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Wladimir I. Lenin 19031115 Die Bourgeoisie im Gewand der Narodniki und die verwirrten Narodniki

Wladimir I. Lenin: Die Bourgeoisie im Gewand der Narodniki und die verwirrten Narodniki1

[Geschrieben Mitte November (neuen Stils) 1903 Veröffentlicht am 14. (1.) Dezember 1903 in der „Iskra" Nr. 54 Gez. N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 6, Wien-Berlin 1930, S. 145-154]

Die russischen Marxisten weisen seit langem hin auf jene Entartung des alten russischen, klassischen, revolutionären Narodnikitums, die seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts unaufhörlich vor sich geht. Der Glaube an die besondere Struktur der Bauernwirtschaft, an die Bauerngemeinde als Keim und Grundlage des Sozialismus, an die Möglichkeit, den Weg des Kapitalismus zu vermeiden mit Hilfe der sofortigen sozialen Revolution, zu der das Volk schon bereit sei, verblasste. Politische Bedeutung hatten nur noch die Forderungen nach allen möglichen Maßnahmen zur Stärkung der Bauernwirtschaft und überhaupt der „kleinen Volksproduktion". Das war im Grunde bereits nichts anderes mehr als bürgerliches Reformertum; das Narodnikitum verschwamm zum Liberalismus; es entstand eine liberal-narodnikische Richtung, die nicht sehen wollte oder nicht sehen konnte, dass die geplanten Maßnahmen (alle diese Kredite, Genossenschaften, Meliorationen, Ausdehnung des Bodenbesitzes) nicht über den Rahmen der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft hinausgehen. Die narodnikischen Theorien der Herren W. W., Nikolai-on und ihrer zahllosen Nachbeter dienten nur der quasiwissenschaftlichen Maskierung dieser unangenehmen, aber unbestreitbaren Tatsache. Die marxistische Kritik zerschlug die Maske, und der Einfluss der narodnikischen Ideen auf die russischen revolutionären Kreise sank mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Diese Ideen wurden bereits auch in der Wirklichkeit das ausschließliche Eigentum jener Schicht, mit der sie verwandt waren, – der russischen liberalen „Gesellschaft".

Das westeuropäische Bernsteinianertum war eine neue Strömung, die diese Richtung stärkte und gleichzeitig modifizierte. Nicht umsonst heißt es: „Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande". Bernstein hatte in seiner Heimat kein Glück, dafür aber „nahmen" verschiedene Sozialisten in Frankreich, Italien und Russland, die eine rasche Evolution zu Vertretern des bürgerlichen Reformismus durchmachten, seine Ideen „ernst" und setzten sie in die Tat um. Befruchtet von diesen Ideen, gewann unsere liberal-narodnikische Richtung unter den Ex-Marxisten neue Anhänger und reifte zugleich auch innerlich, indem sie sich von einigen primitiven Illusionen und reaktionären Anhängseln befreite. Der Dienst, den das Bernsteinianertum geleistet hat, besteht nicht darin, den Sozialismus umgestaltet zu haben, sondern darin, dass er der neuen Phase des bürgerlichen Liberalismus das Gesicht gegeben und einigen quasi-Sozialisten die Maske des Sozialismus vom Gesicht gerissen hat.

Ein äußerst interessantes und lehrreiches Beispiel für die Annäherung und Verschmelzung der europäischen opportunistischen und der russischen narodnikischen Ideen gibt der Artikel des Herrn L. „Zur Agrarfrage" in Nr. 9 (33) des „Oswoboschdenije". Es ist ein richtiger Programmartikel, der sowohl das allgemeine Credo des Verfassers als auch die systematische Anwendung dieses Credo auf ein bestimmtes Gebiet gewissenhaft darlegt. Der Artikel wird ein Markstein in der Geschichte des russischen Liberalismus sein, weil er ein großer Schritt vorwärts in seiner Ausreifung und Festigung ist.

Der Verfasser kleidet seinen bürgerlichen Liberalismus in ein Gewand, das nach der letzten Mode genäht ist. Er wiederholt fast buchstäblich die Worte Bernsteins und versucht den Leser mit komischem Ernst zu versichern, dass „Liberalismus und Sozialismus auf keinen Fall voneinander zu trennen oder gar einander entgegenzustellen sind: ihrem Hauptideal nach sind sie identisch und nicht voneinander zu trennen. Der Sozialismus bedeutet für den Liberalismus keine Gefahr, wie es oft befürchtet wird; er kommt nicht, um das Vermächtnis des Liberalismus zu vernichten, sondern um es zu erfüllen." Es ist eine altbekannte Sache: was man will, das glaubt man gern, und Herr L. und seine Getreuen möchten schrecklich gern, dass die Sozialdemokraten sich von den Liberalen nicht trennen, dass sie den Sozialismus auffassen „nicht im Sinne fertiger Dogmen und starrer Doktrinen, die darauf Anspruch erheben, den ganzen Verlauf der geschichtlichen Entwicklung im Voraus zu berechnen …" (usw., ganz im Geiste der „Rewoluzionnaja Rossija") …, sondern „als gemeinsames ethisches Ideal…" (das bekanntlich von allen Philistern, mit Einschluss auch der Liberalen, in die Region des in diesem irdischen Jammertale nicht zu Verwirklichenden, in die Region des zukünftigen Lebens und der „Dinge an sich" verlegt wird).

Die Liberalen möchten natürlich gern – man verzeihe den vulgären Ausdruck – die Ware von der besten Seite zeigen, den politischen Liberalismus in Russland dem sozial-ökonomischen Demokratismus gleichsetzen. Der Gedanke ist sehr „gut", aber zugleich sehr verworren und sehr hinterlistig. Er ist gut, weil er die gute Absicht eines bestimmten Teiles der Liberalen ausdrückt, sich für weitgehende soziale Reformen einzusetzen. Er ist verworren, weil er auf der Gegenüberstellung von demokratischem und bürgerlichem Liberalismus beruht (wieder ganz im Geiste der „Rewoluzionnaja Rossija"!). Der Verfasser hat offenbar gar keinen Begriff davon, dass in jeder kapitalistischen Gesellschaft gewisse bürgerlich - demokratische Elemente, die für weitgehende demokratische und sozial-ökonomische Reformen eintreten, vorhanden sein müssen; der Verfasser will, wie alle russischen Millerands, das bürgerliche Reformertum dem Sozialismus gleichsetzen, der natürlich „nicht im Sinne fertiger Dogmen" usw. aufgefasst wird. Der Gedanke ist schließlich sehr hinterlistig, denn der Verfasser versichert sich und anderen, dass die Sympathie für Reformen – „die Sorge für die Bedürfnisse und Nöte des Volkes, ,Narodnikitum' im echten und herrlichen ethischen Sinne dieses Wortes" – bei einem bestimmten Teil der Liberalen in einem bestimmten geschichtlichen Augenblick vorhanden sei oder eine ständige Eigenschaft des Liberalismus überhaupt sein könne. Das ist von einer rührenden Naivität! Wer weiß denn nicht, dass jedes zurückgetretene bürgerliche Ministerium, jede „Opposition Seiner Majestät", solange sie Opposition bleibt, stets ihr echtes herrliches und ethisches „Narodnikitum" in die Welt hinausschreit? Das russische Bürgertum kleidet sich in das Narodnikitum (und manchmal ganz aufrichtig), eben weil es sich in Opposition befindet und die Zügel der Macht noch nicht in der Hand hat. Das russische Proletariat wird auf die freundschaftlich-listigen Reden der Herren vom „Oswoboschdenije" antworten: pas si bete, messieurs! Ich bin nicht so dumm, ihr Herren, um daran zu glauben.

Von den allgemeinen Erwägungen über die Identität von Liberalismus und Sozialismus geht Herr L. zur allgemeinen Theorie der Agrarfrage über. In zehn Zeilen vernichtet er den Marxismus (wieder im Geiste der „Rewoluzionnaja Rossija"), wozu er ihn, wie das so üblich ist, in vulgär-vereinfachter Form darstellt und mit der Erfahrung nicht übereinstimmend und wissenschaftlich unbewiesen und für überhaupt falsch erklärt! Außerordentlich bezeichnend ist, dass als einzige Bekräftigung die europäische sozialistische (gesperrt von Herrn L.) Literatur angeführt wird, – offenbar die Literatur der Bernsteinianer. Dieser Hinweis ist ja sehr überzeugend. Wenn die europäischen (europäischen!) Sozialisten bürgerlich zu denken und zu urteilen beginnen, warum sollen sich dann die russischen Bourgeois nicht als Narodniki und Sozialisten ausgeben? Die marxistische Auffassung der Bauernfrage – versucht uns Herr L. zu überzeugen – „würde, wenn sie die einzig mögliche und unbestreitbar richtige wäre, das ganze „Semstwo"- (sic!) Russland in eine furchtbare und tragische Lage versetzen, würde es – angesichts der nachgewiesenen Unmöglichkeit einer fortschrittlichen Agrarpolitik und überhaupt einer vernünftigen, zweckmäßigen Unterstützung der Bauernwirtschaft – zur Untätigkeit verurteilen." Man sieht, ein nicht zu widerlegendes Argument: weil der Marxismus die Unmöglichkeit eines halbwegs dauerhaften Aufstieges halbwegs breiter Schichten der Bauernschaft unter dem Kapitalismus nachweist, darum versetzt er das „Semstwo"- (ist das nicht ein Schreibfehler und soll es nicht eigentlich das „grundbesitzende"2 heißen) Russland, das heißt, das Russland, das eben auf Kosten der Verelendung und der Proletarisierung der Bauernschaft lebt, in eine furchtbare und tragische Lage. Allerdings, gerade darin besteht eines der weltgeschichtlichen Verdienste des Marxismus, dass er die Ideologen der Bourgeoisie, die sich in das Gewand des Narodnikitums, des sozial-ökonomischen Demokratismus usw. hüllen, ein für allemal in eine furchtbare, tragikomische Lage versetzt hat.

Um die theoretischen Übungen des Herrn L. zu erschöpfen, bleibt uns noch folgende Perle anzuführen. „Hier (d. h. in der Landwirtschaft) – sagt man uns – gibt es den automatischen (!) Fortschritt nicht, und kann es ihn nicht geben, der bis zu einem gewissen Grade in der Industrie im Zusammenhang mit der objektiven (!) Entwicklung der Technik möglich ist." Diese beispiellos scharfsinnige Bemerkung ist den Herren Kablukow, Bulgakow, E. David und tutti quanti entlehnt, die in ihren „gelehrten" Arbeiten die Rückständigkeit ihrer eigenen Ansichten mit der Rückständigkeit der Landwirtschaft in technischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht rechtfertigen. Die Rückständigkeit der Landwirtschaft ist unbestreitbar, sie ist von den Marxisten seit langem anerkannt und ist vollkommen erklärbar, aber der (wenn auch nur bis zu einem gewissen Grade) „automatische Fortschritt in der Industrie" und die objektive Entwicklung der Technik – das ist nichts als Kohl.

Die Exkursionen ins Gebiet der Wissenschaft sind jedoch nur eine architektonische Ausschmückung des Aufsatzes des Herrn L. Als echter Realpolitiker gibt er neben einem absoluten Wirrwarr in den Verallgemeinerungen ein im höchsten Grade nüchternes und sachlich-praktisches Programm. Er macht allerdings bescheiden den Vorbehalt – in seinem russischen Kanzleistil –, dass er von dem Entwerfen eines Programmes absehe und sich auf eine Darlegung seiner Stellung beschränke. Aber er tut nur so bescheiden. In Wirklichkeit finden wir in dem Aufsatz des Herrn L. ein außerordentlich eingehendes und vollständiges Agrarprogramm der russischen Liberalen, dem nur die stilistische Redigierung und die Rubrizierung nach Punkten fehlt. Das Programm ist konsequent im liberalen Geiste gehalten: politische Freiheit, demokratische Steuerreform, Freizügigkeit, bäuerlich-demokratische Agrarpolitik, orientiert auf die Demokratisierung des Grundeigentums. Zum Zwecke dieser Demokratisierung wird die Freiheit des Austritts aus der Dorfgemeinde gefordert, die Verwandlung dieser Dorfgemeinde aus einem Zwangsverband in einen freien Verband ähnlich jeder anderen wirtschaftlichen Vereinigung, Schaffung eines demokratischen Pachtrechtes. Der „Staat" solle den „Übergang der Ländereien in die Hände der werktätigen Massen" mit Hilfe einer ganzen Reihe von Maßnahmen fördern, wie: Erweiterung der Tätigkeit der Bauernbank, Verstaatlichung der Apanageländereien, „Schaffung kleiner Arbeitswirtschaften auf individueller oder genossenschaftlicher Grundlage", und endlich Zwangsenteignung oder zwangsmäßige Ablösung des für die Bauern erforderlichen Grund und Bodens. „Natürlich muss diese zwangsmäßige Ablösung auf den festen Boden der Gesetzlichkeit gestellt und in jedem einzelnen Falle mit zuverlässigen Garantien versehen werden", aber in einigen Fällen soll sie „fast (sic!) vorbehaltlos" durchgeführt werden, – zum Beispiel hinsichtlich der abgetrennten Bodenstücke, die leibeigenschaftsähnliche Verhältnisse schaffen. Um den halb-leibeigenschaftlichen Verhältnissen ein Ende zu machen, soll dem Staate das Recht der Zwangsenteignung und der Zwangsvermessung entsprechender Parzellen zugestanden werden.

Das ist das Agrarprogramm der Liberalen. Die Parallele zwischen ihm und dem sozialdemokratischen Agrarprogramm drängt sich von selber auf. Die Ähnlichkeit kommt in der Übereinstimmung der nächsten Tendenzen und der Gleichartigkeit der Mehrzahl der Forderungen zum Ausdruck. Der Unterschied besteht in den beiden folgenden Punkten von kardinaler Bedeutung: erstens wollen die Sozialdemokraten die Beseitigung der Überreste der Leibeigenschaft (die beide Programme als Ziel aufstellen) auf revolutionärem Wege und mit revolutionärer Entschlossenheit durchsetzen, die Liberalen dagegen auf reformerischem Wege und unentschlossen. Zweitens betonen die Sozialdemokraten, dass die von den Überresten der Leibeigenschaft gereinigte Ordnung eine bürgerliche Ordnung ist, sie entlarven schon im Voraus und sofort alle ihre Widersprüche und streben danach, den Klassenkampf, der sich im Schoße dieser neuen Ordnung birgt und der schon jetzt nach außen drängt, sofort auszudehnen und bewusster zu gestalten. Die Liberalen ignorieren den bürgerlichen Charakter der von der Leibeigenschaft gereinigten Ordnung, sie vertuschen deren Widersprüche und streben danach, den sich in ihrem Schoße bergenden Klassenkampf abzustumpfen.

Verweilen wir bei diesen Unterschieden.

Der reformerische und unentschlossene Charakter des liberalen Agrarprogramms ist vor allem daraus offen ersichtlich, dass es über die „zwangsmäßige Ablösung", die außerdem nur „fast" vorbehaltlos anerkannt wird, nicht hinausgeht, – während das sozialdemokratische Agrarprogramm die entschädigungslose Enteignung der abgetrennten Bodenstücke von ihren alten Besitzern fordert, eine Ablösung dagegen nur in besonderen Fällen und nur auf Kosten des Großgrundbesitzes anerkennt. Die Sozialdemokraten verzichten bekanntlich* auch nicht etwa auf die Enteignung des Gutsbesitzerlandes, sie halten es nur für unzulässig und für Abenteurerpolitik, diese – nicht unter allen Bedingungen angebrachte – Forderung ins Programm aufzunehmen. Die Sozialdemokraten rufen von Anfang an das Proletariat auf, den ersten revolutionären Schritt zusammen mit dem begüterten Bauerntum zu machen, um dann sofort entweder mit der bäuerlichen Bourgeoisie gegen die Gutsbesitzerklasse zu gehen oder gegen die bäuerliche Bourgeoisie, falls sich diese mit der Gutsbesitzerklasse vereinigt. Die Liberalen dagegen scheuen auch schon hier im Kampfe gegen die halbleibeigenschaftlichen Verhältnisse die Klassenselbsttätigkeit und den Kampf. Sie wollen die Reform dem „Staate" anvertrauen (wobei sie den Klassencharakter des Staates vergessen), der sie mit Unterstützung der Selbstverwaltungsorgane und „besonderer" Kommissionen durchführen soll. Sie stellen – das ist besonders kennzeichnend für sie – die Zwangsenteignung der abgetrennten Bodenstücke der Zwangsenteignung von Ländereien für die Zwecke der Eisenbahn gleich!! Noch deutlicher hätten unsere Liberalen ihren geheimen Wunsch, die neue Reform unter ebenso „angenehmen" Bedingungen für die herrschenden Klassen durchzuführen, wie sie stets und überall beim Verkauf von Ländereien an die Eisenbahn Zustandekommen, nicht ausdrücken, oder besser gesagt, nicht verraten können. Und das zusammen mit der lauten Phrase der Ersetzung der ständisch-aristokratischen Agrarpolitik durch eine bäuerlich-demokratische! Um eine solche Ersetzung zu verwirklichen, muss man nicht an das „öffentliche Interesse" appellieren, sondern an den unterdrückten Stand, an die Bauernschaft, gegen den unterdrückenden Stand, den Adel, muss man die Bauern gegen den Adel aufwiegeln, die Bauern zur revolutionären Selbsttätigkeit und nicht den Staat zu reformerischer Tätigkeit aufrufen. Weiter. Die Liberalen, die davon reden, den halb leibeigenschaftlichen Verhältnissen ein Ende zu machen, wollen nicht sehen, welche Verhältnisse es denn sind, die sie von der Leibeigenschaft reinigen. Herr L. wiederholt zum Beispiel die Redensarten der Nikolai–on, W. W. und anderer über das „Prinzip der Anerkennung des Rechtes der Ackerbauer auf den von ihnen bearbeiteten Boden", über die „Lebensfähigkeit" der Bauernschaft, aber über das „Prinzip" des bürgerlichen Wirtschaftens und der Ausbeutung der Lohnarbeit durch diese lebensfähigen Bauern geht er mit bescheidenem Schweigen hinweg. Dass die konsequente Durchführung des Demokratismus auf dem Gebiet der Landwirtschaft unvermeidlich eine Stärkung und Festigung gerade der kleinbürgerlichen Vertreter der Bauernschaft bedeutet, – davon haben die bürgerlichen Demokraten keine Vorstellung und wollen sie auch nicht haben. Herr L. lehnt es ab (wieder nach dem Vorbild der Narodniki und im Geiste der „Rewoluzionnaja Rossija"), in der Proletarisierung der Bauernschaft einen „Typus der Entwicklung" zu sehen, er erklärt sie aus den „Überbleibseln der Leibeigenschaft" und dem „allgemeinen pathologischen Zustand des Dorfes"! Wahrscheinlich wird bei uns, sobald wir eine Verfassung haben werden, das Wachstum der Städte, die Flucht der Landarmen aus den Dörfern, der Übergang der Gutsbesitzer von der Abarbeit zur Lohnarbeitswirtschaft usw. aufhören! Bei der Schilderung des segensreichen Einflusses der französischen Revolution auf die französische Bauernschaft spricht Herr L. pathetisch vom Verschwinden der Hungersnot, von der Hebung der Landwirtschaft und ihrem Fortschritt; dass aber dieser Fortschritt ein bürgerlicher Fortschritt war, der auf der Bildung einer „stabilen" Klasse landwirtschaftlicher Lohnarbeiter und auf der chronischen Verelendung der Masse der unteren Schichten der Bauernschaft beruhte, darüber verliert der narodnikische Bourgeois natürlich kein Wort.

Mit einem Wort, der Unterschied zwischen dem Agrarprogramm des Herrn L. und dem sozialdemokratischen Agrarprogramm reproduziert im Kleinen mit erstaunlicher Genauigkeit alle allgemeinen Unterschiede zwischen dem Minimalprogramm der liberalen und dem der proletarischen Demokratie. Ob man nun diese Programme so nimmt, wie die entsprechenden Ideologen sie theoretisch aufstellen, oder wie die entsprechenden Parteien oder Richtungen sie praktisch durchführen, oder ob man in die Geschichte, zum Beispiel des Jahres 1848 hineinschaut, – immer wieder stößt man eben auf diese beiden grundlegenden Unterschiede zwischen der liberalen und der sozialdemokratischen Stellung zu den nächsten praktischen Aufgaben. Reformerische Halbheit im Kampfe gegen die Überbleibsel der Leibeigenschaft und Vertuschung der Klassengegensätze in der „modernen" Gesellschaft einerseits, – revolutionärer Kampf gegen die Reste des Alten, um auf dem Boden der neuen Gesellschaft den Klassenkampf auszudehnen, zu entwickeln und zu verschärfen, anderseits. Natürlich treten diese grundlegenden Unterschiede, die der Natur der sich entwickelnden kapitalistischen Gesellschaft selbst eigen sind, in den verschiedenen nationalen Staaten in sehr verschiedenen Formen und zu verschiedenen Zeitpunkten auf. Die Unfähigkeit, hinter den neuen und eigenartigen Formen die „alte" bürgerliche Demokratie zu erkennen, ist ein charakteristischer Zug ihrer konsequenten und inkonsequenten Ideologen. Zu den letztgenannten können wir zum Beispiel auch nicht umhin, den Vertreter des „verwirrten Narodnikitums", Herrn P. Nowobranzew, (siehe Nr. 32 und 33 der „Rewoluzionnaja Rossija") zu zählen, der aus Anlass der Angriffe der „Iskra" gegen das „Oswoboschdenije" als bürgerliches Klassenorgan spöttisch bemerkt: „Eine schöne Bourgeoisie, die sie da entdeckt hat, das muss man sagen". Herr Struve – belehrt uns die „Rewoluzionnaja Rossija" von oben herab – ist der Vertreter der „Intelligenz" und nicht der „Bourgeoisie als Klasse", denn er vereinigt „keine Klassen oder Stände und reißt sie nicht mit sich".3 Sehr gut, ihr Herren! Aber hättet ihr nur etwas überlegen wollen, so würdet ihr gesehen haben, dass Herr Struve der Vertreter der bürgerlichen Intelligenz ist. Das Bürgertum als Klasse aber wird das Proletariat erst dann auf der Bühne der Geschichte vor sich sehen, wenn die politische Freiheit errungen sein wird, wenn die Regierung fast unmittelbar ein „Komitee" der einen oder anderen Schicht des Bürgertums darstellen wird. Und nur die „Sozialisten aus Missverständnis" sind imstande, nicht zu wissen, dass es die Pflicht der Sozialisten ist, der Arbeiterschaft die Augen über die Bourgeoisie zu öffnen, und zwar sowohl über ihre Tätigkeit als auch über ihre Denkweise, sowohl in ihrer reifen Form als auch in ihrer romantischen Jugendzeit.

Was die Neigung zu Träumereien betrifft, so braucht man sich nur Herrn Nowobranzew anzusehen. Aber unser Aufsatz ist bereits zu umfangreich geworden, die Weltanschauung und die agrargeschichtlichen Auffassungen des Herrn Nowobranzew bieten soviel Interessantes, besonders als Parallele zu Herrn L., dass wir die Unterhaltung darüber auf ein andermal verschieben müssen.

1 In dem Artikel „Die Bourgeoisie im Gewand der Narodniki und die verwirrten Narodniki" wollte Lenin eine kritische Übersicht geben erstens über das Agrarprogramm der Liberalen, das im Artikel L.'s „Zur Agrarfrage" („Oswoboschdenije") dargelegt war, und zweitens über das Agrarprogramm der Narodniki, das im Artikel P. Nowobranzews (A. Pjeschechonows) „Die grundlegenden Fragen des russischen revolutionären Programms" („Rewoluzionnaja Rossija") auseinandergesetzt war. Lenin hat aber nur den ersten Teil seines Planes durchgeführt: die versprochene Fortsetzung des Artikels (mit der Kritik an den Narodniki) ist nicht erschienen. Der Artikel „Die Bourgeoisie im Gewand der Narodniki…" war überhaupt der letzte Artikel, den Lenin in der „Iskra" veröffentlichte. Der Plan des Artikels ist im „Leninski Sbornik" VII veröffentlicht.

2 russisch: „semlewladeltscheskuju". Die Red.

* Siehe die Erklärung Plechanows in Nr. 4 der „Sarja" und meine in der Antwort an lks. {Lenin meint folgende Worte Plechanows aus seinem Artikel „Kommentar zum Entwurf des Programms der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands", Kapitel VIII: „Wahr ist auch, dass in einer revolutionären Epoche die Enteignung der Großgrundbesitzer eine notwendige Bedingung für den sozialpolitischen Sieg der revolutionären Partei sein kann. Aber das ist eine ganz andere Frage. Ihre Lösung wird bedingt sein durch die Wechselbeziehungen der gesellschaftlichen Kräfte in dieser Epoche. Jetzt von ihr zu sprechen, wäre verfrüht, obwohl jetzt schon gesagt werden muss, dass man unter gewissen Umständen gezwungen sein wird, diese Frage zu stellen („Sarja", Nr. 4, August 1902). Diese Erklärung Plechanows steht in seinem Artikel nach einer Reihe von Argumenten, mit denen er nachzuweisen sucht, dass es unzweckmäßig wäre, den Punkt über die Nationalisierung des Grund und Bodens in das Programm der Sozialdemokratie aufzunehmen.}

3 Lenin zitiert den Artikel P. Nowobranzews (A. W. Pjeschechonows) „Die grundlegenden Fragen des russischen revolutionären Programms" (Nr. 32 u. 33 der „Rewoluzionnaja Rossija" vom 28. (15.) September und 14. (1.) Oktober 1903). Der Artikel analysiert den Entwurf zum Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, der in der „Iskra" veröffentlicht war, ferner die Artikel Lenins („Das Agrarprogramm der russischen Sozialdemokratie") und Plechanows („Kommentar zum Entwurf des Programms der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands"), die dieses Programm kommentierten und in der „Sarja" Nr. 4 von August 1902 veröffentlicht waren.

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