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Karl Liebknecht 19100225 Polizei und Militär – letzte Waffen der preußischen Innenpolitik

Karl Liebknecht: Polizei und Militär – letzte Waffen der preußischen Innenpolitik

Rede im preußischen Abgeordnetenhaus zum Etat des Ministeriums des Innern

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, III. Session 1910, 2. Bd., Berlin 1910, Sp. 2079-2105 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 3, S. 66-109]

Meine Herren, nach den Ausführungen der Vertreter der Konservativen und der Freikonservativen Partei wird man ja damit zu rechnen haben, dass diese Parteien geneigt sind, diesmal das Gehalt des Herrn Ministers des Innern zu verweigern, und, meine Herren, es wird uns Sozialdemokraten vorbehalten bleiben müssen, an dem Ressort des Herrn Ministers des Innern doch noch ein gutes Härchen zu entdecken.

Ich möchte gleich von vornherein damit beginnen, dass ich das Ressort des Herrn Ministers des Innern tatsächlich nicht in Grund und Boden hinein verdamme, sondern dass es wenigstens einige Gebiete hat, in denen wir die Tätigkeit des Herrn Ministers und seiner Beamten begrüßen können. Es ist allerdings nicht sehr viel. Ich darf auf das Gebiet der Nahrungsmittelpolizei verweisen, auf das Gebiet der Verkehrspolizei in gewissen Beziehungen. Ich darf darauf verweisen, dass uns recht angenehm berührt hat der Versuch des Herrn Ministers des Innern, durch Anweisung an die ihm untergebenen Beamten dafür zu sorgen, dass ein höflicherer Ton dem Publikum gegenüber allmählich Platz greifen möge. Es ist möglich, dass es noch hier und da ein anderes Gebiet gibt, in Bezug auf welches das Verdammungsurteil, mit dem ich meine Ausführungen schließen werde, nicht vollständig am Platze ist. Aber ich will mich doch, der Aufgabe meiner Partei gemäß, von der Tätigkeit des Anerkennens auf das Gebiet der Kritik begeben.

Der Herr Reichskanzler und Ministerpräsident hat am 19. Februar im Reichstage erklärt: Bürokratisches Regiment führt unser Volksleben zum Absterben. Wenn der Herr Ministerpräsident diesen Gedanken wirklich in seiner vollen Bedeutung in sich aufgenommen hätte, so würde er bei den gegenwärtigen bürokratischen preußischen Zuständen nicht einen Tag Ministerpräsident in Preußen sein können, denn er würde sich sagen müssen, dass er sich zum Mitschuldigen eines Regiments mache, das so bürokratisch ist, wie irgendeines in der Welt überhaupt sein kann, und das infolgedessen nach seinem Diktum zum Absterben der Volksgesundheit beitragen müsse. Es ist ja bekannt, dass wir in Preußen den Polizeistaat katexochen haben in einem viel höheren Sinne, als er irgendwo anders existiert. Wir haben zwar einen dünnen Firnis des Rechtsstaats über den Polizeistaat ausgebreitet, aber dieser Firnis ist so dünn, dass man den Rechtsstaat nur ein klein wenig zu kratzen braucht, und sofort kommt der Polizeistaat heraus. Der Paragraph 10 I 17 des Allgemeinen Landrechts, der im Allgemeinen die Aufgaben der Polizei präzisiert, formuliert die Aufgaben der Polizei so, dass man sagen kann, alles Erdenkliche und noch einiges dazu gehört zu den Aufgaben der Polizei. Der Standpunkt, den unsere Gerichte einnehmen, der Standpunkt, den die Verwaltung selbst einnimmt, ist der, dass alles dasjenige, was nicht durch spezielle Gesetze der Zuständigkeit der Polizei entzogen ist, der Zuständigkeit der Verwaltung verblieben ist.

Es ist sicherlich zutreffend, dass wir in unserem preußischen Landrat den Zentralpunkt, die Quelle aller wesentlichen Erfahrungen erblicken dürfen, die einer verständigen Verwaltung, einer gesunden Entwicklung des preußischen Volks erwachsen sind und erwachsen. Abgeordneter von Woyna hat bei Gelegenheit eines anderen Gegenstandes gemeint, dass die Kreisblattpresse durchaus mit Unrecht als eine Landratspresse bezeichnet werde. Ich glaube, dass der Abgeordnete von Woyna sich hier im Unrecht befindet. Schon die Erfahrungen, die er persönlich gemacht hat, sprechen ja nicht einmal für seine Behauptung; denn es konnte ihm damals Schlag auf Schlag nachgewiesen werden, dass er selbst nicht in dieser Weise praktiziert habe, es konnte ihm selbst eine Einwirkung auf die Presse nachgewiesen werden.

(Widerspruch rechts.)

Dass er bloß eine Einwirkung im freiheitlichen Sinne geübt habe, dass war das einzige, was er zu seiner Entschuldigung beibringen konnte. Er konnte nicht bestreiten, dass eine Einwirkung auf die Haltung des Kreisblatts stattgefunden habe. Im Übrigen hat doch jedermann, der auch nur ein klein wenig praktisch mit dem platten Lande und den Landräten in Berührung kommt, tagtäglich Gelegenheit, die Erfahrung zu machen, dass die Kreisblattpresse nichts weiter ist als ein gefügiges Instrument in der Hand der Landräte.

(Widerspruch rechts.)

Es ist ein großes Verdienst des Bürgermeisters Schücking1, dass er die Aufmerksamkeit auch auf diese Einwirkung der Landräte auf die Presse gerichtet hat, und es wird gegenüber dem Zeugnis dieses erfahrenen Verwaltungsbeamten, dieses viel gewanderten Verwaltungsbeamten, nicht möglich sein, diese Tatsache zu bestreiten. Selbstverständlich ist es richtig, dass der Landrat nicht sämtliche Artikel in der Kreisblattpresse schreibt; aber es ist zweifellos, dass er die allgemeine Haltung der Kreisblätter überwacht. Wir haben es doch sogar erlebt, dass Zeitungen, die sich nicht ganz im Sinne der jeweiligen Auffassung der Verwaltung gehalten haben, die amtlichen Bekanntmachungen verweigert worden sind. In Potsdam-Spandau-Osthavelland habe ich Gelegenheit gehabt zu beobachten, in welch enger Fühlung das Landratsamt mit dem Nauener Kreisblatte steht.

Die Kreisblätter sind allerdings im Übrigen Ablagerungsstätten für die Produkte des Reichslügenverbandes gegen die Sozialdemokratie.

(Zurufe rechts.)

Ja, ich wiederhole: des Reichslügenverbandes! Aber davon abgesehen, übt der Landrat noch seine möglichst verschlimmernde Wirkung auf die Haltung dieser Zeitungen aus.

Die Verwaltungsreform darf ja heute besprochen werden. Ich habe natürlich nicht die Absicht, im Einzelnen über die Verwaltungsreform, wie sie nach unserer Auffassung stattfinden müsste, zu reden; aber ich betone, dass das Wesentlichste einer wirklichen Verwaltungsreform nicht etwa die Beseitigung irgendwelcher technisch-bürokratischer Schwierigkeiten sein darf. Es kann auch nicht genügen, die Zuständigkeiten zu verändern. Die Pläne, die der Herr Minister des Innern in dieser Richtung hat, sind geradezu gefährlich – darf ich sagen; denn sein Wunsch, die Landratsallmacht über das bisherige Maß hinaus durch Zuweisung weiterer Gegenstände noch zu vermehren, ist allerdings im höchsten Maße bedenklich, und ich kann wohl daran erinnern, dass im vergangenen Jahre selbst aus den Kreisen der Konservativen Partei gegen diese Pläne des Ministers Widerspruch erhoben worden ist.

Das Wesentlichste, Wichtigste jeder wahren Verwaltungsreform in Preußen hat zu sein, dass Rechtsgarantien gegen die Verwaltung geschaffen werden, dass die Verwaltung unter eine unabhängige gerichtliche Kontrolle gestellt wird, dass das unerträgliche System beseitigt wird, nach welchem die Verwaltung in weitestem Umfange jeglicher Kontrolle auch durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit entzogen ist, nach welchem es auf weiten Gebieten nichts anderes als den einfachen Aufsichtsweg gegen Verwaltungsmissbräuche gibt, den Aufsichtsweg, dessen wesentlicher Sinn der ist, dass man den Teufel beim Beelzebub verklagt. Sobald die Frage der Verwaltungsreform aktueller sein wird, wird unsere Partei mit allem Nachdruck darauf hinwirken, dass Preußen auch auf diesem Wege aus einem Polizeistaat in einen Rechtsstaat gewandelt werde.

Wir haben einige spezielle Anträge gestellt, die in dieser Richtung wirken sollen und sich darauf beziehen, dass die Verfügungen der Oberverwaltungsbehörden künftig mit Gründen und mit Beweismitteln versehen werden müssen, damit es den von Verwaltungsverfügungen betroffenen Personen möglich ist, sich zu verteidigen, was gegenwärtig nicht gegeben ist. Wir fordern, dass gegen alle Verwaltungsmaßregeln mindestens der Verwaltungsstreitweg eröffnet werden kann, des weiteren, dass der Konflikt, dieses unglückselige Gebilde, das der Verwaltung ermöglicht, ad libitum alle möglichen ihr unbequemen Sachen den ordentlichen Gerichten zu entziehen, auf zivil- und strafrechtlichem Gebiete beseitigt werde. Wir halten es für selbstverständlich, dass eine Verwaltungsreform nur dann wirklich Erfolg haben kann, wenn auch in größerem Umfange als bisher die zivil- und strafrechtliche Haftung der über ihre Amtspflicht hinausgehenden Beamten gesetzlich statuiert wird.

Von einem der Herren Vorredner ist auch von dem kommunalen Wahlrecht gesprochen worden. Selbstverständlich, meine Herren, halten wir Sozialdemokraten die Demokratisierung der gesamten Verwaltung von unten bis zur obersten Spitze hinauf für das Ziel, das wir zu erstreben haben, und für das einzige Mittel, das wirklich geeignet ist, die Verwaltung aus einem Instrument der Herrschaft des Bürokratismus, das es gegenwärtig ist, zu einem Instrument des Volkswillens zu machen. Deshalb sind wir Sozialdemokraten selbstverständlich Anhänger, Befürworter und Vorkämpfer für ein demokratisches Wahlrecht auch in den Gemeinden. Unsere programmatische Forderung in Bezug auf das allgemeine, gleiche, geheime, direkte Wahlrecht für Angehörige beiderlei Geschlechts gilt ganz selbstverständlich auch für das kommunale Wahlrecht, und alle Bestrebungen, auf diesem Gebiet Besserung zu schaffen, werden bei unserer Partei mit aller uns zu Gebote stehenden Macht Unterstützung finden.

Meine Herren, ich will mich auf ein Gebiet begeben, das im Allgemeinen der öffentlichen Behandlung entzogen zu werden pflegt, aber nur mit wenigen Worten, nämlich auf das Gebiet der Sittenpolizei. Ich habe im „Berliner Tageblatt" vom 12. Februar dieses Jahres einen von dem Kriminalkommissar von Treskow I herrührenden, sehr bemerkenswerten und verständigen Artikel gefunden, der sich mit der Frage des internationalen Mädchenhandels und der Prostitution befasst. Dieser Herr, der durch seine Praxis in so intime Berührung mit den traurigsten Auswüchsen unserer Gesellschaftsordnung kommt, hat unter dem Eindruck dieser lebendigen Erfahrung einen Standpunkt der Prostitution gegenüber gewonnen, der durchaus demjenigen der Sozialdemokratie entspricht. Es macht der Einsicht dieses Herrn große Ehre, dass er es wagt, diesen Standpunkt öffentlich zu vertreten. Er sagt:

Opfer des Mädchenhandels sind die Frauen und Mädchen, die infolge ihrer schlechten wirtschaftlichen Lage und ihrer geringen Bildung geneigt sind, sich verkaufen zu lassen. Diese Unglücklichen leben in so kümmerlichen sozialen Verhältnissen, dass sie das Höchste, was sie haben, ihre Geschlechtsehre und ihre Freiheit, für schnödes Geld und kurzes Wohlleben, ohne an die Folgen zu denken, bedingungslos hingeben."

Er fügt dann weiter hinzu, nachdem er einige andere Ursachen angeführt hat:

Hauptsächlich sind es aber nicht diese Eigenschaften, die das Kennzeichen der geborenen Dirnen sind, die das Mädchen dem Laster entgegenführen, sondern es ist die bittere Not, die für das Heer der Prostituierten immer neue Scharen anwirbt."

Meine Herren, wenn man diesen Standpunkt bei der Beurteilung der Prostitution festhalten will, so ergibt sich ganz von selbst die Verpflichtung, dass man die Prostituierten als unglückselige Opfer unserer gegenwärtig herrschenden Zustände betrachten und alle unnötigen Härten in der Behandlung dieser unglücklichen Wesen vermeiden muss, dass man es ihnen vor allen Dingen mit allen Mitteln erleichtert, in ein geordnetes bürgerliches Leben zurückzukehren. Ich bedauere, dass unsere Polizei auf diesem Gebiet der Regel nach noch von dem engsten polizeilichen Geist beseelt ist. Ich bedaure, dass unsere Polizei noch nicht dazu übergegangen ist, die gesamte Reglementierung der Prostitution aufzuheben und durch einen allgemeinen erhöhten Gesundheitsschutz der Bevölkerung gegenüber den Geschlechtskrankheiten zu ersetzen; ich bedaure, dass den Anregungen, die gerade auf diesem Gebiete vielfach von den zuständigen Instanzen, insbesondere von der Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, gegeben sind, von der Polizei bisher noch nicht in nennenswertem Umfange Folge gegeben ist.

Ein anderes Gesetz, dessen Beseitigung aufs dringendste erwünscht ist, ist das Vagabundengesetz, das ja der Regierung die Möglichkeit gibt, einheimische preußische Staatsbürger nach ihrem Belieben, wenn sie vorbestraft sind, als Neuanziehende aus jeder Gemeinde auszuweisen. Dass das Vagabundengesetz im höchsten Maße unsozial wirkt und eine Härte darstellt, die in keiner Weise gerechtfertigt ist, ist ja wiederholt in der Öffentlichkeit nachdrücklich hervorgehoben worden. Der Fall des bekannten Hauptmanns von Köpenick, des Schumachers Voigt, hat zur Erörterung der Bedenken, die dieser Bestimmung gegenüberstehen, Anlass gegeben. Wir haben einen Antrag auf Aufhebung dieses Vagabundengesetzes gestellt. Bei anderer Gelegenheit wird man daher näher auf diese Frage einzugehen haben.

Wenn ich mich jetzt kurz mit der polizeilichen Zensur, insbesondere der polizeilichen Kunstzensur, befassen soll, so darf ich wohl die Behauptung aufstellen, dass unsere Polizei auf diesem Gebiet ihrer Aufgabe durchaus nicht gewachsen ist. Wir erleben es ja gar zu oft, dass die Polizei gegen wirklich wertvolle Produkte, sei es der literarischen, sei es der bildenden Kunst, einschreitet, dass sie unsittliche Schriften, unzüchtige Abbildungen erblickt in klassischen Denkmälern, in wertvollen literarischen Leistungen. Wiederholt hat gerade die preußische Polizei den Spott der ganzen Kulturwelt herausgefordert durch die Engherzigkeit, mit der sie hier verfährt, durch den absoluten Mangel an höherem Kunstverständnis, den sie in ihrer Kunstzensur dokumentiert.

(Lachen rechts. „Sehr richtig!" links.)

Wir werden noch Gelegenheit haben, diesen Punkt näher zu erörtern; aber das darf ich wohl – ich will mich parlamentarisch ausdrücken – als meine Auffassung auf diesem Gebiete formulieren, dass die Polizei, wenn sie als Kunstzensor aufzutreten beliebt, nicht viel anderes anzurichten pflegt als jenes berühmte Tier mit den langen Ohren im Porzellanladen.

Ein anderes Gebiet, auf dem in der Tat dringend Remedur geboten ist, ist das der Misshandlungen durch Polizeibeamte. Meine Herren, die Rubrik „Schutz vor Schutzleuten" ist in unserer Presse geradezu ständig geworden. Sie wurde zunächst eingeführt in sozialdemokratischen Zeitungen, aber schon seit recht langer Zeit haben auch allerhand bürgerliche Zeitungen dieses Schlagwort übernommen.

(Zuruf.)

Nicht nur das „Berliner Tageblatt"! Aber das ist ja eben auch kein sozialdemokratisches Blatt.

(Lachen rechts.)

Das ist ja doch nur unsere Ehre, meine Herren: Wenn einmal eine bürgerliche Zeitung anfängt, vernünftig zu werden, dann nennen Sie sie sozialdemokratisch.

(Lachen rechts. „Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Misshandlungen durch Polizeibeamte, sei es auf der Straße bei Ausübung ihres Amtes, sei es auf den Polizeiwachen, sind äußerst häufige Erscheinungen. Ich habe darüber ein ungeheuerliches Material, ich werde es Ihnen aber nicht vortragen, um nicht von neuem den Vorwurf auf mich zu laden, als ob ich in frivoler Weise mit Ihrer Zeit spielte. Aber, meine Herren, ich darf wohl darauf hinweisen, dass die Polizeiwachen besonders in Hannover, in Dortmund, in Breslau bei der ganzen Bevölkerung sozusagen als Folterkammern verrufen sind, in denen geradezu gewohnheitsmäßig und systematisch geprügelt wird. Diese Art der „Behandlung" des Publikums durch die Polizei, die auch in Berlin nicht ganz selten ist, ist wiederholt in Hannover Gegenstand gerichtlicher Verhandlungen gewesen – ich habe einige solcher Fälle neulich bei Gelegenheit des Justizetats vorgetragen –, ebenso in Breslau, in Dortmund und bekanntlich – neben vielen anderen Orten – auch in Berlin.

Was speziell Breslau anlangt, so hat unsere Partei da seit einiger Zeit einen neuen Weg eingeschlagen. Sie hat die Erfahrung gemacht: Wenn sie die Behauptungen über Misshandlungen auf der Polizeiwache einfach in die Presse lieferte, so wurde ihr eine Anklage auf den Hals gehetzt, und da naturgemäß die Schutzleute wenig geneigt sind, der Wahrheit die Ehre zu geben, wo es sich bei ihnen um Kopf und Kragen handelt, so sind unsere Parteigenossen natürlich der Regel nach hereingefallen. Sie haben deshalb neuestens den Weg beschritten, die misshandelten Personen auf das Polizeipräsidium zu bringen und dort persönlich um Abhilfe nachzusuchen. Bisher ist leider ein nennenswerter Erfolg auch durch diese Methode nicht erreicht worden, und selbstverständlich ist unsere Partei nicht imstande, die öffentliche Besprechung solcher Missstände auch nur im allergeringsten zu inhibieren, solange diese Missstände tatsächlich bestehen.

Es ist ja in der Tat bedauerlich, dass man darauf hinweisen muss, wie unsere Gerichte immer wieder, sooft ihnen auch Missbräuche und Ausschreitungen von Polizeibeamten bewiesen worden sind, dennoch, wenn ihnen nicht jedes Mal geradezu ein strikter Beweis einer solchen Misshandlung erbracht wird, sich für verpflichtet erachten, bei Auswerfung des Strafmaßes die nicht erweislich richtig bezichtigten Polizeibeamten in einer Weise in Schutz zu nehmen, die, meines Erachtens, durchaus nicht am Platze ist. Unsere Gerichte sollten sich darüber klar sein, dass die Polizei für das Publikum da ist, nicht umgekehrt; sie sollten sich darüber klar sein, dass jeder Staatsbürger, der Missstände in der Polizei zur Sprache bringt, damit in der Tat die berechtigtesten Interessen der Bevölkerung wahrnimmt, dass er sich ein Verdienst erwirbt und dass es nicht möglich ist, in solchen Dingen wirklich energisch einzugreifen, ohne dass man auch mal danebengreift. Wenn die Gerichte einsehen würden, dass alle diese Angriffe gegen die Polizei einem heiligen und ernsten Streben nach Besserung unserer innerpolitischen Verhältnisse entspringt, dann würden sie nicht derartige rigorose Urteile fällen können, wie sie leider bei uns noch fast allgemein üblich sind.

Meine Herren, wir Sozialdemokraten fordern die Aufhebung des bekannten Kontraktbruchgesetzes, das den Kontraktbruch der ländlichen Arbeiter und des Gesindes unter ernste Strafen stellt; das sollte eine Ehrenpflicht für den preußischen Staat sein, da dieses Gesetz in schwerer Weise die Kulturstellung Preußens diskreditiert. Es wird uns Gelegenheit gegeben sein, bei einem anderen Punkte das Augenmerk der Öffentlichkeit auf die schweren Missstände zu lenken, die gerade aus dem Bestehen dieses Kontraktbruchgesetzes hervorgehen.

In welchem Umfange die Polizeiverwaltung befugt zu sein glaubt, in die Arbeiterverhältnisse einzugreifen, das beweist ja ihr Vorgehen in Bezug auf den Legitimationszwang gegenüber den ausländischen Arbeitern. Meine Herren, meine persönliche Überzeugung ist die, dass dieser Legitimationszwang ungesetzlich ist, dass die Ministerialverordnungen, auf denen er beruht, jeder gesetzlichen Grundlage entbehren. Da man aber in diesem Fall leider nur in der Lage ist, den Teufel beim Beelzebub zu ergreifen, da nur der Aufsichtsweg eingeschlagen werden kann, weil es sich um Ausländer handelt, so ist man nicht in der Lage, sich wirksam gegen diese unerträgliche Praxis unseres Ministeriums des Innern zu verwahren. Dabei hätte das Ministerium des Innern Veranlassung nehmen sollen, seine rückständigen Anschauungen zu revidieren, nachdem besonders aus Italien, aus Österreich von den dortigen Regierungen, den dortigen Parlamenten ernste Appelle an die preußische Regierung gelichtet worden sind auf Beseitigung dieser nach Auffassung der ausländischen Regierungen auch vertragsbrüchigen Maßnahmen. Ganz besonders unerträglich ist dieser Legitimationszwang, weil die einzelnen Verfügungen auf diesem Gebiete der Regel nach verknüpft werden mit bedingten Ausweisungsverfügungen. Dadurch eben wird es der Regierung ermöglicht, alle Maßnahmen auf dem Gebiete des Legitimationszwanges der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts vollständig zu entziehen, weil es auf dem Gebiet der Ausweisungen von Ausländern nach besonderer Bestimmung des Gesetzes keine Klage beim Oberverwaltungsgericht gibt. Meine Herren, Einzelheiten hierüber will ich auch im Augenblick nicht anführen; eine andere Gelegenheit dazu wird sich finden.

In welchem Umfange die preußische Polizei in die sozialen Kämpfe eingreift, dafür ist jeder Tag ein neuer Beleg. Die Polizei nimmt in einer ganz einseitigen, rücksichtslosen, überlegten Weise Partei gegen das kämpfende Proletariat, sie ergreift in ganz einseitiger, rücksichtsloser und wohlüberlegter Weise Partei für das Unternehmertum, für die sogenannten nützlichen Elemente, für die Arbeitswilligen, für die Streikbrecher. Meine Herren, das ist ein Gebiet, auf dem von der preußischen Polizei so viel Material angehäuft worden ist für die Sozialdemokratie zur Aufreizung der Volksmassen, zur Aufrüttelung der schärfsten Empörung gegen das preußische Regiment, dass Sie, die Sie außerhalb der Arbeiteragitation stehen, gar keine Ahnung davon haben, welche wertvolle Stütze die Polizei uns gerade durch diese Art des Verfahrens in unserem Bestreben verschafft, das Volk aufzuklären und zu gewinnen für die Sozialdemokratie. Meine Herren, wir könnten natürlich, wenn wir uns rein auf den Standpunkt einer Fraktionspolitik stellen wollten, der Regierung nur dankbar sein für eine derartige einseitige Stellungnahme, für eine derartige Aufdeckung ihrer inneren Gesinnung, für einen derartigen Beweis gegenüber dem Proletariat, dass die Regierung, wie auch immer sie den bürgerlichen Parteien gegenüberstehen mag, doch der Arbeiterklasse gegenüber nur die Stellung eines rücksichtslosen Feindes eingenommen hat und einzunehmen gewillt ist, der die Arbeiterklasse in ihren Bestrebungen bis aufs Blut bekämpft. Das hat das Proletariat begriffen, und wesentlich darin liegt die Ursache für den abgrundtiefen Hass, mit dem der preußische Staat, mit dem das preußische Polizeiwesen von dem preußischen Proletariat betrachtet wird, die Ursache für den abgrundtiefen Hass gegen alles preußische Wesen, der schließlich doch mal den Herren eine Grube gräbt, in die sie selbst hineinfallen werden.

(Zuruf rechts.)

Wir werden in eine solche Grube nicht hineinfallen, denn uns gehört die Zukunft.

(Lachen rechts.)

Ganz gewiss. Sie müssen ja lachen, Sie sind ja verpflichtet zu lachen, aber ich darf Sie wohl nur an das Sprichwort erinnern: Wer anderen eine Grube gräbt –

(Zuruf rechts.)

fällt selbst hinein. Dieses Sprichwort passt ganz vorzüglich auf die Regierung.

Meine Herren, in welch einseitiger Weise bei jeder Gelegenheit die Arbeitswilligen von der Polizei in Schutz genommen werden, in welch unerträglicher Weise den Arbeitern das Streikpostenstehen unmöglich gemacht wird, das habe ich schon beim Justizetat gestreift. Ich darf hier von Neuem brandmarken, dass geradezu ein schnöder Missbrauch mit den Bestimmungen unserer Straßenpolizeiordnung geübt wird zur Verhinderung aller dem Unternehmertum unbequemen Regungen der Arbeiterklasse, speziell auf dem Gebiete des Streikpostenstehens und des Boykottpostenstehens. Meine Herren, die Straßenpolizeiverordnungen sind nicht zu dem Zwecke geschaffen, dass irgendein Polizeibeamter einem ruhig seiner Wege gehenden oder auf der Straße stehenden Bürger, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen, die Aufforderung zuteil werden lässt, einen gewissen Bezirk zu verlassen, und dass der Betreffende, wenn er dem nicht Folge leistet, eingesperrt wird.

Dann, meine Herren, denken Sie an eine weitere Bestimmung der Berliner Straßenordnung. Danach ist es verboten, auf den Granitplatten zu stehen. Meine Herren, wer von Ihnen weiß denn, dass es verboten ist, auf den Granitplatten zu stehen? Jeder von uns pflegt ungehindert auf den Granitplatten zu stehen. Es ist mir noch nie zu Ohren gekommen, dass das Stehen auf der Granitbahn irgendwie im Sinne der Straßenordnung zum Gegenstand eines Strafverfahrens gemacht worden sei. Aber diese Bestimmung ist unerhörterweise vielfach in Berlin und anderwärts angewandt worden, um Streikposten, gegen die man nicht einmal auf die Weise, die ich vorher erwähnt hatte, einschreiten konnte, das Stehen auf den Straßen unmöglich zu machen und sie in Strafe zu nehmen. Die Arbeiterschaft weiß demgegenüber wahrlich, was sie zu tun hat. Sie weiß, dass sie keiner unparteiischen Behörde, sondern dass sie in der Polizei einem wohl gerüsteten Feinde gegenübersteht, der mit wohlüberlegter Taktik der Arbeiterschaft alle möglichen Schwierigkeiten zu bereiten sucht, und sie richtet ihre Taktik danach ein.

Ein anderer Beweis dafür, in welch einseitiger, rücksichtsloser und pflichtwidriger Art die Polizei die Arbeiter verfolgt, im Gegensatz zu den übrigen Klassen, ist die Handhabung des Plakatgesetzes, des preußischen Pressgesetzes. Die Plakate, die in Preußen überall aufgehängt sind, widersprechen zu einem ungeheuren Prozentsatz dem preußischen Pressgesetz, und es kräht kein Hahn danach, ob jemand Plakate aufhängt, dem die polizeiliche Erlaubnis dazu fehlt. Ich habe noch nie erlebt, dass da ein Einschreiten der Polizei stattgefunden hätte. Wenn hingegen die Sozialdemokratie oder eine sonstige unbequeme soziale Bewegung im Spiel ist, dann wird plötzlich dieses sonst völlig obsolete Gesetz herausgeholt und gegen die Arbeiterklasse angewandt. Ich erinnere an die Anwendung des preußischen Pressgesetzes gegen die bekannten Bäckerboykottplakate und gegen die Gewerkschaftsplakate – aus den Gewerkschaftswirtschaften sind vielfach die Gewerkschaftsplakate herausgenommen worden, in denen nichts weiter als Statuten der Gewerkschaften und die Aufforderung zum Eintritt in die Gewerkschaften enthalten war –; ferner gegen die Plakate der freireligiösen Gemeinden, die nur darauf aufmerksam machten, dass in bestimmten Wirtschaften oder Kaufläden Formulare zum Austritt aus der Landeskirche zu haben seien. Solche Plakate werden verfolgt auf Grund des preußischen Pressgesetzes, gegen das jeder verstoßen kann, wie es ihm passt; nur darf es der Regierung nicht unbequem sein. Die Plakate, die von unseren Parteigenossen hier und da ausgehängt werden, in denen die Wahlmänner und die Wähler nach der Art ihrer Abstimmung bei den Landtagswahlen bezeichnet waren, sind, nachdem die Polizei vergeblich den Versuch gemacht hatte, mit dem Groben-Unfugs-Paragraphen dagegen einzuschreiten, nunmehr auf Grund des preußischen Pressgesetzes gepackt worden. Es darf ein Preis ausgesetzt werden für den, der irgendeinen Fall der Anwendung, des preußischen Pressgesetzes gegen andere als gegen Sozialdemokraten, als gegen die Gewerkschaften und die freireligiöse Bewegung ausfindig machen könnte!

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Einzelheiten darüber werden an anderer Stelle vorzubringen sein.

Dass diese Art des Verhaltens der Polizei auch in Richterkreisen vielfach böses Blut erregt hat, das beweist das Landgericht Köln. Nachdem das Kammergericht seine Judikatur in Bezug auf das Streikpostenstehen entsprechend dem Willen der Polizei verschlechtert hatte, musste sich das Kölner Landgericht wohl oder übel fügen; aber unter einer demonstrativen Begründung gegen die unerträgliche Judikatur des Kammergerichts und die Praxis der Polizei erkannte es regelmäßig nur auf die niedrigst zulässige Strafe, mit einem gewissen Bedauern, dass es überhaupt genötigt sei, zu verurteilen.

Ich komme auf das Thema der Saalabtreibungen. Diese sind für die Sozialdemokratie eine sehr wichtige Angelegenheit. Die Sozialdemokratie hat auch nach dem neuen Vereinsgesetz leider nicht die Möglichkeit, in größerem Umfange von Versammlungen unter freiem Himmel Gebrauch zu machen. Deshalb bedeutet der Besitz eines Versammlungslokals in weitem Umfange überhaupt die erste Voraussetzung für die Möglichkeit einer Propaganda und einer Agitation, wie sie ja von allen Parteien in diesem Hause außerhalb des Hauses entfaltet wird. Meine Herren, diese Saalabtreibungen sind zweifellos, sobald sie von Behörden ausgehen, gesetzwidrige Akte. Sie sind Amtsmissbräuche grober Art, und es ist kein anderer als der Herr Ministerpräsident, der im Reichstage bei Gelegenheit der Beratung des Vereinsgesetzes die Erklärung abgegeben hat, dass ein derartiges Vorgehen der Behörden geradezu als strafbar zu erachten sei. Ja, meine Herren, ich darf verraten, dass in dem eigenen früheren Verwaltungsgebiet des Herrn Ministerpräsidenten, im Kreise Osthavelland, derartige Saalabtreibungen gar nichts Seltenes gewesen sind. Ich kann speziell auch den Herrn Minister des Innern, der längere Zeit dem Kreis Osthavelland vorgestanden hat, darauf hinweisen, dass derartige von Behörden und Beamten geübte Saalabtreibereien außerordentlich häufig gewesen sind. Meine Herren, ich habe das persönlich durchgemacht. Wir kamen in irgendein Lokal, um mit dem Wirte über die Freigabe des Lokals zu sprechen. Der Gendarm ist uns gefolgt; wenn ich mit dem Wirte spreche, stellt sich der Gendarm immer neben ihn hin. er lässt den Wirt nicht einen Augenblick aus den Augen, sorgt dafür, dass jedes Wort von dem Wirt in seine Ohren hinein dringt. Und wenn dann unser Versuch abgeprallt ist, kommt er, wenn wir fort sind, nochmals zu dem Wirt und steift ihm den Rücken und sorgt dafür, dass er sich allen sozialdemokratischen Anfechtungen gegenüber ablehnend verhalten muss.

Die Vorgänge, die ich gerade im Kreise Osthavelland persönlich erfahren habe, genügen bereits, um in mir die Überzeugung, dass auf diesem Gebiet schwere Missstände bestehen, aus ganz lebendiger Erfahrung heraus zu befestigen. Und die Regierung wird nicht imstande sein zu behaupten, dass seit Einführung des Reichsvereinsgesetzes die Verhältnisse besser geworden sind, trotz der Versprechungen des Herrn Ministerpräsidenten. Ich darf an den berüchtigten Fall des Amtsvorstehers Guradze in Oswitz erinnern, der von mir bei Gelegenheit des Justizetats vorgetragen worden ist. Dieser Amtsvorsteher hat in geradezu unerhörter Weise den Wirten, die der Sozialdemokratie ihre Säle hergegeben haben, das Leben unmöglich gemacht, indem er ihnen die Konzession herabgesetzt und die Genehmigung zu Lustbarkeiten verweigert hat, die natürlich notwendig sind, damit eine solche Wirtschaft sich halten kann.

Ein Fall aus der Gegend von Prenzlau war ganz besonders unerhört, und in diesem Fall, etwa aus dem Jahre 1905, hat das Oberverwaltungsgericht selbst Veranlassung genommen, einzuschreiten und Remedur zu schaffen. Es handelte sich um einen Gastwirt in einem kleinen Ort, der der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften seine Säle herzugeben begann. Sofort wurde ihm die Polizeistunde herabgesetzt, nicht nur auf das ortsstatuarische Maß, sondern erheblich darunter, auf acht beziehungsweise neun Uhr abends.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Damit nicht genug! Der Mann wurde von der Polizei in unerträglicher Weise verfolgt, jeden Tag wurde er revidiert. Da steckte der Gendarm seine Nase in die Krippe, die vor seiner Tür stand, ob sie auch vorschriftsmäßig gereinigt war, leuchtete nachts mit der Laterne hinein, und wenn er etwas fand, erstattete er Anzeige, dass die Reinigung nicht pflichtgemäß vorgenommen sei. Unerträgliche Schikanen wurden über den Mann ausgeschüttet; er wurde verantwortlich gemacht für eine Schlägerei, die sich ein paar hundert Meter von seinem Lokal entfernt abgespielt hatte, und dergleichen. Die Polizei erreichte in diesem Fall nichts, als dass der Mann etwa ein halbes oder ein dreiviertel Jahr lang in seiner Existenz aufs schwerste geschädigt war. Es wurde allerdings überall auf Freisprechung erkannt, die verschiedenen Angeklagten kamen schließlich mit dem blauen Auge, dass sie auf der Anklagebank hatten sitzen müssen, davon. Das Verwaltungsgericht hat schließlich in geradezu vernichtender Begründung die Maßnahmen der Polizeiverwaltung, die die Polizeistunde herabsetzte, als unzulässig aufgehoben und deutlich erkennen lassen, dass die Polizeiverwaltung in diesem Fall nur aus politischen Gründen in so rigoroser Weise eingeschritten ist, dass also ein Amtsmissbrauch gröbster Art vorgelegen hat, dass die Polizeibehörde sich nicht gescheut hat, ihre Amtsgewalt zur Durchsetzung ihrer persönlichen politischen Meinung zu missbrauchen. Das ist doch ein Beweis dafür, dass die Polizei, besonders auf dem flachen Lande, geradezu unerträglich ist in ihrer Parteilichkeit und Feindseligkeit gegen die berechtigten Formen des proletarischen Emanzipationskampfes. – Wenn Sie unsere Parteigenossen auf dem jüngsten preußischen Parteitag gehört hätten! Ich habe einige Fälle dieser Art vorgetragen, allenthalben wurde mir entgegen gerufen: Diese Fälle sind bei uns ebenso endemisch, nicht irgendwo nur an einem besonderen Ort zufällig und lokalisiert. – Was kann denn berechtigter und legaler sein als der Versuch, sich Versammlungslokale zu verschaffen! Wenn Sie dem Volk in solcher Weise ungesetzlich die Möglichkeit nehmen, seine politischen Angelegenheiten in Versammlungslokalen zu ordnen, so drängen Sie es geradezu auf den illegalen Weg, und Sie werden, soweit er eingeschlagen wird, stets von der Weltgeschichte als der schuldige Teil betrachtet werden müssen.

Was das Gebiet der Vereine anlangt, so will ich mich zunächst in Kürze mit den Jugendorganisationen befassen. Man darf wohl davon sprechen, dass hier eine wahre Misshandlung durch die Polizei stattgefunden hat und stattfindet. Ich will nicht von den verschiedenen Versuchen der Bespitzelung der Jugendorganisationen sprechen. Ich will auch nicht davon sprechen, in welch unerhörter Weise die Polizei vielfach das Vereinsgesetz gegen die Jugendlichen mit Füßen getreten hat, auch in der Umgebung von Berlin. Ich selbst bin in wiederholten Fällen in Spandau, in Steglitz usw. Zeuge gewesen, dass die Polizei in Jugendversammlungen, die sie selbst als unpolitisch anerkannt hat, indem sie ihre Abhaltung gestattete, doch entgegen den Bestimmungen des Vereinsgesetzes Delegierte sandte.

Aber, meine Herren, ich muss von der Auflösung der Jugendorganisationen speziell in Berlin, in Breslau und Königsberg sprechen.

Diese Auflösungen sind ungesetzlich. Es kann nicht davon die Rede sein, dass der Zweck der Jugendorganisationen dem Gesetze widerspricht, wenn die Jugendorganisation in der Tat Politik treibt. Das ist eine grundsätzlich verkehrte Auslegung des Vereinsgesetzes. In dieser Ansicht steht die Sozialdemokratie nicht allein. Abgesehen davon aber haben sich die Jugendorganisationen des Proletariats bemüht, und zwar mit Erfolg bemüht, unpolitisch zu sein, reine Bildungsorganisationen zu sein, sozialpolitische Organisationen nach Art der Gewerkschaften.

(Rufe: „Aha!" rechts.)

Diese Jugendorganisationen sind sicherlich nicht im entferntesten so politisch wie etwa die Jugendorganisationen christlichen Charakters, wie die katholischen und die evangelischen und wie die nationalen Jugendorganisationen. Haben wir doch vielfach im Lande draußen – ich verweise speziell auf Potsdam – Jugendorganisationen, die noch heute den konservativen politischen Vereinen geradezu angegliedert sind.

(„Hört! Hört!" links.)

Meine Herren, es ist wiederum ein Messen mit zweierlei Maß, das hier zutage tritt. Im Schlussresultat werden Sie nicht der Sozialdemokratie schaden, sondern sich selbst. Die Jugendbewegung der Arbeiterklasse werden Sie nie und nimmer ertöten können, denn sie ist hervorgegangen aus derselben Quelle, aus der die gesamte proletarische Emanzipationsbewegung stammt. Eine Jugend, die gut genug ist, um in die Werkstätten ausgejagt, ausgebeutet, politisch verfolgt zu werden, die ist auch gut genug, um ein Versammlungsrecht zu besitzen, um sich zu organisieren. Das lassen Sie sich gesagt sein, meine Herren, die Jugendbewegung des Proletariats wird Mittel und Wege finden, um sich trotz der kleinlichen Maßnahmen des Herrn Kultusministers und des Herrn Polizeiministers ihre Wege zu bahnen. Ich darf wohl verraten, dass sogar nichts in der Jugendbewegung einen so frischen, fröhlichen Mut geschaffen hat als gerade der Kampf gegen die Polizei. Es ist so kurzsichtig wie möglich von Ihnen, dass Sie sich einbilden, eine Jugend, die kampfesfreudig und begeistert ist für ein Ideal, auf diese Weise unterdrücken zu können. Das Gegenteil wird der Erfolg Ihrer Tätigkeit sein. Ich möchte den Herrn Polizeiminister, den Herrn Minister des Innern bitten, sich einmal des Näheren über die ungeheure Zunahme der Mitglieder der Jugendorganisationen und der Abonnenten der „Arbeiterjugend", die gerade infolge der Verfolgung eingetreten ist, unterrichten zu lassen.

Dass man die Jugendbewegung bei uns in echt preußisch brutaler Weise verfolgt, beweist schlagend die eine Tatsache, dass vor einigen Jahren in Berlin auf die Besucher einer Jugendversammlung Polizeihunde gehetzt worden sind.

(„Hört! Hört!" links.)

Das beweist die Tatsache, dass die Gendarmen bei einem harmlosen Ausflug der Berliner Jugendorganisationen Anfang Juli des vergangenen Jahres in der rücksichtslosesten Weise eingeschritten sind, dass sie junge Mädchen, junge Leute in die Straßengräben hinein geritten und verfolgt haben, dass sie ihnen schließlich einen Aufruhrprozess an den Hals gehängt haben, der allerdings mit einem unsäglichen Fiasko für die Polizei geendet hat. Meine Herren, eine Bereicherung der Polizei durch weitere Züchtung von Polizeihunden ist ja bereits im gegenwärtigen Etat in Aussicht genommen; die Polizei wird nicht verfehlen, auch künftig die Polizeihunde gegen die Jugendorganisationen zu benutzen. Ich kann aber nur sagen, dass es bessere Agitatoren für die Jugendorganisationen gar nicht gibt und geben kann als derartige Polizeihunde, als derartige Gendarmen, als derartige Brutalitäten, mit denen man der Jugendbewegung bisher gegenübergetreten ist.

Meine Herren, was das Vereinsgesetz im Allgemeinen anbelangt, so ist ja durch die Verhandlungen des Reichstages und durch die Presse für jeden, der sehen und hören will, zur Genüge dargetan, dass die weitherzige, aller Schikane abholde Auslegung des Vereinsgesetzes, die der Herr Ministerpräsident glaubte in Aussicht stellen zu dürfen, in Preußen nicht zur Wahrheit geworden ist. Im Gegenteil, wir haben bei der Auslegung des Vereinsgesetzes mit allen denselben kleinlichen Schikanen des preußischen Polizeigeistes zu tun, die vor der Emanation des Reichsgesetzes in Preußen allenthalben üblich gewesen sind. Ich brauche ja nur an den Fall zu erinnern, der heute bereits von einigen anderen Rednern gestreift worden ist, an den Fall der Kieler Friedenskundgebung, wo dem englischen Sozialisten MacDonald das Wort abgeschnitten wurde, indem man ihm den Gebrauch der englischen Sprache verwehrte. Der Herr Minister hat gegenüber der allseitigen oder beinahe allseitigen Verurteilung seines Vorgehens geglaubt, sich dadurch retten zu können, dass er auf die gefährliche Situation hinwies, auf den schwedischen Generalstreik und den damals in Kiel entbrannten Streik der städtischen Arbeiter. Meine Herren, der Herr Minister hätte in der Tat gut getan, sich über die Kieler Vorgänge ein wenig zu orientieren: sonst hätte er gewusst, dass einige Wochen vorher, als die Spannung genau ebenso groß war, ich in Kiel unter freiem Himmel eine Versammlung abgehalten habe, an der über 10.000 Menschen teilnahmen, eine Versammlung, die in vollster Ruhe abgelaufen ist. Wenn der Herr Minister meint, die Besorgnis hegen zu müssen, dass die Kieler Arbeiter irgendwelchen Unfug gestiftet hätten, so glaube ich, wird er gerade durch diesen Vorgang auf das Deutlichste widerlegt; gerade durch diese Tatsache wird auf das Deutlichste bewiesen, dass der Herr Minister von einer weitherzigen Auslegung des Vereinsgesetzes himmelweit entfernt ist, dass im Gegenteil hier eine kleinliche Schikane gegenüber der Arbeiterbewegung geübt ist.

(Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. Porsch: Sie können dem Herrn Minister nicht vorwerfen, dass er eine kleinliche Schikane geübt hat.

Liebknecht: Meine Herren, allerdings ist die Versammlung, die damals abgehalten wurde, als ich in Kiel sprach, ungeheuer erregt gewesen,

(Abgeordneter Ramdohr: „Hört! Hört!")

aber erregt nur in dem Sinne der lebhaften inneren Erregung, nicht in dem Sinne, dass irgend die geringsten Exzesse nach außen stattgefunden hätten oder auch nur in möglicher Aussicht gestanden hätten.

(„Na! Na!" rechts.)

Es handelte sich damals um eine Versammlung, die gegen den Zarenbesuch in Deutschland protestierte, die speziell den Zweck verfolgte, die Meinung der Kieler Arbeiterschaft zum Ausdruck zu bringen, dass es eine Schande für Deutschland war, als der Zar deutschen Boden betrat.

(Lebhafte Unruhe. Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. Porsch: Herr Abgeordneter, ich rufe Sie zur Ordnung.

Liebknecht: Meine Herren, der Herr Minister hat dieses Verbot weiter damit zu decken versucht, dass für Ausländer das Reichsvereinsgesetz keine Geltung habe. Das ist formell ja vielleicht richtig, entspricht aber durchaus nicht dem Grundsatz des Völkerrechts und der internationalen Courtoisie, wonach den Angehörigen fremder Staaten grundsätzlich dieselbe Bewegungsfreiheit im Inlande gegeben ist wie den eigenen Staatsangehörigen. Meine Herren, der Herr Minister hätte in der Tat gut getan, in diesem Falle die unteren Polizeiorgane preiszugeben, statt den hilflosen und aussichtslosen Versuch zu machen, sie zu decken.

Meine Herren, in welcher Weise im Übrigen unter dem neuen Vereinsgesetz mit den alten Schikanen fortgefahren wird, das beweist der bekannte, lebhaft kommentierte Fall aus dem Königreich des Herrn von Heydebrand und der Lasa, in welchem zunächst einmal eine Versammlung ohne Angabe von Gründen verboten wurde. Der Amtsvorsteher fragte verwundert: „Was, habt ihr denn überhaupt ein Recht, Gründe zu hören?" Schließlich wurde dann mit Hängen und Würgen ein Grund herausgefunden, dass nämlich eine Scharlachepidemie ausgebrochen sei und dass das öffentliche Interesse die Abhaltung der Versammlung verhindere. Diese berühmte Scharlachepidemie hatte aber die Eigentümlichkeit, dass sie nicht existierte; es war nur in weiter Entfernung von dem Ort irgendein Kind einmal erkrankt gewesen, aber nicht an Scharlach. Dieser Fall aus Klein-Tschunkawe – ich glaube, so heißt ja wohl dieses meiner Zunge nicht ganz geläufige Wort – zeigt auf das Deutlichste, was wir in der weiteren Zukunft noch zu erwarten haben werden.

Meine Herren, es war bereits unter dem neuen Reichsvereinsgesetz, dass unsere Breslauer Parteigenossen sagen durften: Es existiert kein Reichsvereinsgesetz und kein preußisches Vereinsgesetz, sondern es existiert ein Breslauer Vereinsgesetz, ein Oswitzer Vereinsgesetz und ein oberschlesisches Vereinsgesetz, weil in allen diesen Gebieten das Vereinsgesetz in ganz verschiedener Weise gehandhabt wird.

Meine Herren, ganz besonders charakteristisch für den Geist unserer Polizeiverwaltung ist ein Fall, der sich im Mai des Jahres 1909 in Breslau abgespielt hat. Es ist Herr von Gerlach, der von diesem Fall betroffen ist. Er sollte eine Versammlung abhalten. Es wurde von einem gewissen Otto Hilbich, dem Schriftführer der Demokratischen Vereinigung, der Polizei am 7. Mai von dem Stattfinden der Versammlung Mitteilung gemacht; am 11. Mai sollte die Versammlung stattfinden. Versehentlich hatte der Herr unterlassen, die Stunde der Versammlung anzugeben. Jedoch klebten an allen Plakatsäulen Bekanntmachungen der Versammlung mit Angabe der Stunde. Aber in der Anmeldung war tatsächlich nichts über die Stunde gesagt. Die Breslauer Polizei bestätigte dem Herrn den Empfang der Anmeldung, wonach Dienstag, den 11. Mai, in der Börse eine Versammlung stattfinde. Diese Bescheinigung hielt der betreffende Herr naturgemäß für ausreichend. Er traute aber seinen Augen nicht, als er sah, dass die Polizei die Versammlung inhibierte, und zwar mit dem Hinweis darauf, dass ja die Stunde der Versammlung nicht angegeben sei. Außerdem wurde dem Veranstalter noch eine Klage wegen Übertretung des Vereinsgesetzes zuteil.

Meine Herren, ist es denn nicht geradezu unglaublich, dass die Polizei diese Anmeldung, nachdem sie sah, dass hier ein kleiner Fehler vorgekommen war, nicht aus den der Polizei natürlich bekannten Plakaten ergänzte, wie das jeder vernünftige Mensch, der nicht gerade schikanös sein wollte, getan hätte, oder dass die Polizei zurückgeschrieben hätte: es fehlt die Stunde der Versammlung. Zeit war ja noch genug dazu. Statt dessen ließ die Polizei in ganz überlegter Weise den Anmelder in dem Glauben, dass alles in Ordnung sei, um nachher die Versammlung zu inhibieren und eine Anklage vom Stapel zu lassen. Meine Herren, dieser Fall könnte ja fast komisch wirken, wenn er nicht eben als ein Ausfluss des engherzigen Polizeigeistes für die preußischen Verhältnisse verflucht ernst wäre.

Die außerordentlich engherzige Handhabung des Reichsvereinsgesetzes hat dem sozialdemokratischen Parteisekretär Paul Runge in Bochum Veranlassung gegeben, im November des vergangenen Jahres an den Herrn Reichskanzler eine Petition zu richten, die allerdings bis zum heutigen Tage ohne Antwort geblieben ist – selbstverständlich! In dieser Petition wird besonders darauf hingewiesen, dass die Gründe, aus denen die Polizeiverwaltung in der dortigen Gegend Versammlungen unter freiem Himmel zu verhindern pflege, durchaus unhaltbar und unerträglich sind. Da wird unter anderem von dem Herrn Regierungspräsidenten folgendes als Grund für die Versagung der Erlaubnis zur Abhaltung einer öffentlichen Versammlung angegeben:

dass die Versammlung an einem Sonntagnachmittag abgehalten werden sollte, an dem die Gemüter eines großen Teils der dortigen Bevölkerung erfahrungsgemäß infolge zuvorigen Alkoholgenusses leicht erregbar sind".

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, in den sozialdemokratischen Versammlungen pflegt man auf Ordnung zu halten

(Lachen rechts.)

und Betrunkene pflegt man in sozialdemokratischen Versammlungen nicht zu dulden. Das weiß dieser Herr Regierungspräsident ganz genau, und auch Sie, die Sie da lachen, wissen das ganz genau. Meine Herren, es ist eine Verlegenheitsausrede, an deren Ernst wir nicht glauben.

Dann wird weiter gesagt – und das ist bezeichnend –,

dass das Thema der Finanzreform zur Erörterung stand, das in den letzten Wochen seitens der sozialdemokratischen Partei in der Presse und in Versammlungen in verhetzender Weise zum Gegenstand von Erörterungen gemacht worden ist, um den Hass gegen die besitzenden Klassen zu schüren, und dass es unter den obwaltenden Umständen besonders ungeeignet wäre, darüber eine erhitzende Diskussion herbeizuführen".

Meine Herren, Sie sehen also doch, dass Sie der preußischen Regierung nicht mit vollem Recht den Vorwurf gemacht haben, dass sie der verhetzenden Agitation der Sozialdemokratie in Bezug auf die Reichsfinanzreform nicht entgegengetreten sei; Sie sehen, wie sich die Polizeiverwaltung die Mühe gibt, diese Verhetzung zu unterbinden. Ich darf wohl sagen, dass sich gerade in der Angabe dieses Grundes ein solches Maß von Schuldbewusstsein, von bösem Gewissen zeigt,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

das uns Sozialdemokraten nur in höchstem Maße erfreulich sein kann. Meine Herren, wenn Sie überzeugt sind, dass die Verhetzung durch die Sozialdemokratie so leicht ist, wenn Sie eine solche Angst vor unserer verhetzenden Tätigkeit bekommen, dann müssen Sie doch das klare Bewusstsein besitzen, dass eine Summe von Schuld auf Ihrer Seite angehäuft ist, durch die die Stimmung im Volke zu einer explosionsartigen Entladung reif geworden ist.

(Lachen und „Huhu!" rechts.)

Aber Ihre Schuld ist es, die eine solche Stimmung herbeigeführt hat.

Meine Herren, ich will damit diese interessante Begründung verlassen und mich von dem Vereinsgesetz hinweg auf ein anderes Gebiet bewegen, auf das Gebiet des Fremdenrechts, das ich eben bereits bei Gelegenheit der Kieler Versammlung gestreift habe. Es ist notwendig, dass den Fremden in Preußen volle Rechtsgarantien geschaffen werden. Es ist notwendig, dass gegenüber Ausweisungsverfügungen in viel höherem Maße Sicherheit geschaffen, insbesondere die Zulassung einer Anrufung des Oberverwaltungsgerichts sofort als Mindestes eingeführt wird. Es ist notwendig, dass administrative Haussuchungen, administrative Verhaftungen und dergleichen, die Ausländern gegenüber leider an der Tagesordnung sind, beseitigt werden und dass statt dessen ein geordnetes Rechtsmittelverfahren Platz greift. Es ist des weiteren notwendig, dass die Regierung klipp und klar ihren Standpunkt dahin zum Ausdruck bringt, dass die Ausländer im Inlande den Schutz all derjenigen Gesetze grundsätzlich genießen, die der Form nach allerdings zunächst nur für die Inländer geschaffen sind.

Meine Herren, ein besonders trauriges Kapitel auf dem Gebiete des Fremdenrechtes ist das Kapitel der Kontrollstationen. Es ist Ihnen vielleicht bekannt, dass das Wesen dieser Kontrollstationen darin besteht, dass die Ausländer, die minder begüterten Ausländer, einer beschämenden polizeilichen Kontrolle unterworfen werden, dass sie nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen durch die Grenzen hindurch gelassen werden, dass man sie zum Profit gewisser großer Erwerbsgesellschaften in die Hände der Agenten dieser Erwerbsgesellschaften, denen man geradezu polizeiliche Befugnisse gibt, ausliefert. Sie wissen, dass die Verhältnisse in diesen Kontrollstationen bereits wiederholt Gegenstand öffentlicher Erörterungen gewesen sind. Ich habe noch vor kurzem die Agenten der Hapag und des Norddeutschen Lloyd am Lehrter Bahnhof beobachten können. Ich bezweifle, dass die Zustände in diesen Kontrollstationen wesentlich besser geworden sind, als sie früher waren. Sie wissen, dass ein Redakteur des „Vorwärts" sich als russischer Auswanderer verkleidet hat und sich durch die Kontrollstationen hat schleppen lassen, um die Zustände dort kennenzulernen.

(Zuruf rechts.)

Schön, Spitzel! Gegen solche Sorte von Brutalität gibt es gar kein anderes Mittel, als zu versuchen, am eigenen Leibe zu erproben, wie die Zustände wirklich sind. Bilden Sie sich denn etwa ein, dass, wenn ein Sozialdemokrat mit der offen bekannten Absicht der Kontrolle in diese Stationen hineinkäme, man ihm reinen Wein einschenken würde? Sie sind ja sonst die Freunde der Spitzel, und Ihre Empörung über die Spitzelei, die angeblich von unserer Partei geübt sein soll, entspringt nur der ohnmächtigen Wut darüber, dass es uns auf diese Weise gelungen ist, einen Schmutzfleck an der preußischen Verwaltung bloß zu decken

(Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. Porsch: Herr Abgeordneter, ich muss Sie bitten, sich in Ihren Ausführungen zu mäßigen.

Liebknecht: Vor wenigen Monaten war in der bayrischen Kammer Gegenstand der Verhandlungen der bayrisch-russische Auslieferungsvertrag. Wir Sozialdemokraten stellten die Forderung, dass auch der preußisch-russische Auslieferungsvertrag2, der dem bayrisch-russischen auf ein Haar gleicht, beseitigt werde. Sie wissen, dass die bayrische Kammer damals einstimmig den Beschluss gefasst hat, diesen Auslieferungsvertrag zu beseitigen. Darf ich hoffen, dass wir in der preußischen Volksvertretung ein ähnliches Votum erzielen werden können? Es wäre doch ein beschämendes Zeichen für Preußen, wenn auf diesem Gebiete wiederum Preußen so weit hinter der süddeutschen Kultur her hinken sollte. Es würde an diesem Beispiel wieder deutlich dokumentiert werden, wie die Demokratie, das allgemeine Wahlrecht, in den Einzellandtagen die politische Bildung und Gesinnung „verflachen", um ein Wort des Herrn Reichskanzlers zu erwähnen.

Ich will auf die Ausweisungspraxis gegen die Ausländer im Augenblick nicht weiter eingehen, weil ich anerkennen kann, dass die preußische Regierung im Augenblick auf diesem Gebiete in sanfterer Weise vorgeht. Ich will auch das Spitzelwesen hier nicht näher erörtern – an anderer Stelle kommen wir speziell darauf zurück –, will aber doch in Kürze darauf hinweisen, dass sich gerade in neuester Zeit wiederum an dem Falle Schiefer, der allerdings in der Öffentlichkeit wenig beachtet worden ist – er ist eigentlich nur in einer anarchistischen Zeitung näher erörtert worden; ich habe das gesamte Material darüber in Händen –, gezeigt hat, in welch unerhörter Weise die Polizei innerhalb anarchistischer Organisationen provokatorisch tätig ist. Ich will hier wenigstens kurz darauf hinweisen, um alle ehrlichen Anarchisten vor der Spitzelwirtschaft, die gerade jetzt in der Berliner anarchistischen Organisation aufgedeckt worden ist, zu warnen, damit sie nicht unschuldig in die Hände verbrecherischer Individuen fallen und sich allen den Gefahren aussetzen, die durch das politische Lockspitzeltum herbeigeführt werden. Das Lockspitzeltum ist ja unzertrennlich verbunden mit dem Spitzeltum; das Lockspitzeltum wächst aus dem Spitzeltum heraus wie aus der Wurzel der Stamm. Die Spitzel können nicht überwacht werden, die Spitzel suchen andererseits Gelegenheit, ihre Unentbehrlichkeit zu beweisen. Da sie nicht überwacht werden können, ist ihnen ein großes Maß von freier Willkür in die Hand gegeben, so dass sie ihren Vorgesetzten allerhand Lügen unterbreiten können, ohne die Möglichkeit einer Rektifizierung. Auf der anderen Seite haben sie natürlich das Bestreben, sich unentbehrlich zu erweisen, so dass wir vielfach auf die Versuche derartiger Individuen stoßen, selbst allerhand gefährliche Aktionen zu unternehmen und so zu zeigen, dass sie notwendig sind, und um am Ende eine Gehaltserhöhung oder eine Beförderung zu erreichen.

Ich will nun auf das Gebiet der Straßendemonstrationen übergehen und da zunächst einmal darauf hinweisen, dass nach einer Entscheidung des Kammergerichtes die Straßendemonstrationen als durchaus gesetzlich zu betrachten sind.

(„Hört! Hört!")

In einer Entscheidung des Kammergerichtes, die vor kurzem in der „Deutschen Juristen-Zeitung" – es ist dieser Jahrgang, Seite 254 – von einem Gerichtsassessor Dr. Reichau näher besprochen worden ist, in einer Entscheidung, in der das Kammergericht die angeklagten Demonstranten in Übereinstimmung mit dem Schöffengericht freisprach, führte es etwa aus:

Wie einerseits die Betätigung des Entschlusses, eine Ansicht in öffentlich bemerkbarer und dadurch besonders eindringlicher Weise auch Andersdenkenden kundzutun, nicht allein an sich als Gefährdung der öffentlichen Ordnung erscheine, so könne auch andererseits das politische Problem der Reform des preußischen Landtagswahlrechts die demonstrative parteipolitische Behandlung auf offener Straße nicht rechtswidrig machen. Vielmehr komme es lediglich darauf an, ob der Angeklagte durch sein Benehmen an und für sich die öffentliche Ordnung gefährdet habe. Da dies aber nach den getroffenen Feststellungen nicht geschehen sei, müsse der Angeklagte freigesprochen werden."

Da wird vom dem Gerichtsassessor Dr. Reichau daran der Wunsch geknüpft, dass diese weitherzige Auslegung des Reichsvereinsgesetzes allenthalben Platz greifen möge. Wir Sozialdemokraten können uns diesem Wunsche nur anschließen.

Meine Herren, wir haben Straßendemonstrationen ja schon seit längerer Zeit; wir dürfen sagen, dass sie in größerem Umfange im Jahre 1906 in Preußen begonnen haben. Es war damals ganz besonders in Breslau, wo die Polizei Maßregeln größten Umfanges ergriff, um den Gefahren, die aus den Straßendemonstrationen befürchtet wurden, entgegenzutreten. Es wurden damals den Polizisten express Revolver angeschafft, Schießübungen wurden angestellt, die Säbel wurden scharf geschliffen; an den Plakatsäulen wurden die Aufruhrparagraphen angeschlagen. Auch das genügte nicht. Man haussuchte noch bei verschiedenen bekannten Führern der Arbeiterschaft nach Waffen, fand allerdings nirgends Waffen noch Munition, außer den geistigen Waffen und der geistigen Munition der Sozialdemokraten,

(Heiterkeit.)

die Ihnen freilich viel unangenehmer und gefährlicher sind als die brutalen Waffen, aber die Sie nun einmal nicht so leicht konfiszieren können wie die brutalen Waffen der Revolver, der Polizeisäbel usw. Es ist damals alles in aller Ruhe abgegangen

(Zuruf rechts.)

In aller Ruhe abgegangen, weil sich zufällig die Polizei sehr vernünftig betragen hat, meine Herren.

Damals ist es in Berlin ja auch beinahe so gewesen. Es ist nicht ganz so deutlich in die Erscheinung getreten, die Presse war darüber nicht so gut informiert wie gerade in dem Breslauer Fall. Aber dass damals in demonstrativer Weise die Kanonen mit Rücksicht auf die großen Kundgebungen des Proletariats über das Pflaster von Berlin gefahren sind, das ist Ihnen ja allen bekannt. Nun, meine Herren, bekannt ist Ihnen ja auch, was im Jahre 1906 die Breslauer Polizei bei einer späteren Gelegenheit geradezu an den Haaren herbeigezogen hat, um auf die Arbeiterschaft, auf eine Volksmenge loszugehen und sie in der unerhörtesten Weise zu behandeln. Das ist der Fall vom 19. April 1906, bei dem dem bekannten Biewald die Hand abgeschlagen wurde, die seit diesen Tagen allenthalben im Volk als ein Wahrzeichen gilt zur Kennzeichnung der preußischen Polizeiwirtschaft. Meine Herren, wir haben ja vor kurzem die Ferrer-Versammlungen3 gehabt, und bei dieser Gelegenheit ist von der Polizei in einer Weise eingegriffen worden, die infolge eines glücklichen Zufalls nicht nur von sozialdemokratischen Zeitungen und von Sozialdemokraten gebrandmarkt werden konnte, sondern für die es auch bürgerliche Zeugen gab.

(Zuruf.)

Herrn von Hoensbroech werden Sie wohl zugestehen, dass er aristokratischen Kreisen entstammt, und Sie werden doch wohl nicht behaupten wollen, dass Frau Cauer Sozialdemokratin ist.

(Zuruf.)

Für Sie ist ja alles Sozialdemokrat, was links von Herrn von Heydebrand ist.

(Große Heiterkeit.)

Meine Herren, Sie werden auf einsichtige Gemüter mit derartigen einsichtslosen Zwischenbemerkungen keinen Eindruck machen. Ganz zweifellos haben die Vorgänge bei den Ferrer-Versammlungen, die sich nicht einmal in erster Linie gegen die Sozialdemokratie richteten, in weitesten Kreisen Empörung erregt. Einzelheiten vorzutragen, verbietet die Rücksicht auf die Zeit. Mein Freund Hirsch hat ja bei der ersten Beratung des Etats in der Generaldebatte diesen Gegenstand auch ausführlich genug erörtert.

Jetzt will ich auf die Straßendemonstrationen kommen, die sich vor wenigen Wochen ereignet haben.

(Zuruf.)

Ja, langweilig! Uns ist es nicht langweilig. Die Sozialdemokratie hatte bei dieser Gelegenheit an verschiedenen Stellen den Versuch gemacht, die Zustimmung der Polizei für Versammlungen unter freiem Himmel mit Demonstrationen zu erhalten. In Magdeburg, in Waldenburg, in Frankfurt am Main, in Stettin, in Breslau, in Essen, allenthalben sind Anträge gestellt worden, Versammlungen unter freiem Himmel und Straßenumzüge zu gestatten. Fast überall sind diese Straßenumzüge verboten worden und fast überall auch die Versammlungen unter freiem Himmel – gegen Gesetz und Recht!

(Zuruf.)

Ich habe gesagt: Sie sind fast überall verboten worden. Sie sind verboten worden gegen Gesetz und Recht; denn die Erfahrung beweist, dass allenthalben, wo die Polizei die Sozialdemokratie und die Arbeiterschaft in Frieden lässt, sich alles in vollster Ruhe und Ordnung abspielt.

(Widerspruch rechts.)

Ungesetzlich schon aus dem Grunde, weil, wie schon, das Kammergerichtsurteil ergibt, diese Demonstrationen überhaupt einer polizeilichen Erlaubnis gar nicht bedürfen. Solche Demonstrationen, spontane Kundgebungen des Volkswillens, sind nach der Auffassung des Kammergerichts zulässig. Sie werden sich auch nie und nimmer unterbinden lassen.

Es ist von dem Herrn Polizeipräsidenten von Berlin die Behauptung aufgestellt worden, dass die Versammlungen unter freiem Himmel und Straßendemonstrationen in allen andern freiheitlichen Ländern auch nicht erlaubt seien; insbesondere hat der Herr Polizeipräsident von Jagow auf England Bezug genommen und Behauptungen aufgestellt, die man wirklich nicht einmal einem Subalternbeamten des Herrn Polizeipräsidenten zutrauen sollte. Es heißt doch geradezu eine vollständige politische – wie soll ich sagen – Kindlichkeit, eine absolute Ignoranz auf dem Gebiet der Politik beweisen, wenn man nicht weiß, dass in England Straßendemonstrationen geradezu an der Tagesordnung sind. Wer einmal einen Tag in London gewesen ist, der weiß, dass dort die Versammlungen sogar auf den Verkehrsstraßen in der inneren Stadt stattfinden und dass dort einfach die Rednerbühnen aufgestellt werden. Jedermann, der ein klein wenig die Verhältnisse Englands kennt, weiß, dass das englische Volk sich bereits seit Menschenaltern das Recht auf Straßendemonstrationen erkämpft hat

(Widerspruch rechts.)

und dieses Recht sich nicht wieder nehmen lassen wird. Der „Standard" – bekanntlich ein konservatives Organ – hat dem Herrn Polizeipräsidenten den Star gestochen. Anknüpfend an die Bemerkung des Berliner Polizeipräsidenten, dass englische Demonstranten nicht mehr Freiheit hätten als deutsche, sagt der „Standard":

In diesen Dingen könnten die preußische Polizei und Regierung gut von England lernen. „Der Weg, die Volksunzufriedenheit zu beschwichtigen, ist nicht, gewaltsam gegen sie vorzugehen. Parlamentarische Regierung und privilegierte Oligarchie gehen nicht gut zusammen. Wir sehen keine Gefahr darin"

sagt das konservative englische Organ

wenn Leute, die sich ruhig und ordentlich benahmen und wohl geführt waren, nach Herzenslust demonstrieren. Die preußische Regierung erblickt aber in jeder Opposition zu ihren Ideen Hochverrat. Die preußische Methode hämmert die Sozialisten zur Stärke zusammen. Kein moderner Staat kann gegen den Wunsch der Volksmajorität auf die Dauer ohne Gefahr regiert werden."

Meine Herren, das ist die Wahrheit über die Straßendemonstrationen in England; und wer ist dann nicht über Belgien unterrichtet, über Holland und die Freiheit auf den Straßen, die dort besteht!

(Zuruf.)

Auch in Frankreich! In Frankreich haben die Ferrer-Demonstrationen stattgefunden in vollster Ordnung und mit Genehmigung des Ministeriums. Weiter: Wer kennt nicht die freie Schweiz, und wer weiß nicht in der Nordamerikanischen Union soweit Bescheid, dass er darüber unterrichtet ist, dass dort den Straßendemonstrationen nicht die geringsten Hindernisse in den Weg gelegt werden! Meine Herren, dem Kölner Karneval machen Sie keine Schwierigkeiten,

(„Sehr gut!" links. – Heiterkeit.)

wenn dabei auch Hunderte von Verletzten alljährlich auf der Strecke bleiben; bei den Demonstrationen, die die Anhänger des Hottentottenblocks in der bekannten Januarnacht des Jahres 19074 auf den Berliner Straßen veranstaltet haben, haben Sie nicht die Spur einer Ungesetzlichkeit gefunden, und die Polizei hat auch ganz deutlich kundgegeben, dass sie diese Demonstrationen als einen durchaus dem Gesetz entsprechenden Vorgang betrachtete.

Es ist in der Tat nicht möglich, über die Haltung der Berliner und der preußischen Polizei gegenüber den Straßendemonstrationen zu sprechen, ohne dabei gleichzeitig eine Satire zu schreiben. Meine Herren, zum Teil waren doch die Maßnahmen wirklich ein klein bisschen komisch. Denken Sie doch einmal, wie wir alle zum ersten Tag der Beratung der Wahlrechtsvorlage eine Zuschickung bekamen, die uns dringend empfahl, von der Leipziger Straße aus in das Abgeordnetenhaus hineinzugehen, weil große Menschenansammlungen vor dem Abgeordnetenhause zu erwarten seien. Sie sind ja mit dieser Überängstlichkeit fürchterlich ins Wasser gefallen und haben damit allenthalben eine große Heiterkeit erregt.

(Zuruf rechts.)

Meine Herren, Sie sind es doch gewesen, Sie werden doch wohl nicht sagen wollen, dass hier in diesem Hause irgend etwas gegen oder ohne Ihren Willen geschieht! Sie haben die Maßregeln auf diesem Gebiet so gut am Zügel wie die preußischen Herren Minister; Ihnen muss hier alles Ordre parieren.

Des weiteren darf ich wohl darauf hinweisen, wie außerordentlich komisch in der künftigen Betrachtung der bekannte Maueranschlag des Berliner Herrn Polizeipräsidenten wirken wird. Da heißt es in einem Stil, der, wie eine Zeitung mit Recht bemerkte, geradezu nach Pulver riecht:

Es wird das ,Recht auf die Straße' verkündet.

Die Straße dient lediglich dem Verkehr.

Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch.

Ich warne Neugierige.

Der Polizeipräsident,

von Jagow."

(Bravorufe und Heiterkeit.)

Meine Herren, ich glaube, Herr von Jagow sagt heute selbst nicht mehr Bravo, sondern er wäre froh, wenn er das nicht gemacht hätte.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts.)

Allerdings, ich kann mich in die Seele eines preußischen Polizeipräsidenten nicht gut hineinversetzen,

(Zurufe.)

und ich habe auch gar nicht den Ehrgeiz, mich in eine solche Seele hineinzuversetzen.

(Erneute Zurufe.)

Man kann nicht immer wieder auf die alten Witzchen eingehen: machen Sie doch mal neue!

Meine Herren, es ist von der Sozialdemokratie, von der organisierten Arbeiterschaft, am 13. Februar dieses Jahres5 in Form von Straßendemonstrationen, in Form von Versammlungen in geschlossenen Räumen und unter freiem Himmel ihre Meinung, ihr Wille in einer so gewaltigen Weise zum Ausdruck gebracht worden, dass ähnliches in der deutschen Geschichte bisher nicht zu verzeichnen ist.

(Lachen rechts.)

Meine Herren, Sie können darüber lachen, und Sie können darüber höhnen, niemand wird an den rechten Ernst dieser Heiterkeit und dieses Hohnes glauben.

Meine Herren, nur wer diese Straßendemonstrationen mitgemacht hat, kann in vollem Umfange darüber urteilen, wie sie getragen waren von einer Stimmung des Enthusiasmus,

(Lachen rechts.)

von einer Stimmung des Idealismus, von einer Stimmung der Opferfreudigkeit,

(Lachen rechts.)

die jeden, der sie erfahren hat, mit der Überzeugung erfüllen muss: Diese Volksmasse ist reif geworden, die Regierung selbst in die Hände zu nehmen,

(Lachen rechts.)

diese Volksmasse ist nicht länger gewillt, sich die Herrschaft eines übermütigen kleinen Häufleins von Ausbeutern und Unterdrückern auf die Dauer gefallen zu lassen.

(Unruhe. Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. Porsch: Herr Abgeordneter, ich muss Sie doch bitten, solche Ausdrücke nicht zu gebrauchen.

Liebknecht: Man hat ja gesagt, meine Herren …

(Zuruf rechts.)

Sie sind natürlich keine Ausbeuter; ich spreche stets nur von denjenigen Herren, die außerhalb des Hauses sind.

Also, diese Straßendemonstrationen sind in geradezu glanzvoller Weise verlaufen, nicht nur wegen der ungemeinen Begeisterung, von der sie getragen waren, nicht nur nach der Richtung hin, dass der preußischen Regierung bei dieser Gelegenheit einmal deutlich zu Gemüte geführt worden ist, wie die wirkliche Stimmung der Masse ist, gegen deren Willen sie auf die Dauer nicht regieren kann; auch in der Richtung sind die Straßendemonstrationen glanzvoll verlaufen, dass die Arbeiterschaft dabei ein Maß von Besonnenheit und Selbstzucht an den Tag gelegt hat, die ihre politische Reife selbst in dem Sinne eines preußischen Polizeiministers deutlich zeigt.

Meine Herren, es ist ja bekannt, dass es an einigen Orten zu Ausschreitungen gekommen ist:

(„Sehr richtig!" rechts.)

in Halle, in Frankfurt am Main, in Königsberg und in Neumünster besonders, dass dort Blut geflossen ist. Meine Herren, es ist Blut geflossen, aber das Blut, das dort geflossen ist, ist nicht geflossen durch die Schuld der demonstrierenden Arbeiterschaft,

(Zurufe rechts.)

dieses Blut ist geflossen ausschließlich durch die Schuld der engherzigen preußischen Polizeiorgane.

(Stürmische Zurufe rechts.)

Ihre Schuld, meine Herren, sind diese Blutopfer; es sind die Opfer der preußischen engherzigen Polizeimisswirtschaft, der preußischen Reaktion, der preußischen Junkerreaktion.

(Lachen rechts.)

Meine Herren, das ist nicht die Auffassung der Sozialdemokratie allein; ich kann auch in diesem Falle wiederum andere Schwurzeugen anführen. Ich darf darauf hinweisen, dass die „Frankfurter Zeitung" …

(Zuruf rechts.)

Natürlich sozialdemokratisch, meine Herren! Sie war mal vor gar nicht langem eine Blockzeitung, da haben Sie nicht so über sie abgeredet. Also, die „Frankfurter Zeitung" hat in sehr deutlicher Weise ihre Ansicht folgendermaßen kundgetan:

Zum Glück liegt der Charakter der gestrigen Vorgänge bereits jetzt so klar, dass eine Fruktifizierung des Geschehenen zu reaktionären Zwecken nicht möglich ist, wenigstens nicht in gutem Glauben."

Wohlgemerkt, meine Herren, die „Frankfurter Zeitung", die keine sozialdemokratische Zeitung ist, sagt, dass eine Fruktifizierung des Geschehenen zu reaktionären Zwecken nicht möglich ist, wenigstens nicht in gutem Glauben. Halten Sie an diesen Worten einmal auch für den weiteren Fortgang der Debatte fest!

Meine Herren, es heißt weiter:

Soweit es sich um die Frankfurter Demonstranten selber handelt, brachte der gestrige Abend eine eindrucksvolle und würdige Kundgebung zugunsten des freien Wahlrechts, eine Kundgebung, deren Diszipliniertheit um so mehr Achtung einflößen muss, als nach dem brutalen Vorgehen der Polizei am letzten Sonntag die allgemeine Stimmung sehr erbittert war. Trotzdem haben sich die Versammlungsteilnehmer zu keinerlei Ausschreitungen verleiten lassen."

Es ist des weiteren gesagt, dass, nachdem die Polizei in dieser Weise sich Ausschreitungen hat zuschulden kommen lassen, die Polizei damit bewiesen hat – das gilt der preußischen Polizei, das gilt dem preußischen Herrn Polizeiminister –,

dass sie der gegenwärtigen schwierigen Situation nicht gewachsen ist. Die einzigen, die bei den gestrigen Vorfällen sich nichts vorzuwerfen haben, sind die Wahlrechtsdemonstranten."

Meine Herren, diese Ausführungen aus bester Quelle

(Lachen rechts.)

und aus einer nicht-sozialdemokratischen Quelle – – –

(Lachen und Zurufe rechts.)

Gott, meine Herren, es ist aus der „Frankfurter Zeitung", was ich Ihnen vorgelesen habe!

(Erneute Zurufe und Lachen rechts.)

Meine Herren, es hat keinen Sinn, darüber zu streiten. Sie bilden sich wohl ein, dass Sie mich irgendwie aus dem Konzept gebracht haben, weil ich auf Ihre Redereien nicht eingehe? Ich habe Besseres zu tun. – Ich kann Ihnen auch wieder die Frau Minna Cauer vorführen.

(Zuruf rechts.)

Es ist ein merkwürdiger Zufall: Wie sie bei den Berliner Polizeiausschreitungen gelegentlich der Ferrer-Versammlungen zugegen gewesen ist, so ist sie jetzt auch in Frankfurt am Main bei den Wahlrechtsdemonstrationen zugegen gewesen.

Sie sah, dass die Massen ruhig durch die Straßen zogen. Aber dann sprengten die Berittenen auf die Bürgersteige. Dann prügelten die Schutzleute die Männer und Frauen aus den Häusern heraus, in die sie sich geflüchtet hatten. Dann sah sie, wie die Schutzmannsfäuste den Rücken eines achtjährigen Kindes solange bearbeiteten, bis sie ihm zu Hilfe kommen konnte.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, es sind andere Fälle berichtet worden, in denen die Polizei in rücksichtslosester Weise auf Frauen eingehauen hat. Ist dieses Vorgehen gegen Frauen nicht geradezu unerhört, gegen das schwache Geschlecht? Diejenigen, die ihre Hand gegen diese Frauen erhoben haben, verdienen in der Tat, der allgemeinen Verachtung preisgegeben zu werden.

Es ist weiter ein Fall mitgeteilt worden, wo ein Geheimschutzmann auf einen Invaliden namens Köhler losging. Er wurde darauf aufmerksam gemacht, dass das ein kranker Mann sei, der sich nicht bewegen könne. Er gab darauf die Antwort: „Ob Invalide oder nicht – nur drauf!" Mehrere Schutzleute hieben auf eine Frau, die zu Boden geworfen worden war, unbarmherzig ein.

(Stürmisches Lachen rechts.)

Meine Herren, dass Sie lachen, zeigt nur, auf welchem Tiefstand der Moral Sie sich befinden.

(Erneutes Lachen rechts.)

Wer in solchen Fällen nicht den Ernst zu bewahren vermag,

(Lachen rechts.)

der zeigt auf das deutlichste, dass er längst das Recht und die Fähigkeit verloren hat, an der Verwaltung eines modernen Staatswesens irgendwie teilzunehmen.

Damit genug von Frankfurt.

Von Neumünster möchte ich Ihnen noch die Tatsache vorhalten, dass der Stadtrat Nissen bei der Verhandlung dieser Angelegenheit vor der Stadtverordnetenversammlung in Neumünster hat zugeben müssen, dass er vom Balkon aus mit seinem Operngucker den Vorgängen zugeschaut hat, ohne sich im Geringsten zu bemühen, beruhigend und ordnend einzugreifen, um diese bedauerlichen Vorgänge zu verhindern. Die Polizei hatte die Massen eingekeilt und so das Blutvergießen erzeugt; Herr Nissen bezeichnete es als Pflicht der Polizei, in dieser Weise gegen die Demonstranten vorzugehen.

Meine Herren, der „Vorwärts" wie die ganze Sozialdemokratie haben in diesem Falle ganz gewiss nicht übertrieben. Wenn Sie die erste Nummer des „Vorwärts" lesen, die über diese Wahlrechtsdemonstrationen berichtete, so werden Sie allenthalben ein ziemlich uneingeschränktes Lob der Polizeiverwaltung, besonders der Berliner Polizeiverwaltung, finden. Ruhe, Zurückhaltung und Mäßigung der Polizei werden darin allenthalben hervorgehoben und nur gewünscht, dass sich die Polizei auch künftig ebenso verhalten möge. Das kann uns aber natürlich nicht hindern, die Einzelfälle, von denen ich eben gesprochen habe, in den Vordergrund zu rücken und allenthalben darauf aufmerksam zu machen, dass auch diese Einzelfälle zweifellos Ausflüsse des gesamten preußischen Polizeisystems sind, dass sie hätten vermieden werden können, wenn der Herr Polizeiminister besser, als es geschehen ist, durch verständige Anweisung an die ihm untergeordneten Polizeiorgane darauf hingewirkt hätte, dass sich die Polizei allenthalben von den Demonstrationen zurückhalten solle. Der Herr Polizeiminister hat die Pflicht und die Möglichkeit dazu; er ist bei der Zentralisation, die im preußischen Polizeiwesen besteht, zweifellos berechtigt, überallhin Anweisungen dieser Art ergehen zu lassen, auch dort, wo die Polizei sich in den Händen der Kommunen befindet. Man kann vielleicht davon ausgehen, dass die verständigen zurückhaltenden Maßnahmen des Herrn Polizeipräsidenten von Berlin zum Teil mit auf die Initiative des Herrn Ministers oder jedenfalls unter seiner Kenntnis stattgefunden haben. So hätte der Herr Minister ganz allgemein Anweisungen ergehen lassen können, die solche Vorkommnisse verhindert hätten. Deshalb dürfen wir mit Fug und Recht behaupten, dass das Blut, welches geflossen ist, an den Händen der preußischen Polizeiverwaltung klebt und dass kein Regen des milden Himmels ausreichen wird, dieses Blut, diese Blutschuld, von der preußischen Verwaltung abzuwaschen.

(Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. Porsch: Herr Abgeordneter, ich rufe Sie zur Ordnung und mache Sie gleichzeitig auf die Folgen eines zweimaligen Ordnungsrufes aufmerksam, indem ich Sie auf Paragraph 48 der Geschäftsordnung hinweise.

Liebknecht: Die Polizei ist in Bezug auf diese Demonstrationen in eine gewisse Bedrängnis geraten, weil ihre Darstellung vielfach, sobald die Demonstrationen Gegenstand gerichtlicher Verhandlungen und in eine unparteiische Beleuchtung gerückt wurden, widerlegt werden konnte. Deshalb hat sie neuestens einen erfreulichen Fortschritt unternommen, einen Fortschritt auf dem Gebiete, auf dem die preußische Polizei allerdings fast allein fortzuschreiten pflegt, auf dem Gebiet nicht des Schutzes, sondern der Verfolgung der Bevölkerung.

(Zuruf rechts.)

Was habe ich gesagt? – Meine Herren, es ist von dem Breslauer Polizeipräsidenten und wohl auch vom Herrn Polizeiminister angeordnet worden, dass künftig Straßendemonstrationen nach Möglichkeit fotografiert werden sollen. Diese Fotografien werden von der Sozialdemokratie begrüßt werden; wir werden dann auf die unparteiischste Weise nachweisen können, wie die Polizei gegen die Sozialdemokraten vorgegangen ist.

Meine Herren, der Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen ist klein. Wenn ich jetzt auf die Vorgänge vom letzten Donnerstag zu sprechen komme, die sich im Berliner Rathaus ereignet haben, so glaube ich wohl allenthalben einem verständnisinnigen Lächeln zu begegnen. Dass der Polizeipräsident wirklich so wenig Augenmaß gehabt hat, zu den Beratungen der Berliner Stadtverordneten über die Wahlrechtspetition eine Schutzmannsdeputation zu senden – frei nach Oldenburg, wie wiederholt mit Recht gesagt worden ist –, das hat so allgemeines Erstaunen hervorgerufen und hat mit einem solchen Fiasko geendet, dass ich fest überzeugt bin, die Polizei wird in Zukunft dergleichen nicht mehr tun. Es ist eine gehörige Blamage für die Polizei, dass sie auf Ersuchen des Oberbürgermeisters aus dem Berliner Rathause verschwinden musste, weil die angeblich bedrohten bürgerlichen Parteien, oder was sonst gefährdet sein sollte, sich so ganz und gar nicht bedroht fühlten. Und der Hereinfall des Berliner Polizeipräsidiums ist noch dadurch unterstrichen worden, dass diese Verhandlungen sich in der denkbar ruhigsten Weise, ohne die geringsten Störungen abgespielt haben. Schließlich hat denn auch der Polizeipräsident ein feierliches Gelöbnis abgelegt, dass er künftig seine Polizeimannschaften in städtische Gebäude nicht mehr zu legen beabsichtige. Meine Herren, das ist in der Tat wieder ein Beweis, wie schlecht die Polizei die Stimmung der Bevölkerung zu beurteilen versteht.

Dasjenige, was den Verwaltungsbehörden in der gegenwärtigen Situation aber am meisten zum Vorwurf gemacht werden muss, das ist die Tatsache, dass in verschiedenen Gegenden Militär requiriert worden ist, um mit Hilfe des Militärs die Demonstrationen in Schach zu halten in ähnlicher Weise, wie schon beim Mansfelder Streik von den Verwaltungsbehörden Militär requiriert ist. Und Sie wissen oder wissen es nicht, aber es ist wahr: Durch diesen Einsatz des Militärs ist in der Bevölkerung eine Stimmung erzeugt, die jede antimilitaristische Agitation in meinem Sinne überflüssig macht. Nach einer unwidersprochenen Zeitungsmeldung ist in Berlin vor dem 13. Februar an sämtliche Regimentskommandeure der Befehl ergangen, dass am Sonntag keine Militärpersonen, Offiziere und Soldaten, die Kaserne verlassen dürfen, also die bekannte Konsignation. Das 2. Gardedragonerregiment hatte Sonnabend früh, den 12. dieses Monats, von sieben bis neun Uhr in Tempelhof scharfes Probereiten, damit sich die Pferde an das Berliner Pflaster gewöhnen; „dies für den Fall, dass es bei den Wahlrechtsdemonstrationen zu Ausschreitungen kommen sollte". Wenn etwas dazu beiträgt, eine Gefährdung des militärischen Geistes zu erzeugen, und wenn etwas dazu beiträgt, den letzten Rest von Popularität, den unser Militär hier und da noch in weiteren Volkskreisen genießen mag, mit Stumpf und Stiel auszumerzen, so ist das der richtige Weg. Ich darf mich hierbei – gegenüber dem Herrn Minister von Moltke – auf das Zeugnis eines Mannes berufen, den Sie sicher als unparteiisch anerkennen werden, des Generalfeldmarschalls von Moltke, der vor über 20 Jahren im Reichstage seine Ansicht dahin aussprach, dass es gerade vom Standpunkt der militärischen Disziplin eine sehr gefährliche Sache sei, das Militär gegen den inneren Feind zu verwenden. Aber die Besonnenheit, die dem Generalfeldmarschall von Moltke noch innewohnte, der zweifellos seiner ganzen Ausbildung nach das Militär in erster Linie als gegen den äußeren Feind bestimmt betrachtete, wird, wie es scheint, von dem Minister von Moltke nicht geteilt: Sie ist längst gewichen, weil die Regierung und die herrschenden Klassen gegenwärtig in viel höherem Maße als je vorher das Militär, indem man den äußeren Feind kaum mehr recht beachtet, als das wichtigste Machtmittel zur Aufrechterhaltung der Herrschaft gegenüber den breiten Massen, gegenüber dem inneren Feind betrachten.

Wenn die Polizei uns Ordnung halten lässt, so werden die Demonstrationen in Ordnung verlaufen; wir haben das bei den verschiedensten Gelegenheiten bewiesen, und gerade in Halle ist der Beweis dieser Behauptung aufs Klarste erbracht worden. Dort war am 13. Februar die Schlacht. In Halle war auch das Militär requiriert gewesen. Da war die Stimmung der Bevölkerung bis zur Siedehitze gestiegen. Und gegen dieses Vorgehen der Polizei fanden ungeheuer besuchte Protestversammlungen statt. Diese gewaltigen Menschenmassen haben sich in vollster Ruhe nach Hause begeben, haben die Demonstrationen in absoluter Ruhe und Gesetzlichkeit bis zu Ende geführt. Es wäre auch in Frankfurt am Main und Neumünster zu keinerlei Ausschreitungen gekommen, wenn die Polizei das richtige Augenmaß bewahrt und ruhige Besonnenheit gezeigt hätte.

Diese Ausschreitungen und Übergriffe der Polizei sind schon vor den städtischen Kollegien in Halle, Frankfurt, Neumünster und wohl auch in Königsberg erörtert worden. Sie sind – so sehr wir sie bedauern – sicherlich eins der besten Agitationsmittel für die Sozialdemokratie und haben vor allem dazu beigetragen, das Interesse an dem Wahlrechtskampf geradezu ins Ungemessene zu steigern. Natürlich hat die Sozialdemokratie in diesem Kampf noch weitere und schärfere Mittel, vor deren Anwendung sie nicht zurückschrecken wird,

(„Hört! Hört!")

sobald sie es selbst für zweckmäßig hält.

(„Hört! Hört!")

Ich spreche nicht von Browningpistolen, von Maschinengewehren und Säbeln und all dieser brutalen Gewalt, sondern von unserer Agitation, die die Bevölkerung in eine Stimmung hineinversetzen wird – auch solche Kreise, ohne die Sie nicht existieren können –, dass die Regierung nicht mehr imstande sein wird, ihre volksfeindliche Haltung in Bezug auf das Wahlrecht zu bewahren. Es ist nicht der geringste Zweifel, dass, wenn die Verhältnisse sich weiter so entwickeln, wenn nicht zur rechten Zeit dafür gesorgt wird, dass auf die Wunden des Volkes etwas Balsam gelegt wird, dass dem Bedürfnis des Volkes eine nennenswerte, eine ausreichende, eine volle Befriedigung zuteil wird, dann auch das Mittel des Massenstreiks zur Anwendung kommen wird.

(Lebhaftes „Hört! Hört!'")

Das Mittel wird zur Anwendung kommen. Der Massenstreik wird nicht gemacht werden, sondern der Massenstreik kommt von selbst. Steigern Sie nur die Aufregung weiter so, wie sie jetzt gesteigert worden ist, und Sie werden zweifellos erleben, dass in einer ganz explosiven, in einer im höchsten Maße für Sie nachteiligen und Ihre Herrschaft gefährdenden Weise dieses wichtigste und gewaltigste Machtmittel des Proletariats zur Anwendung kommen wird.

(Bewegung.)

Meine Herren, ins Bockshorn jagen lässt sich das Proletariat noch längst nicht, und wenn Sie und die Polizei auch mit Ihrer Ultima ratio, den Waffen, dem Militär und dergleichen, weiterhin vorgehen, so werden Sie keinen Erfolg haben gegenüber diesem Ansturm der breiten Massen des Volkes, von dem Sie sich im Innersten Ihres Herzens selbst sagen, dass er Ihre äußerlich zur Schau getragene Zuversicht doch recht erheblich erschüttert hat.

(Heiterkeit.)

Ja, meine Herren, ich darf Ihnen sagen, dass gerade der neueste Wahlrechtskompromissversuch, der von den herrschenden Parteien gegenwärtig unternommen worden ist, nur geeignet ist, die Empörung weiterhin zu steigern, und dass nichts mehr Öl in unser Feuer zu gießen geeignet ist als eine derartige Haltung der Kommission.

(Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. Forsch: Herr Abgeordneter, es ist vorhin ausdrücklich beschlossen worden, über die Wahlrechtsfrage nicht zu sprechen. Ich bitte, sich an diesen Beschluss des Hauses zu halten.

Liebknecht: Meine Herren, ich wiederhole: Wir Sozialdemokraten, das organisierte Proletariat, werden uns nicht in das Bockshorn jagen lassen, werden die Flinte nicht in das Korn werfen. Der Ansturm wird wachsen und nicht zurückgehen; er wird um so energischer und gefährlicher werden für Sie und die ganze preußische Herrschaft, je mehr Sie versuchen, die Demonstrationen und die legitime Geltendmachung der Stimmung des Volkes zu unterbinden.

(Zurufe rechts.)

Meine Herren, wir rufen das Bürgertum auf, Seite an Seite mit der Sozialdemokratie zu stehen bei diesen Kämpfen, diesen Demonstrationen; wir rufen vor allen Dingen die Schichten des Proletariats, die noch hinter dem Wagen der herrschenden Parteien herlaufen,

(Zurufe rechts.)

immer und immer wieder auf, den Kampf zu führen Seite an Seite mit dem klassenbewussten Proletariat, der Sozialdemokratie. Ich darf wohl auch sagen, dass die große Masse der Beamtenschaft und der anderen Funktionäre des gegenwärtigen Staats in immer höherem Maße erkennen, dass sie nicht interessiert sind an der Aufrechterhaltung der preußischen Reaktion,

(„Oho!" rechts.)

dass die große Masse der Beamtenschaft und der übrigen Staatsfunktionäre sich mehr und mehr auf die Seite der Sozialdemokratie scharen wird,

(Widerspruch rechts und im Zentrum.)

dass, meine Herren, wenn es darauf ankommen wird, auch Ihre letzten Waffen gegen das Proletariat versagen werden: Polizei und Militär!

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

1 Der Bürgermeister von Husum, Dr. jur. Lothar Schücking, wurde am 24. September 1909 durch das Oberverwaltungsgericht zum Verlust des Bürgermeistertitels und der Pensionsansprüche verurteilt, weil er in dem Buch „Die Reaktion in der preußischen Verwaltung" vom Bürgermeister XY in Z, Berlin 1908, Kritik an der Verwaltung Preußens im Sinne des bürgerlichen Liberalismus geübt hatte.

2 Der im März 1885 abgeschlossene preußisch-russische Auslieferungsvertrag legte fest, in welchen Fällen Ausweisungen erfolgen sollten. Besondere Bedeutung hatte Artikel 3, der jedes politische Asyl verweigerte: „Der Umstand, dass das Verbrechen oder Vergehen, wegen dessen die Auslieferung beantragt wird, in einer politischen Absicht begangen ist, soll in keinem Falle als Grund dienen, um die Auslieferung abzulehnen."

3 Ferrer, Guardia Francisco, geb. 1859, bedeutender spanischer Publizist und Pädagoge, beschuldigt, am Aufstand in Katalonien (an der sogenannten Blutwoche vom 26. bis 31. Juli 1909) maßgeblich beteiligt gewesen zu sein, wurde unschuldig zum Tode verurteilt und am 15. Oktober 1909 erschossen. In Frankreich, Deutschland, Italien und anderen Ländern fanden große Protestdemonstrationen gegen dieses Schandurteil statt.

4 1906 löste Reichskanzler von Bülow den Reichstag auf, weil außer den Sozialdemokraten nun auch das Zentrum zusätzliche Mittel zur Niederschlagung der um ihre Freiheit kämpfenden Eingeborenen Deutsch-Südwestafrikas, vor allem der „Hottentotten“ (=Nama), verweigert hatte. Die Neuwahlen am 25. Januar 1907, die sogenannten Hottentottenwahlen, gewann unter beispiellosem Terror gegen die Sozialdemokratie und durch chauvinistische Verhetzung ein „regierungsfreundlicher" Block aller liberalen und konservativen Parteien, der Hottentottenblock. Zur Feier des Wahlsieges veranstalteten einige tausend Anhänger des Blocks in der Nacht vom 25. zum 26. Januar in Berlin eine Demonstration und brachten dem Reichskanzler von Bülow eine Ovation dar.

5 Am 13. Februar 1910, wenige Tage nach der Wahlrechtsprovokation (siehe Anmerkung 2), fanden in Berlin und ganz Deutschland machtvolle Versammlungen und Demonstrationen statt. In Frankfurt (Main), Königsberg, Neumünster und Halle kam es dabei zu blutigen Ausschreitungen der Polizei gegen Teilnehmer an den Wahlrechtskundgebungen.

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