Lenin‎ > ‎1915‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19150329 Zur Londoner Konferenz

Wladimir I. Lenin: Zur Londoner Konferenz

[Sozialdemokrat Nr. 40, 29. März 1915. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 173-175]

Die von uns veröffentlichte Erklärung des Genossen Maximowitsch, Vertreters des Zentral-Komitees der SDAPR, bringt die Anschauung der Partei über diese Konferenz vollkommen zum Ausdruck. Die französische Bourgeois-Presse hat ihre Bedeutung als Werkzeug oder Manöver der englisch-französischen Bourgeoisie ausgezeichnet aufgedeckt. Die Rollen waren folgendermaßen verteilt: „Le Temps1 und „L'Écho de Paris“2 griffen die französischen Sozialisten wegen ihrer angeblich allzu großen Zugeständnisse an den Internationalismus an. Diese Angriffe waren nur ein Manöver mit dem Zweck, für das bekannte patriotisch-annexionistische Auftreten des Premier-Ministers Viviani im Parlament den Boden vorzubereiten. Anderseits deckte das „Journal des Debats3 die Karten direkt auf, mit der Erklärung: es handelte sich darum, dass die englischen Sozialisten mit Keir Hardie an der Spitze, bisher Gegner des Kriegs und der Anwerbung zum Kriegsdienst, nunmehr für den Krieg bis zum Endsieg über Deutschland stimmten. Das ist erreicht. Das ist wichtig. Das ist das politische Resultat des Übergangs der englischen und der französischen Sozialisten auf die Seite der englisch-französischen Bourgeoisie. Und die Phrasen über Internationalismus, Sozialismus, Referendum usw. – sind eben nur Phrasen, leere Worte, die keinerlei Bedeutung haben!

Zweifellos haben die klugen Reaktionäre im Lager der französischen Bourgeoisie die absolute Wahrheit ausgeplaudert. Der Krieg wird zum Zwecke der Ruinierung und Ausplünderung Deutschlands, Österreichs und der Türkei von der englisch-französischen und dazu der russischen Bourgeoisie geführt. Sie braucht Werber, sie braucht die Zustimmung der Sozialisten zur Führung des Kriegs bis zum Siege über Deutschland, – alles übrige aber ist leeres und würdeloses Geschwätz, Prostituierung der großen Worte: Sozialismus, Internationalismus usw. In Wirklichkeit der Bourgeoisie zu folgen und ihr bei der Plünderung fremder Länder zu helfen, in Worten aber die Massen mit der heuchlerischen Anerkennung „des Sozialismus und der Internationale“ abzuspeisen, – darin besteht nun einmal die Hauptsünde des Opportunismus, die Hauptursache für den Zusammenbruch der II. Internationale.

Daher war für die Gegner der Sozialchauvinisten auf der Londoner Konferenz die Aufgabe klar: sie mussten im Namen klarer antichauvinistischer Prinzipien diese Konferenz verlassen, ohne in Deutschfreundlichkeit zu verfallen. Denn die Germanophilen sind gerade aus chauvinistischen und nicht aus anderen Motiven entschiedene Feinde der Londoner Konferenz! Genosse Maximowitsch erfüllte die Aufgabe, indem er klipp und klar vom Verrat der deutschen Sozialisten sprach.

Die Bundisten und die Anhänger des Organisationskomitees können diese einfache und klare Sache absolut nicht begreifen. Die ersteren sind Germanophilen vom Schlage eines Kossowski, der die Bewilligung der Kriegskredite durch die deutschen Sozialdemokraten direkt rechtfertigt (siehe das „Informationsblatt des ,Bund‘4, Nr. 7, Januar 1915, S. 7, zu Anfang des Paragraphen V). Die Redaktion dieses Blattes erhob mit keinem Wort Einspruch gegen den Standpunkt Kossowskis (während sie ihr Nicht-Einverständnis mit Borissow, dem Verteidiger des russischen Patriotismus, ganz speziell ausdrückte). Im Manifest des Zentral-Komitees des „Bund“ (ebenda, S. 3) findet sich kein einziges klares Wörtchen gegen den Sozialchauvinismus!

Die Anhänger des Organisationskomitees treten für die Aussöhnung des deutschfreundlichen Chauvinismus mit dem franzosenfreundlichen ein. Dies ist ersichtlich aus den Erklärungen Axelrods (in Nr. 86 und 87 des Golos) und aus Nr. 1 der vom Auslandssekretariat des Organisationskomitees herausgegebenen „Iswestija („Nachrichten“) vom 22. Februar 1915. Als die Redaktion von „Nasche Slowo uns ein gemeinsames Auftreten gegen den „offiziellen Sozialchauvinismus“ vorschlug, gaben wir ihr – unseren Deklarations-Entwurf beilegend und auf die entscheidende Stimme des Genossen Maximowitsch verweisend – ganz offen zur Antwort: das Organisationskomitee und der Bund stünden beide selber auf Seiten des offiziellen Sozialpatriotismus.

Warum sucht „Nasche Slowo“ sich selbst und die anderen zu betrügen, indem es dies im Leitartikel der Nr. 325 verschweigt? Warum verschweigt das Blatt, dass in unserem Deklarations-Entwurf auch Worte über den Verrat der deutschen Sozialdemokraten standen? In dieser Erklärung hat 1 „Nasche Slowo“ diesen höchst wichtigen „grundlegenden“ Punkt ausgelassen6: weder wir noch Genosse Maximowitsch haben diese Deklaration angenommen noch annehmen können. Deshalb ist es zu einer Aktions-Gemeinschaft zwischen uns und dem Organisationskomitee nicht gekommen. Warum sucht „Nasche Slowo“ sich und die anderen zu täuschen, mit der Versicherung, es sei eine Basis für gemeinsame Aktionen vorhanden?

Der „offizielle Sozialpatriotismus“ ist das allerschlimmste Übel des modernen Sozialismus. Zur Bekämpfung dieses Übels (und nicht zur Aussöhnung mit ihm, nicht zur gegenseitigen internationalen „Amnestierung“ in diesem Punkte) müssen alle Kräfte vorbereitet und gesammelt werden. Kautsky u. a. haben das ganz bestimmte Programm der „Amnestie“ und des Friedens mit dem Sozialchauvinismus aufgestellt. Wir waren bemüht, ein bestimmtes Programm für seine Bekämpfung zu geben, – man sehe besonders Nr. 33 des Sozialdemokrat und die jetzt veröffentlichten Resolutionen nach. Bleibt noch übrig, dem Wunsche Ausdruck zu verleihen, dass von dem Schwanken zwischen „platonischer Sympathie für den Internationalismus“ und dem Frieden mit dem Sozialchauvinismus „Nasche Slowo“ zu irgend etwas Bestimmterem übergehe.

1Le Temps“ („Die Zeit“) – führendes Organ der französischen Großindustriellen und Finanzmänner, schrieb nach der Konferenz in einem redaktionellen Artikel: „Ja, die deutsche Sozialdemokratie auf dem Sozialistischen Kongress in London! Dies ist eine wahrlich skandalöse Missachtung des Elends von Tausenden von Arbeitern und des banditenmäßigen Verhaltens ihrer deutschen Brüder…“ „Le Temps“ beschäftigte sich mit der Londoner Konferenz in zwei Artikeln: „Rien de trop“ („Nicht zu viel“) vom 15. Februar 1915 und „Invisible et présent" („Unsichtbar und gegenwärtig") vom 16. Februar.

2L'Écho de Paris“ wies nach der Londoner Konferenz entrüstet auf das Verhalten von Guesde und Sembat und schrieb: „Während die Deutschen die französischen Lande überschwemmen, bekunden unsere Minister ihren Glauben an internationale Schiedsgerichte und sprechen den Wunsch aus, Deutschland vor der Zerschmetterung zu retten.“

3 Lenin meint den Artikel „La conférence socialiste de Londres“ („Die sozialistische Konferenz in London“) im „Journal des Debats vom 19. Februar 1915.

4 Es handelt sich um den Artikel Kossowskis „Die Befreiungslegende“ im Informazionnyj Listok („Informationsblatt“) der Auslandsorganisation des Bund, Nr. 7, Januar 1915. Das „Informationsblatt“ erschien in Genf.

5 Im Leitartikel der Nr. 32 von „Nasche Slowo“ vom 6. März 1915, betitelt „Zu den Materialien der Londoner Konferenz. Zur Einheit der Aktionen“, wird über vorbereitende Maßnahmen zum Zusammenschluss der Internationalisten im Zusammenhang mit der Londoner Konferenz berichtet.

6 „Deklaration von ,Nasche Slowo““ – Formulierung des Standpunktes der Gruppe „Nasche Slowo“ in Hinsicht auf die Londoner Konferenz, abgedruckt in „Nasche Slowo“ Nr. 26 vom 27. Februar 1915.

Kommentare