschaften so deutlich sichtbar im Entstehen begriffen ist. Die krampfhaften Bemühungen unserer, von den Arbeitern „abgesägten" Liquidatoren, die Frage dieser, den russischen Verhältnissen angepassten und die Massen erfassenden Organisiertheit zu umgehen, sind ebenso vergeblich wie die Bemühungen der Narodniki und bedeuten ebenso wie diese nur eine Absplitterung von Intellektuellen von der Arbeiterbewegung.

Aber die Verdienste der deutschen Sozialdemokratie sind Verdienste nicht dank solchen schmählichen Reden wie die Rede Legiens und die „Reden" (in der Presse) der Mitarbeiter der „Sozialistischen Monatshefte", sondern trotz ihnen. Wir dürfen die unbestreitbare Krankheit der deutschen Partei, die sich in derartigen Erscheinungen kundgibt, nicht vertuschen und durch „offiziell-opportunistische'' Phrasen verhüllen, sondern wir müssen sie den russischen Arbeitern aufzeigen, damit wir aus den Erfahrungen einer älteren Bewegung lernen; lernen, was man nicht nachahmen soll.

1 Russland, bei Saltykow-Schtschedrin. Die Red,

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