i) Der Paragraph 1 des Statuts

i) Der Paragraph 1 des Statuts

Wir haben bereits die verschiedenen Formulierungen angeführt1, um derentwillen auf dem Parteitag interessante Debatten entbranntenA. Diese Debatten füllten fast zwei Sitzungen aus und endeten mit zwei namentlichen Abstimmungen (während des ganzen Parteitages hat es, wenn ich nicht irre, nur acht namentliche Abstimmungen gegeben; angesichts des großen Zeitverlustes, den solche Abstimmungen hervorriefen, wurden sie nur in besonders wichtigen Fällen vorgenommen). Zweifellos wurde hier eine prinzipielle Frage berührt. Das Interesse des Parteitages für die Diskussion war ungeheuer groß. An der Abstimmung beteiligten sich sämtliche Delegierten, – eine auf unserm Parteitag (wie auf jedem großen Kongress) seltene Erscheinung, die ebenfalls von dem großen Interesse der Diskutierenden Zeugnis ablegt.

Worin, fragt es sich, bestand das Wesen der Streitfrage? Ich habe schon auf dem Parteitag gesagt und nachher mehrmals wiederholt, dass „ich unsere Meinungsverschiedenheit (über den § 1) gar nicht für so wesentlich halte, dass von ihr das Sein oder Nichtsein unserer Partei abhängen sollte. An einem schlechten Punkt des Statutes werden wir noch lange nicht zugrunde gehen"! (250) Diese Meinungsverschiedenheit deckt zwar prinzipielle Schattierungen auf, konnte aber an und für sich keineswegs einen solchen Bruch (in Wirklichkeit, wenn man ohne Konvention sprechen will, eine solche Spaltung) hervorrufen, wie sie sich nach dem Parteitag ergeben hat. Doch jede kleine Meinungsverschiedenheit kann groß werden, wenn man auf ihr beharrt, wenn man sie in den Vordergrund rückt, wenn man daran geht, nach allen Wurzeln und allen Verzweigungen dieser Meinungsverschiedenheit zu suchen. Jede kleine Meinungsverschiedenheit kann eine gewaltige Bedeutung erlangen, wenn sie als Ausgangspunkt einer Wendung zu gewissen fehlerhaften Auffassungen dient und wenn diese fehlerhaften Auffassungen sich kraft neuer und neu hinzukommender Meinungsverschiedenheiten mit anarchischen Aktionen, die die Partei zur Spaltung führen, vereinigen.

Gerade so verhielt sich auch die Sache in diesem Fall2. Die verhältnismäßig kleine Meinungsverschiedenheit über den § 1 hat jetzt eine gewaltige Bedeutung erlangt, denn gerade sie diente als Wendepunkt zur opportunistischen Spitzfindigkeit und zur anarchistischen Phrasendrescherei der Minderheit (auf dem Kongress der Liga insbesondere, und dann auch auf den Seiten der neuen „Iskra"). Gerade sie bildete den Anfang jener Koalition der iskristischen Minderheit mit den Anti-Iskristen und dem Sumpf, die zur Zeit der Wahlen endgültig bestimmte Formen angenommen hat, und die man verstehen muss, wenn man die wichtigste grundlegende Meinungsverschiedenheit in der Frage der Zusammensetzung der zentralen Körperschaften verstehen will. Der kleine Fehler Martows und Axelrods im Zusammenhang mit dem § 1 bildete einen kleinen Sprung in unserm Gefäß (wie ich mich auf dem Kongress der Liga ausdrückte). Man konnte das Gefäß fester zusammenbinden, mit einem festen Knoten (und nicht mit einer Schlinge, wie Martow gehört haben will, der sich auf dem Ligakongress in einem an Hysterie grenzenden Zustand befand). Man konnte aber auch alle Bemühungen darauf richten, den Sprung zu vergrößern und das Gefäß entzwei zu schlagen. Dank dem Boykott und ähnlichen anarchistischen Maßnahmen der eifrigen Martow-Leute ist gerade das letztere eingetroffen. Die Meinungsverschiedenheit über den § 1 spielte eine nicht geringe Rolle in der Frage der Wahl der Zentralleitungen, und Martows Niederlage in dieser Frage führte ihn zu einem „prinzipiellen Kampf" mit Hilfe grob-mechanischer und sogar skandalöser Mittel (die Reden auf dem Kongress der Auslandsliga der Russischen Revolutionären Sozialdemokratie) .

Jetzt, nach all diesen Geschehnissen, hat die Frage des § 1 auf diese Weise eine gewaltige Bedeutung erlangt, und wir müssen uns genau Rechenschaft geben, sowohl über den Charakter der Gruppierungen auf dem Parteitag bei der Abstimmung über diesen Paragraphen wie auch – was bedeutend wichtiger ist – über den wahren Charakter jener Schattierungen in den Anschauungen, die sich anlässlich des § 1 herauskristallisierten oder sich herauszukristallisieren begannen. Jetzt, nach den dem Leser bekannten Ereignissen3, ist die Frage bereits so gestellt: spiegelte sich nicht in der Formulierung Martows, die von Axelrod verteidigt wurde, seine (oder ihre) Unsicherheit, Wankelmütigkeit und politische Verschwommenheit, wie ich auf dem Parteitag ausführte (S. 333), seine (oder ihre) Abweichung zum Jaurèsismus und Anarchismus, wie Plechanow auf dem Kongress der Liga meinte (S. 102 u. a. der Protokolle des Liga-Kongresses)? Oder spiegelte sich in meiner Formulierung, die von Plechanow verteidigt wurde, eine falsche, bürokratische, formalistische, beamtenmäßige und nichtsozialdemokratische Auffassung des Zentralismus? Opportunismus und Anarchismus oder Bürokratismus und Formalismus? – so ist die Frage jetzt gestellt, wo die kleine Meinungsverschiedenheit zu einer großen geworden ist. Wir müssen gerade diese, uns von den Geschehnissen aufgedrängte – geschichtlich gegebene würde ich sagen, wenn das nicht zu hochtrabend klänge4 – Fragestellung im Auge haben, wenn wir die Argumente für und gegen meine Formulierung sachlich prüfen.

Beginnen wir die Prüfung dieser Argumente mit der Analyse der Parteitagsdebatten. Die erste Rede, die des Genossen Jegorow, ist nur darum interessant, weil seine Haltung (non liquet, mir ist noch nicht klar, ich weiß noch nicht, wo die Wahrheit liegt) sehr bezeichnend ist für die Stellung vieler Delegierten, für die es nicht leicht war, sich in der wirklich neuen, ziemlich komplizierten und ins Einzelne gehenden Frage auszukennen. Die folgende Rede, die Rede des Genossen Axelrod, stellt die Frage sofort prinzipiell. Das war die erste prinzipielle Rede, richtiger gesagt, überhaupt die erste Rede des Genossen Axelrod auf dem Parteitag, und man kann sein erstes Auftreten mit dem berühmten „Professor" wohl kaum als besonders gelungen anerkennen. „Ich glaube", sagte Genosse Axelrod, „wir müssen die beiden Begriffe Partei und Organisation auseinanderhalten. Hier aber werden diese beiden Begriffe zusammengeworfen. Das ist gefährlich." Das ist das erste Argument gegen meine Formulierung. Man betrachte es näher. Wenn ich sage, dass die Partei die Summe (nicht die einfache arithmetische Summe, sondern ein Komplex) von OrganisationenB sein muss, folgt dann daraus, dass ich die Begriffe Partei und Organisation „zusammenwerfe"? Keineswegs! Ich bringe damit ganz klar und genau meinen Wunsch, meine Forderung zum Ausdruck, dass die Partei als Vorhut der Klasse etwas möglichst Organisiertes darstelle, dass die Partei nur solche Elemente in sich aufnehme, die, sei es auch nur ein Mindestmaß an Organisation zulassen. Mein Widersacher verwechselt dagegen die in der Partei organisierten Elemente mit den nichtorganisierten, die Leute, die sich leiten lassen, mit denen, die sich nicht leiten lassen, den Vortrupp mit den unverbesserlich rückständigen Leuten, denn die verbesserlich rückständigen können der Organisation beitreten. Diese Verwechslung ist in der Tat gefährliсh. Genosse Axelrod beruft sich ferner auf die „streng konspirativen und zentralistischen Organisationen der Vergangenheit" („Semlja i Wolja" und „Narodnaja Wolja"): um diese herum soll sich „eine ganze Reihe von Leuten gruppiert haben, die keiner Organisation angehörten, die ihr aber so oder anders halfen und als Mitglied der Partei galten … Dieser Grundsatz muss in der sozialdemokratischen Organisation noch strenger durchgeführt werden". Damit sind wir gerade an einem der Kernpunkte der Frage angelangt: ist „dieses Prinzip" wirklich ein sozialdemokratisches, – ein Prinzip, das denen erlaubt, sich Parteimitglieder zu nennen, die keiner Parteiorganisation angehören und nur „so oder anders der Partei helfen"? Und Plechanow hat auf diese Frage die einzig mögliche Antwort gegeben:

Axelrod hatte Unrecht mit seinem Hinweis auf die siebziger Jahre. Damals existierte eine gut organisierte und ausgezeichnet disziplinierte Zentralleitung, um sie herum gab es von ihr geschaffene Organisationen verschiedener Kategorien, und was außerhalb dieser Organisationen bestand, war Chaos, Anarchie. Die Bestandteile dieses Chaos nannten sich Parteimitglieder, aber die Sache gewann dadurch nicht, sie verlor nur. Wir brauchen diese Anarchie der siebziger Jahre nicht nachzuahmen, sondern müssen sie vermeiden."

Dieses Prinzip, das Genosse Axelrod für ein sozialdemokratisches ausgeben wollte, ist also in Wirklichkeit ein anarchistisches Prinzip. Um das zu widerlegen, muss die Möglichkeit der Kontrolle, der Leitung und der Disziplin außerhalb der Organisation gezeigt werden, muss die Notwendigkeit gezeigt werden, den „Elementen des Chaos" die Bezeichnung von Parteimitgliedern zuzuerkennen. Die Verteidiger der Formulierung des Genossen Martow haben weder das eine noch das andere gezeigt und konnten es auch nicht zeigen. Genosse Axelrod hat als Beispiel einen „Professor" genommen, der „sich für einen Sozialdemokraten hält und das offen erklärt". Um den Gedanken, der in diesem Beispiel enthalten ist, zu Ende zu führen, hätte Genosse Axelrod weiter fragen müssen: erkennen denn die organisierten Sozialdemokraten selber diesen Professor als Sozialdemokraten an? Ohne diese weitere Frage zu stellen, verlässt Genosse Axelrod seine Beweisführung auf halbem Wege. In der Tat, entweder – oder. Entweder die organisierten Sozialdemokraten erkennen den uns interessierenden Professor als Sozialdemokraten an – und warum sollen sie ihn dann nicht auch in diese oder jene sozialdemokratische Organisation aufnehmen? Erst wenn er aufgenommen ist, werden die „Erklärungen" des Professors seinen Taten entsprechen, werden sie keine leeren Redensarten sein (wie es allzuoft mit den Erklärungen von Professoren der Fall ist). Oder aber die organisierten Sozialdemokraten erkennen den Professor als Sozialdemokraten nicht an, und dann ist es zwecklos, sinnlos und schädlich, ihm das Recht zu geben, den ehrenvollen und verantwortlichen Namen eines Parteimitgliedes zu tragen. Die Sache läuft also eben auf eine konsequente Durchführung des Prinzips der Organisation oder auf eine Billigung der Zerfahrenheit und Anarchie hinaus. Bauen wir, ausgehend von dem bereits vorhandenen und festgefügten Kern der Sozialdemokraten, der zum Beispiel den Parteitag organisiert und der die Pflicht hat, alle möglichen Parteiorganisationen zu erweitern und zu vermehren, eine Partei auf, oder begnügen wir uns mit der beruhigenden Redensart, dass alle, die helfen, auch Parteimitglieder seien?

Nehmen wir die Formel Lenins an", fuhr Genosse Axelrod fort, „dann werfen wir einen Teil von Leuten über Bord, die zwar nicht unmittelbar in die Organisation aufgenommen werden können, aber trotzdem Parteimitglieder sind".

Die Verwechslung der Begriffe, deren Genosse Axelrod mich beschuldigen wollte, tritt bei ihm selbst mit voller Deutlichkeit zutage: er nimmt bereits als gegeben an, dass alle, die der Partei helfen, Parteimitglieder sind, während doch gerade um diese Frage gestritten wird und die Opponenten erst den Nachweis für die Notwendigkeit und den Nutzen einer solchen Auslegung zu erbringen haben. Was ist der Inhalt dieses auf den ersten Blick so fürchterlichen Ausdrucks: Über Bord werfen? Wenn nur die Mitglieder jener Organisationen als Parteimitglieder gelten sollen, die als Parteiorganisationen anerkannt sind, so können doch die Leute, die nicht „unmittelbar" irgendeiner Parteiorganisation beitreten können, in einer parteilosen, aber der Partei nahestehenden Organisation arbeiten. Von einem Überbordwerfen im Sinne des Fernhaltens von der Arbeit, der Ausschaltung von der Bewegung kann also gar nicht die Rede sein. Im Gegenteil, je stärker unsere Parteiorganisationen sein werden, denen wirkliche Sozialdemokraten angehören, um so weniger Wankelmütigkeit und Schwankungen wird es innerhalb der Partei geben, um so breiter, vielseitiger, reicher und fruchtbarer wird der Einfluss der Partei auf die sie umgebenden, von ihr geleiteten Arbeitermassen sein. Man darf doch wirklich die Partei als Vorhut der Arbeiterklasse nicht mit der ganzen Klasse verwechseln. Und gerade einer solchen Verwechselung (die für unseren opportunistischen Ökonomismus überhaupt kennzeichnend ist), verfällt Genosse Axelrod, wenn er sagt:

Wir schaffen natürlich vor allem eine Organisation der aktivsten Elemente in der Partei, eine Organisation von Revolutionären, doch müssen wir, wenn wir eine Klassenpartei sind, darauf bedacht sein, dass nicht Leute außerhalb der Partei bleiben, die sich bewusst, wenn auch nicht ganz aktiv, an diese Partei anlehnen".

Erstens werden keineswegs nur die Organisationen der Revolutionäre, sondern auch eine ganze Reihe von Arbeiterorganisationen, die als Parteiorganisationen anerkannt sind, zu den aktiven Elementen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei gehören. Zweitens: aus welchem Grunde, kraft welcher Logik soll sich aus der Tatsache, dass wir eine Klassenpartei sind, die Schlussfolgerung ergeben, dass eine Unterscheidung zwischen denen, die der Partei angehören, und denen, die sich an die Partei anlehnen, überflüssig sei? Ganz im Gegenteil: gerade weil ein Unterschied im Grad des Bewusstseins und im Grad der Aktivität besteht, muss auch eine Unterscheidung im Grad der Nähe zur Partei gemacht werden. Wir sind die Partei einer Klasse, und deshalb muss fast die gesamte Klasse (und in Kriegszeiten, in der Zeit des Bürgerkrieges, auch die gesamte Klasse) unter der Leitung unserer Partei handeln, sie muss sich unserer Partei möglichst eng anschließen, doch es wäre leere Träumerei und „Chwostismus", wenn man glauben wollte, dass irgendwann unter der Herrschaft des Kapitalismus fast die gesamte Klasse oder gar die gesamte Klasse imstande wäre, sich auf die Stufe des Bewusstseins und der Aktivität zu erheben, auf der ihre Vorhut, ihre sozialdemokratische Partei steht. Kein vernünftiger Sozialdemokrat hat je daran gezweifelt, dass unter dem Kapitalismus selbst die Gewerkschaftsorganisation (die primitiver und dem Bewusstsein der rückständigen Schichten zugänglicher ist) außerstande ist, fast die gesamte oder gar die gesamte Arbeiterklasse zu erfassen. Es würde heißen, sich selbst betrügen, die Augen vor der gewaltigen Größe unserer Aufgaben schließen, diese Aufgaben einengen, wollte man den Unterschied zwischen den Vortrupps und den ganzen Massen, die zu ihnen neigen, vergessen, wollte man die ständige Pflicht der Vorhut vergessen, immer breitere Schichten auf die Stufe dieser Vorhut zu erheben. Es heißt nämlich die Augen verschließen und das vergessen, wenn man den Unterschied verwischt zwischen denen, die der Partei angehören, und denen, die sich an sie anlehnen, zwischen den bewussten und aktiven Genossen und den Helfern.

Wenn man sich zur Rechtfertigung der organisatorischen Verschwommenheit, zur Rechtfertigung dessen, dass man Organisation und Desorganisation miteinander verwechselt, darauf beruft, dass wir die Partei einer Klasse sind, so wiederholt man den Fehler Nadjeschdins, der die „philosophische und sozialhistorische Frage der ,Wurzeln' der Bewegung ,in der Tiefe' mit der technisch-organisatorischen Frage verwechselte" („Was tun?" S. 915). Gerade diese leichtfertige Verwechselung Axelrods wiederholten dann Dutzende Male Redner, die die Formulierung des Genossen Martow verteidigten. „Je weiter die Bezeichnung Parteimitglied verbreitet sein wird, um so besser", sagte Martow, ohne jedoch zu erklären, welchen Nutzen man von der Verbreitung einer Bezeichnung eigentlich haben kann, die dem Inhalte nicht entspricht. Kann man denn leugnen, dass die Kontrolle über die Mitglieder, die der Parteiorganisation nicht angehören, eine Fiktion ist? Die weite Verbreitung einer Fiktion ist schädlich und nicht nützlich. „Wir sollten uns nur freuen, wenn jeder Streikende, jeder Demonstrierende, der für seine Handlungen zur Verantwortung gezogen wird, sich Parteimitglied nennen kann" (S. 289). Wirklich? Jeder Streikende soll das Recht haben, sich Parteimitglied zu nennen? Mit dieser These führt Genosse Martow seinen Fehler sofort ad absurdum, denn er setzt damit den Sozialdemokratismus zum Streikismus herab und wiederholt so die Trugschlüsse der Akimow. Wir sollten uns nur freuen, wenn es der Sozialdemokratie gelingt, jeden Streik zu leiten, denn es ist die direkte und unbedingte Pflicht der Sozialdemokratie, den Klassenkampf des Proletariats in allen Erscheinungsformen zu leiten, der Streik aber ist eine der tiefst-gehenden und mächtigsten Äußerungen dieses Kampfes. Doch wir wären Chwostisten, wollten wir die Gleichsetzung einer solchen primitiven, ipso facto6 nicht mehr als trade-unionistischen Form des Kampfes mit dem allumfassenden und bewussten sozialdemokratischen Kampf zulassen. Wir würden opportunistisch eine bewusste Lüge legalisieren, wenn wir jedem Streikenden das Recht einräumten, „sich für ein Parteimitglied zu erklären", denn eine solche Erklärung würde in sehr vielen Fällen der Wahrheit nicht entsprechen. Wir würden uns von schönen Träumereien einwiegen lassen, wollten wir den anderen und uns selber weismachen, dass bei der maßlosen Zersplitterung, Unterdrückung und Stumpfheit, die unter dem Kapitalismus auf sehr breiten Schichten der „ungelernten", unqualifizierten Arbeiter lasten müssen, jeder Streikende Sozialdemokrat und Mitglied der Sozialdemokratischen Partei sein kann. Gerade an dem Beispiel des „Streikenden" wird der Unterschied zwischen dem revolutionären Streben, jeden Streik sozialdemokratisch zu leiten, und der opportunistischen Phrase, die jeden Streikenden zum Parteimitglied erklärt, besonders klar ersichtlich. Wir sind die Partei der Klasse, soweit wir tatsächlich fast die gesamte oder sogar die gesamte Klasse des Proletariats sozialdemokratisch leiten; aber daraus können nur die Akimow den Schluss ziehen, dass wir in Worten Partei und Klasse gleichsetzen müssen.

Ich fürchte keine Verschwörerorganisation", sagte in derselben Rede Genosse Martow, „doch", fügte er hinzu, „hat die Verschwörerorganisation für mich nur insofern Sinn, als sie von einer umfassenden sozialdemokratischen Arbeiterpartei umhüllt ist" (S. 239). Man hätte, um genau zu sein, sagen sollen: insofern sie von einer breiten sozialdemokratischen Arbeiterbewegung umhüllt ist. Aber auch in dieser Form ist die Behauptung des Genossen Martow nicht nur unbestreitbar, – sie ist geradezu eine Binsenwahrheit. Ich gehe nur darum auf diesen Punkt ein, weil die folgenden Redner aus der Binsenwahrheit des Genossen Martow das sehr beliebte und sehr vulgäre Argument gemacht haben, Lenin wolle „die Gesamtsumme der Parteimitglieder auf die Summe der Verschwörer beschränken". Diesen Schluss, über den man nur lächeln kann, haben die Genossen Possadowski und Popow gezogen, und als er von Martynow und Akimow aufgegriffen wurde, offenbarte sich sein wahrer Charakter vollkommen, nämlich der Charakter einer opportunistischen Phrase. Im gegenwärtigen Augenblick wird dasselbe Argument in der neuen „Iskra" vom Genossen Axelrod entwickelt, damit die Leserwelt die neuen organisatorischen Ansichten der neuen Redaktion kennenlerne. Schon auf dem Parteitag, in der ersten Sitzung, in der die Frage des § 1 behandelt wurde, merkte ich, dass meine Opponenten diese billige Waffe ausnützen wollen, und warnte daher in meiner Rede (S. 240): „Man glaube nicht, dass die Parteiorganisationen nur aus Berufsrevolutionären bestehen müssen. Wir brauchen die mannigfaltigsten Organisationen aller Arten, Rangunterschiede und Schattierungen, angefangen von außerordentlich engen und konspirativen Organisationen bis zu sehr breiten, freien, losen Organisationen"7. Das ist eine so augenfällige selbstverständliche Wahrheit, dass ich es für überflüssig hielt, auf sie näher einzugehen. Doch heutzutage, wo wir in sehr vielen Dingen zurückgeworfen worden sind, müssen wir auch hier das bereits Gesagte wiederholen, und zwar möchte ich einige Stellen aus „Was tun?" und dem „Brief an einen Genossen"8 anführen:

„… Dem Zirkel der Koryphäen, wie z. B. Alexejew und Myschkin, Chalturin und Scheljabow, sind politische Aufgaben im wirklichsten, im praktischsten Sinne des Wortes zugänglich, sie sind ihnen gerade darum und insofern zugänglich, als ihre glühende Predigt in der spontan erwachenden Masse einen Widerhall findet, als ihre sprühende Energie von der Energie der revolutionären Klasse aufgegriffen und unterstützt wird."

Um eine sozialdemokratische Pаrtei zu sein, muss man eben die Unterstützung der Klasse erreichen. Nicht die Partei hat die Verschwörerorganisation zu umhüllen, wie Genosse Martow glaubte, sondern die revolutionäre Klasse, das Proletariat, muss die Partei umhüllen, die sowohl verschwörerische als auch nichtverschwörerische Organisationen in sich einschließt.

„… Die Organisationen der Arbeiter für den ökonomischen Kampf müssen gewerkschaftliche Organisationen sein. Jeder sozialdemokratische Arbeiter hat diesen Organisationen nach Möglichkeit Beistand zu leisten und aktiv in ihnen zu arbeiten Es liegt aber absolut nicht in unserm Interesse, zu fordern, dass nur Sozialdemokraten Mitglieder der Gewerkvereine sein dürfen: das würde den Umfang unseres Einflusses auf die Massen einschränken. Mag am Gewerkverein jeder Arbeiter teilnehmen, der die Notwendigkeit des Zusammenschlusses zum Kampfe gegen die Unternehmer und die Regierung begriffen hat. Das eigentliche Ziel der Gewerkvereine wäre gar nicht zu erreichen, wenn sie nicht alle Arbeiter umfassten, denen, sei es auch nur diese eine elementare Stufe der Erkenntnis zugänglich ist, und wenn diese Gewerkvereine nicht sehr breite Organisationen wären. Und je breiter diese Organisationen sind, um so größer wird unser Einfluss auf sie sein, der Einfluss, den nicht nur die „spontane" Entwicklung des ökonomischen Kampfes ausübt, sondern auch die direkte bewusste Einwirkung der sozialistischen Mitglieder des Vereins auf ihre Kollegen" (S. 86).

Nebenbei bemerkt ist das Beispiel der Gewerkschaftsverbände besonders kennzeichnend für die Beurteilung der strittigen Frage des § 1. Dass diese Verbände „unter der Kontrolle und der Leitung" der sozialdemokratischen Organisation arbeiten müssen – darüber kann es unter Sozialdemokraten keine zwei Meinungen geben. Doch aus diesem Grunde allen Mitgliedern solcher Verbände das Recht zu geben, „sich für Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei zu erklären", wäre ein offensichtlicher Unsinn und würde zweifachen Schaden zufügen: einerseits den Umfang der Gewerkschaftsbewegung einengen und die Solidarität der Arbeiter auf diesem Boden schwächen. Anderseits würde das in der sozialdemokratischen Partei der Verschwommenheit und Wankelmütigkeit Tor und Tür öffnen. Die deutsche Sozialdemokratie hatte Gelegenheit, eine ähnliche Frage konkret zu lösen, als sich der berühmte Konflikt mit den Hamburger Akkordmaurern ereignete. Die Sozialdemokratie zögerte keinen Augenblick, den Streikbruch als eine vom sozialdemokratischen Standpunkt aus ehrlose Handlung zu erklären, d. h. die Leitung der Streiks und deren Unterstützung für ihre ureigene Sache zu erklären, zu gleicher Zeit aber lehnte sie ebenso entschieden die Forderung ab, die Interessen der Partei den Interessen der Berufsverbände gleichzusetzen, der Partei die Verantwortung für die einzelnen Schritte der einzelnen Verbände aufzuerlegen. Die Partei muss und wird sich bemühen, die Berufsverbände mit ihrem Geiste zu durchtränken und ihrem Einfluss unterzuordnen, doch gerade im Interesse dieses Einflusses muss sie die vollkommen sozialdemokratischen (der Sozialdemokratischen Partei angehörenden) Elemente dieser Gewerkschaften von den nicht ganz klassenbewussten und politisch nicht ganz aktiven trennen, und nicht die einen mit den andern in einen Topf werfen, wie es Genosse Axelrod möchte.

„… Die Zentralisierung der konspirativsten Funktionen durch eine Organisation der Revolutionäre wird nicht schwächend, sondern bereichernd wirken auf die Ausdehnung und den Gehalt einer ganzen Masse anderer Organisationen, nämlich der Organisationen, die auf eine breite Masse berechnet und darum möglichst lose und möglichst wenig konspirativ sind: der Gewerkschaftsverbände der Arbeiter, der Arbeiterzirkel für Selbstbildung und der Lesezirkel für illegale Literatur, ferner der sozialistischen und der demokratischen Zirkel in allen übrigen Bevölkerungsschichten usw. usw. Solche Zirkel, Verbände und Organisationen sind überall in größter Zahl und mit den mannigfaltigsten Funktionen erforderlich, aber es ist sinnlos und schädlich, sie mit der Organisation der Revolutionäre zu verwechseln, die Grenzen zwischen ihnen zu verwischen … " (S. 96).

Aus diesen Sätzen geht hervor, wie überflüssig der Hinweis des Genossen Martow war, dass die Organisation der Revolutionäre von breiten Arbeiterorganisationen umhüllt sein müsse. Ich habe darauf bereits in „Was tun?" hingewiesen und im „Brief an einen Genossen" habe ich diesen Gedanken konkreter entwickelt. Die Betriebszirkel – schrieb ich dort„sind für uns besonders wichtig: beruht doch die ganze Hauptkraft der Bewegung auf der Organisiertheit der Arbeiter in den Großbetrieben, denn die Großbetriebe (und Fabriken) umfassen nicht nur zahlenmäßig, sondern noch viel mehr dem Einfluss, der Entwicklung und der Kampffähigkeit nach den allerwichtigsten Teil der Arbeiterklasse. Jeder Betrieb muss unsere Festung sein … Das Betriebsunterkomitee muss sich Mühe geben, den ganzen Betrieb, einen möglichst großen Teil der Arbeiter durch ein Netz von allen möglichen Zirkeln (oder Agenten) zu erfassen … Alle Gruppen, Zirkel, Unterkomitees usw. müssen die Befugnisse von Einrichtungen oder Unterabteilungen des Komitees besitzen. Ein Teil von ihnen wird offen den Wunsch aussprechen, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands beizutreten, und wird ihr, unter der Voraussetzung der Bestätigung durch das Komitee, angehören, sie werden (im Auftrage des Komitees oder im Einverständnis mit ihm) bestimmte Funktionen übernehmen und sich verpflichten, sich den Anordnungen der Parteiorgane unterzuordnen, sie werden alle Rechte der Parteimitglieder erhalten und als nächste Kandidaten für das Komitee betrachtet werden usw. Andere Gruppen werden der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands nicht beitreten, ihre Stellung wird weiter die von Zirkeln sein, die von Parteimitgliedern geschaffen werden oder die sich an die eine oder die andere Parteigruppe anlehnen usw." (S. 17 u. 18).

Aus den von mir unterstrichenen Worten ist besonders deutlich zu ersehen, dass der Gedanke meiner Formulierung des § 1 schon im „Brief an einen Genossen" vollkommen zum Ausdruck gekommen ist. Die Bedingungen des Eintritts in die Partei sind hier offen genannt, nämlich: 1. ein gewisser Grad von Organisiertheit und 2. die Bestätigung des Parteikomitees. Auf der nächstfolgenden Seite sage ich auch annähernd, welche Gruppen und Organisationen und aus welchen Erwägungen in die Partei aufgenommen werden dürfen (oder nicht aufgenommen werden dürfen).

Die Gruppen der Austräger müssen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands angehören und eine bestimmte Anzahl von Parteimitgliedern und Funktionären kennen. Eine Gruppe, die die Arbeitsbedingungen in verschiedenen Berufen studiert und Entwürfe von gewerkschaftlichen Forderungen ausarbeitet, muss nicht unbedingt der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands angehören. Eine Gruppe von Studenten, Offizieren, Angestellten, die sich, unter Teilnahme von einem oder zwei Parteimitgliedern, mit Selbstbildungsarbeit beschäftigen, darf manchmal sogar überhaupt nicht von deren Zugehörigkeit zur Partei wissen (S. 18 u. 19) usw."

Da ist weiteres Material zur Frage des „offenen Visiers"!

Während die Formel des Martowschen Entwurfes die Beziehungen von Partei und Organisation nicht einmal berührt, habe ich wohl schon ein Jahr vor dem Parteitag darauf hingewiesen, dass die einen Organisationen der Partei angehören müssen, die anderen nicht. Im „Brief an einen Genossen" tritt bereits klar der Gedanke hervor, den ich auf dem Parteitag verteidigt habe. Man könnte die Sache folgendermaßen anschaulich darstellen.9 Nach dem Grad der Organisiertheit im Allgemeinen und dem Grad der Konspirativität der Organisation insbesondere kann man etwa folgende Kategorien unterscheiden: 1. die Organisationen der Revolutionäre; 2. die Organisationen der Arbeiter, die möglichst breit und mannigfaltig sein müssen (ich beschränke mich allein auf die Arbeiterklasse und setze als selbstverständlich voraus, dass gewisse Elemente der anderen Klassen unter gewissen Bedingungen ebenfalls hierzu gehören werden). Diese beiden Kategorien bilden die Partei. Ferner 3. die Organisationen der Arbeiter, die der Partei nahestehen; 4. die Organisationen der Arbeiter, die der Partei nicht nahestehen, aber sich faktisch ihrer Kontrolle und Leitung unterordnen; 5. die unorganisierten Elemente der Arbeiterklasse, die sich zum Teil wenigstens in den Fällen wichtiger Äußerungen des Klassenkampfes ebenfalls der Leitung der Sozialdemokratie unterordnen. So ungefähr stellt sich die Sache von meinem Standpunkt aus dar. Vom Standpunkt des Genossen Martow dagegen bleibt die Grenze der Partei vollkommen unbestimmt, denn „jeder Streikende" darf „sich für ein Parteimitglied erklären". Welchen Nutzen hat man von dieser Verschwommenheit? – Eine weite Verbreitung des „Namens"! Der Schaden, den sie zufügt, ist der desorganisierende Gedanke der Vermengung von Klasse und Partei.

Zur Beleuchtung der von uns aufgestellten allgemeinen Sätze werfen wir noch einen flüchtigen Blick auf die weiteren Debatten zu § 1 auf dem Parteitag. Genosse Bruker tritt (zum Vergnügen des Genossen Martow) für meine Formulierung ein. Aber es erweist sich, dass sein Bündnis mit mir – zum Unterschied vom Bündnis des Genossen Akimow mit Martow – auf einem Missverständnis beruht. Genosse Bruker „ist mit dem ganzen Statut und seinem ganzen Geiste nicht einverstanden" (S. 239) und verteidigt meine Formel als Grundlage des von den Anhängern des „Rabotscheje Djelo" ersehnten Demokratismus. Genosse Bruker hat sich noch nicht zu dem Standpunkt erhoben, dass man im politischen Kampf mitunter das kleinere Übel wählen muss: Genosse Bruker hat nicht bemerkt, dass es nutzlos ist, auf einem Parteitag, wie dem unseren, den Demokratismus zu verteidigen. Genosse Akimow hat sich als weitblickender erwiesen. Er hat die Frage ganz richtig gestellt, als er zugab, dass „die Genossen Martow und Lenin darum streiten, welche Formulierung ihr gemeinsames Ziel besser erreicht" (S. 252). Ich und Bruker – fährt er fort – „wollen jene wählen, die das Ziel in geringerem Maße erreicht. Ich wähle in dieser Hinsicht die Formulierung Martows". Und Genosse Akimow erklärte offenherzig, dass er „ihr Ziel selbst" (das Ziel von Plechanow, Martow und mir: – die Schaffung einer leitenden Organisation von Revolutionären) als „nicht zu verwirklichen und als schädlich" betrachte; ebenso wie Genosse MartynowC vertritt er die Idee der Ökonomisten, dass „eine Organisation von Revolutionären" nicht notwendig sei. Er sei „vom Glauben erfüllt, dass das Leben sich dennoch in unserer Parteiorganisation Bahn brechen werde, unabhängig davon, ob man ihr mit der Formel Martows oder mit der Formel Lenins den Weg versperren wird". Es würde überflüssig sein, auf diese „chwostistische" Auffassung vom „Leben" einzugehen, wenn wir nicht auch beim Genossen Martow auf sie gestoßen wären. Die zweite Rede des Genossen Martow (S. 245) ist überhaupt so interessant, dass es sich lohnt, sie ausführlich zu prüfen.

Das erste Argument des Genossen Martow: die Kontrolle der Parteiorganisationen über die Parteimitglieder, die den Organisationen nicht angehören, ist „zu verwirklichen, soweit das Komitee, das irgend jemand eine bestimmte Funktion überträgt, die Möglichkeit hat, sie zu überwachen" (S. 245). Diese These ist außerordentlich charakteristisch, denn sie „verrät", wenn man sich so ausdrücken darf, wer die Formulierung Martows braucht und wem sie in Wirklichkeit nützen wird: einzelnen Intellektuellen oder Arbeitergruppen und Arbeitermassen. Die Sache ist nämlich die, dass zwei Auslegungen der Martowschen Formel möglich sind: 1. Jeder hat das Recht, sich als Parteimitglied „zu erklären" (die Worte stammen von Martow selber), der ihr unter der Leitung einer ihrer Organisationen einen regelmäßigen persönlichen Beistand leistet. 2. Jede Parteiorganisation hat das Recht, jeden als Parteimitglied anzuerkennen, der ihr unter ihrer Leitung einen regelmäßigen persönlichen Beistand leistet. Nur die erstgenannte Auslegung gibt tatsächlich „jedem Streikenden" die Möglichkeit, sich Parteimitglied zu nennen, und darum hat sie allein sich sofort die Herzen der Liber, Akimow und Martynow erobert. Doch diese Auslegung ist schon offenkundig eine Phrase, denn dann müsste das auf die gesamte Arbeiterklasse angewandt werden, und der Unterschied zwischen Partei und Klasse würde verwischt sein; von der Kontrolle und Leitung „eines jeden Streikenden" kann man nur „symbolisch" sprechen. Darum kam Genosse Martow in seiner zweiten Rede sofort auf die zweite Auslegung zu sprechen (obwohl sie, nebenbei bemerkt, vom Parteitag direkt abgelehnt worden war, der die Resolution Kostitschs zurückgewiesen hatte, S. 25510): das Komitee wird Funktionen übertragen und ihre Ausführung überwachen. Solche besonderen Aufträge werden natürlich nie der Masse der Arbeiter erteilt werden, den Tausenden von Proletariern (von denen Genosse Axelrod und Genosse Martynow reden) – sie werden oft gerade den Professoren anvertraut werden, von denen Genosse Axelrod sprach, jenen Gymnasiasten, um die sich Genosse Liber und Genosse Popow sorgten (S. 241), jener revolutionären Jugend, auf die sich Genosse Axelrod in seiner zweiten Rede berief (S. 242). Mit einem Wort, die Formel des Genossen Martow wird entweder ein toter Buchstabe, eine hohle Redensart bleiben, oder sie wird hauptsächlich und fast ausschließlich „für die Intellektuellen, die durch und durch vom bürgerlichen Individualismus durchtränkt sind" und der Organisation nicht beitreten wollen, von Nutzen sein. In Worten verteidigt Martows Formel die Interessen der breiten Schichten des Proletariats; in der Tat wird diese Formel den Interessen der bürgerlichen Intellektuellen dienen, die vor der proletarischen Disziplin und Organisation zurückschrecken. Niemand wird zu leugnen wagen, dass die Intellektuellen als besondere Schicht der modernen kapitalistischen Gesellschaft im Großen und Ganzen gekennzeichnet ist gerade durch den Individualismus und die Unfähigkeit zur Disziplin und Organisation (man vergleiche z. B. die bekannten Artikel Kautskys über die Intellektuellen11); hierdurch unterscheidet sich diese Gesellschaftsschicht ungünstig vom Proletariat; darin besteht eine der Erklärungen für die Schwächlichkeit und die Wankelmütigkeit der Intellektuellen, eine Eigenschaft, die das Proletariat so oft zu fühlen bekommt; und diese Eigenschaft der Intellektuellen steht in unlöslichem Zusammenhang mit ihren gewöhnlichen Lebensbedingungen, ihren Erwerbsverhältnissen, die in sehr vielem den Existenzbedingungen des Kleinbürgertums ähnlich sehen (Einzelarbeit oder Beschäftigung in sehr kleinen Gemeinschaften usw.). Es ist schließlich auch kein Zufall, dass gerade die Verteidiger der Formel des Genossen Martow als Beispiel Professoren und Gymnasiasten anführen mussten! Nicht die Verfechter des breiten proletarischen Kampfes sind in den Debatten über § 1 gegen die Verfechter der radikalen Verschwörerorganisation aufgetreten, wie es die Genossen Martynow und Axelrod dachten, sondern Anhänger des bürgerlich-intellektuellen Individualismus gerieten in Konflikt mit den Anhängern der proletarischen Organisation und Disziplin. Genosse Popow sagte:

Überall, in St. Petersburg wie auch in Nikolajew oder Odessa, gibt es, nach Aussage der Vertreter dieser Städte, Dutzende von Arbeitern, die unsere Literatur verbreiten, die mündliche Agitation betreiben und die nicht Mitglieder der Organisation sein können. Man kann sie in die Organisation eintragen, sie aber als Mitglieder zu betrachten ist nicht möglich" (S. 241).

Warum können sie nicht Mitglieder der Organisation sein? Das ist ein Geheimnis des Genossen Popow geblieben. Ich habe bereits oben die Stelle aus dem „Brief an einen Genossen" angeführt, die zeigt, dass gerade der Einschluss aller solcher Arbeiter (zu Hunderten und nicht zu Dutzenden) in die Organisation sowohl möglich wie notwendig ist, wobei sehr viele von diesen Organisationen der Partei angeschlossen werden können und müssen.

Das zweite Argument des Genossen Martow: „Für Lenin gibt es keine anderen Organisationen in der Partei als nur die Parteiorganisationen." … Vollkommen richtig!

„… Für mich dagegen muss es solche Organisationen geben. Das Leben schafft Organisationen und vermehrt sie rascher, als wir sie in der Hierarchie unserer Kampforganisation der Berufsrevolutionäre einschließen können … "

Das ist in zwei Hinsichten falsch: 1. Das „Leben" schafft bedeutend weniger tüchtige Organisationen von Revolutionären, als wir sie brauchen, als es für die Arbeiterbewegung erforderlich ist. 2. Unsere Partei muss nicht nur die Hierarchie der Organisationen von Revolutionären sein, sondern auch eine Hierarchie der Masse von Arbeiterorganisationen …

Lenin glaubt, das Zentralkomitee werde als Parteiorganisation nur die Organisationen bestätigen, die in prinzipieller Hinsicht vollkommen zuverlässig sind. Doch Genosse Bruker versteht sehr wohl, dass das Leben (sic!) seine Rechte geltend machen wird, und dass das Zentralkomitee gezwungen sein wird – um nicht eine Menge von Organisationen außerhalb der Partei zu lassen –, sie zu legalisieren, trotz ihrem durchaus unzuverlässigen Charakter. Darum eben schließt sich Genosse Bruker der Ansicht Lenins an … "

Das ist eine wahrhaftig chwostistische Auffassung vom „Leben"12. Gewiss, würde das Zentrаlkomitee unbedingt aus Genossen bestehen, die sich nicht von ihrer eigenen Meinung leiten lassen, sondern von dem, was die anderen sagen (siehe den Konflikt mit dem Organisationskomitee13), dann würde das „Leben" seine Rechte in dem Sinne „geltend machen", dass die rückständigen Elemente der Partei die Oberhand gewinnen müssten (wie es jetzt auch geschehen ist, wo sich aus den rückständigen Elementen eine „Parteiminderheit" gebildet hat)14. Doch kann man.keinen einzigen vernünftigen Grund anführen, der ein vernünftiges Zentralkomitee zwingen könnte, der Partei „unzuverlässige" Elemente zuzuführen. Gerade durch diese Berufung auf das „Leben", das unzuverlässige Elemente „vermehrt", zeigt Genosse Martow anschaulich den opportunistischen Charakter seines Organisationsplanes!

„… Ich aber meine", fährt er fort, „dass wir eine solche Organisation (die nicht ganz zuverlässig ist), wenn sie bereit ist, das Parteiprogramm und die Parteikontrolle anzunehmen, in die Partei aufnehmen können, ohne sie dadurch zu einer Parteiorganisation zu machen. Ich würde es für einen großen Triumph unserer Partei halten, wenn z. B. irgendein Verband von ,Unabhängigen' erklärte, dass er den Standpunkt der Sozialdemokratie und ihr Programm annimmt und in die Partei eintritt, was jedoch nicht bedeutet, dass wir diesen Verband in die Parteiorganisation einschließen … "

Zu einem solchen Durcheinander führt die Formel Martows: parteilose Organisationen, die der Partei angehören! Man stelle sich nur sein Schema vor: Partei 1. Organisation der Revolutionäre + 2. Organisationen von Arbeitern, die als Parteiorganisationen anerkannt sind + 3. Organisationen von Arbeitern, die als Parteiorganisation nicht anerkannt sind (vorwiegend aus der Zahl der „unabhängigen" Organisationen) + 4. Einzelne, die verschiedene Funktionen erfüllen, Professoren, Gymnasiasten usw. + 5. „jeder Streikende". Diesem wunderbaren Plan könnte man nur noch die Worte des Genossen Liber zur Seite stellen:

Es ist nicht nur unsere Aufgabe, eine Organisation zu organisieren (!!), wir können und müssen die Partei organisieren" (S. 241).

Ja, gewiss, wir können und müssen es tun, aber dazu brauchen wir nicht sinnlose Worte über die „Organisierung von Organisationen", sondern die direkte Forderung, dass die Parteimitglieder tatsächlich an der Organisierung arbeiten. Von der „Organisierung der Partei" reden und unter dem Deckmantel des Wortes Partei jede Unorganisiertheit und jedes Durcheinander verteidigen, heißt leere Phrasen dreschen.

Unsere Formulierung", sagt Genosse Martow, „bringt das Bestreben zum Ausdruck, dass zwischen der Organisation der Revolutionäre und der Masse eine Reihe von Organisationen stehen."

Das ist eben nicht der Fall. Eben gerade dieses wirklich obligatorische Bestreben bringt Martows Formel nicht zum Ausdruck, denn sie gibt nicht den Antrieb, sich zu organisieren, sie enthält nicht die Forderung der Organisierung, sie trennt nicht den Organisierten von dem Unorganisierten. Sie gibt nur einen NamenD, und aus diesem Anlass muss man unwillkürlich an die Worte des Genossen Axelrod denken:

Durch keine Dekrete kann man ihnen und Einzelnen verbieten (den Zirkeln der revolutionären Jugend usw.), sich Sozialdemokraten zu nennen (richtig!) oder sich sogar selbst als einen Teil der Partei zu betrachten … "

Das ist nun schon unbedingt falsch! Man kann niemanden verbieten, sich Sozialdemokrat zu nennen, und es wäre auch unnötig, denn dieses Wort bringt unmittelbar nur ein System von Überzeugungen zum Ausdruck und nicht bestimmte organisatorische Beziehungen. Man kann und muss aber einzelnen Zirkeln und Leuten verbieten, „sich als einen Teil der Partei zu betrachten", wenn diese Zirkel und Leute der Sache der Partei schaden, sie demoralisieren und desorganisieren. Es wäre lächerlich, von der Partei als von einem Ganzen, von einer politischen Größe zu reden, wenn sie einem Zirkel nicht „durch Dekret verbieten könnte", „sich als einen Teil" des Ganzen zu „betrachten"! Wozu wäre es denn sonst notwendig, Bestimmungen für die Art und Weise und die Bedingungen des Ausschlusses aus der Partei zu treffen? Genosse Axelrod hat den Grundfehler des Genossen Martow in anschaulicher Weise ad absurdum geführt; er hat diesen Fehler sogar zu einer opportunistischen Theorie erhoben, als er hinzufügte:

«In der Formulierung Lenins steht der § 1 in einem direkten prinzipiellen Widerspruch zu dem Wesen (!!) selber, zu den Aufgaben der sozialdemokratischen Partei des Proletariats" (S. 243).

Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als folgendes: stellt man an die Partei höhere Anforderungen als an die Klasse, so steht das in einem prinzipiellen Widerspruch zum Wesen selbst der Aufgaben des Proletariats. Kein Wunder, dass Akimow sich mit allen Kräften für eine solche Theorie eingesetzt hat.

Die Gerechtigkeit fordert die Feststellung, dass Genosse Axelrod, der jetzt diese irrige, offenkundig zum Opportunismus neigende Formulierung zu einem Keim neuer Anschauungen machen möchte, auf dem Parteitag im Gegenteil seine Bereitschaft bekundete, zu „kuhhandeln", als er sagte: „Aber ich merke, dass ich offene Türen einrenne" … (ich merke das auch in der neuen „Iskra").. … denn Genosse Lenin kommt mit seinen Peripherie-Zirkeln, die als Teil der Parteiorganisation zu betrachten sind, meiner Forderung entgegen" … (und nicht allein mit den Peripherie-Zirkeln, sondern auch mit allen möglichen Arbeiterverbänden: vgl. S. 242 der Protokolle, aus der Rede des Genossen Strachow und die oben angeführten Stellen aus „Was tun? und15 aus dem „Brief an einen Genossen") … „Es bleiben noch die Einzelpersonen, aber auch hier könnte man etwas abhandeln." Ich erwiderte dem Genossen Axelrod, dass ich im Allgemeinen nicht abgeneigt sei, etwas zu handeln, und muss jetzt erläutern, in welchem Sinne das gesagt war. Gerade in Hinsicht auf die Einzelpersonen, auf alle diese Professoren, Gymnasiasten usw. wäre ich am wenigsten zu Zugeständnissen bereit gewesen; wenn aber über Arbeiterorganisationen ein Zweifel entstanden wäre, so würde ich mich bereit erklärt haben (trotzdem ich oben nachgewiesen habe, dass solche Zweifel unbegründet sind), zu meinem § 1 eine Anmerkung etwa folgender Art hinzuzufügen: „Arbeiterorganisationen, die das Programm und das Statut der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands annehmen, müssen in möglichst großer Zahl in die Parteiorganisation aufgenommen werden". Gewiss, streng gesprochen gehört ein solcher Wunsch nicht in das Statut, das sich auf rechtliche Bestimmungen zu beschränken hat, sondern er gehört in erläuternde Kommentare, in Broschüren (und ich habe bereits gesagt, dass ich in meinen Broschüren lange vor dem Statut solche Erläuterungen gebracht habe), aber eine solche Anmerkung würde wenigstens nicht die Spur falscher Gedanken enthalten, die zur Desorganisierung führen könnten, nicht die Spur von opportunistischen BetrachtungenE und „anarchistischen Konzeptiоnen", wie sie zweifellos in der Formulierung des Genossen Martow enthalten sind.

Der letzte von mir in Anführungsstrichen angeführte Ausdruck stammt vom Genossen Pawlowitsch, der es mit vollem Recht als „Anarchismus" bezeichnete, dass man die Mitglieder als „unverantwortliche und sich selbst in die Partei eintragende" bezeichnet. „In der Übertragung in eine einfache Sprache", erklärte Genosse Pawlowitsch dem Genossen Liber meine Formulierung, „bedeutet sie folgendes: Willst du Parteimitglied sein, so darfst du auch die organisatorischen Beziehungen nicht nur platonisch anerkennen". So einfach diese „Übertragung" auch ist, so erwies sie sich jedoch als nicht überflüssig (wie die Ereignisse nach dem Parteitag gezeigt haben), und zwar nicht nur für verschiedene zweifelhafte Professoren und Gymnasiasten, sondern auch für die ganz echten Parteimitglieder, für die Parteispitzen …16 Ebenso richtig hat Genosse Pawlowitsch auf den Widerspruch zwischen der Formel des Genossen Martow und jenem unbestrittenen Grundsatz des wissenschaftlichen Sozialismus hingewiesen, den derselbe Genosse Martow so ungeschickt angeführt hat. „Unsere Partei ist die bewusste Trägerin des unbewussten Prozesses." So ist es. Und eben darum ist es falsch, danach zu streben, dass „jeder Streikende" sich Parteimitglied nenne, dann wäre „jeder Streik" nicht nur der elementare Ausdruck des machtvollen Klasseninstinkts und des Klassenkampfes, der unvermeidlich zur sozialen Revolution führt, sondern ein bewusster Ausdruck dieses Prozesses, dann … dann wäre der Generalstreik nicht eine anarchistische Phrase, dann würde unsere Partei sofort und mit einem Schlage die gesamte Arbeiterklasse erfassen und folglich auch sofort der gesamten bürgerlichen Gesellschaft ein Ende machen … Um in Wirklichkeit die bewusste Trägerin zu sein, muss die Partei es verstehen, solche organisatorische Verhältnisse zu schaffen, die ein gewisses Niveau des Bewusstseins sichern und dieses Niveau systematisch heben.

Geht man schon den Weg Martows", sagte Genosse Pawlowitsch, „so muss man vor allem den Punkt über die Anerkennung des Programms streichen, denn um das Programm anzunehmen, muss man es sich zu eigen machen und begreifen … Die Anerkennung des Programms setzt ein ziemlich hohes Niveau des politischen Bewusstseins voraus."

Wir werden es nie zulassen, dass die Unterstützung der Sozialdemokratie, dass die Beteiligung an dem von ihr geleiteten Kampf durch irgendwelche Forderungen (Aneignung, Verständnis usw.) künstlich beschränkt wird, denn diese Beteiligung selbst hebt allein dadurch, dass sie in Erscheinung tritt, sowohl das Klassenbewusstsein als auch die organisatorischen Instinkte; haben wir uns aber zu planmäßiger Arbeit in einer Partei vereinigt, so müssen wir dafür sorgen, dass diese Planmäßigkeit gesichert ist.

Dass die Warnung des Genossen Pawlowitsch hinsichtlich des Programms sich nicht als überflüssig erwiesen hat, das zeigte sich sofort noch während derselben Sitzung. Die Genossen Akimow und Liber, die der Formulierung des Genossen Martow zum Siege verholfen habenF, haben sofort ihre wahre Natur offenbart, indem sie forderten (S. 294 und 295), dass man auch (um Mitglied der Partei zu sein) das Programm nur platonisch, nur seine „entscheidenden Grundsätze" anzuerkennen brauche. Der Antrag des Genossen Akimow ist vom Standpunkt des Genossen Martow durchaus logisch, unterstrich Genosse Pawlowitsch. Leider ist aus den Protokollen nicht zu ersehen, wie viel Stimmen dieser Antrag Akimows auf sich vereinigt hat, – aber wahrscheinlich nicht weniger als sieben (fünf Bundisten, Akimow und Bruker). Gerade die Tatsache, dass sieben Delegierte den Parteitag verlassen hatten, verwandelte die „kompakte Mehrheit" (der Anti-Iskristen, des „Zentrums" und der Martow-Leute), die sich bei der Erörterung des § 1 des Statuts zu bilden begann, in eine kompakte Minderheit! Gerade die Tatsache, dass sieben Delegierte den Parteitag verlassen hatten, führte dazu, dass der Antrag, die alte Redaktion zu bestätigen, durchfiel, was angeblich eine empörende Verletzung der „Kontinuität" in der Leitung der „Iskra" sein soll! Dieses originelle Siebener-Kollegium soll die einzige Rettung und das Unterpfand für die iskristische „Kontinuität" sein: diese Sieben waren die Bundisten, Akimow und Bruker, d. h. gerade die Delegierten, die gegen die Вegründung für die Anerkennung der „Iskra" als Zentralorgan gestimmt hatten, gerade die Delegierten, deren Opportunismus zu Dutzenden von Malen vom Parteitag bestätigt, und besonders auch von Martow und Plechanow bei der Erörterung der Frage der Milderung des § 1 hinsichtlich des Programms bestätigt wurde. Die „Kontinuität" der „Iskra", behütet von den Anti-Iskristen! – hier nähern wir uns dem „Beginn" der Tragikomödie nach dem Parteitag.17

Die Gruppierung der Stimmen in der Frage des ersten Paragraphen des Statuts hat eine Erscheinung genau derselben Art offenbart, wie in dem Konflikt wegen der Gleichberechtigung der Sprachen: der Abfall (ungefähr) eines Viertels der iskristischen Mehrheit gibt den Anti-Iskristen, denen das „Zentrum" folgt, die Möglichkeit, zu siegen.18 Natürlich gab es auch hier einzelne Stimmen, die die vollkommene Harmonie des Bildes störten, – in einer so großen Versammlung, wie unser Parteitag es war, mussten unvermeidlich ein paar „Wilde" vorhanden sein, die zufällig bald auf die eine, bald auf die andere Seite gerieten, insbesondere in einer solchen Frage, wie der des § 1, wo der wahre Charakter des Auseinandergehens sich erst herauszukristallisieren begann und viele noch keine Zeit gehabt hatten, sich mit der Frage auseinanderzusetzen (da eine vorhergehende Behandlung der Frage in der Literatur gefehlt hatte). Von den Iskristen der Mehrheit fielen fünf Stimmen ab (Russow und Karski mit je zwei Stimmen und Lenski mit einer Stimme); hingegen schlossen sich ihnen ein Anti-Iskrist (Bruker) und drei vom „Zentrum" (Medwedjew, Jegorow und Zarew) an; es ergab sich eine Summe von 23 Stimmen (24 – 5 + 4), um eine Stimme weniger als die endgültige Gruppierung bei den Wahlen. Martow haben die Anti-Iskristen die Mehrheit gegeben, von denen sieben für ihn und einer für mich eintraten (aus dem „Zentrum" traten ebenfalls sieben für Martow und drei für mich ein). Jene Koalition der Minderheit der Iskristen mit den Anti-Iskristen und dem „Zentrum", die am Ende des Parteitages und nach dem Parteitag eine kompakte Minderheit bildete, begann sich herauszuschälen. Der politische Fehler Martows und Axelrods, die zweifellos in der Formulierung des § 1 und insbesondere in der Verteidigung dieser Formulierung einen Schritt zum Opportunismus und zum anarchistischen Individualismus getan hatten, offenbarte sich sofort und besonders deutlich dank dem freien und offenen Kampfplatz des Parteitags, – er offenbarte sich darin, dass die am wenigsten festen und in ihren Grundsätzen am wenigsten standhaften Elemente mit einem Schlag alle ihre Kräfte einsetzten, um jenen Riss, jenen Spalt zu erweitern, der sich in den Auffassungen der revolutionären Sozialdemokratie öffnete. Die gemeinsame Parteitagsarbeit von Leuten, die auf dem Gebiete der Organisation offen verschiedene Ziele verfolgten (siehe die Rede Akimows), trieb sofort die prinzipiellen Gegner unseres Organisationsplanes und unseres Statutes zur Unterstützung des Fehlers der Genossen Martow und Axelrod. Die Iskristen, die auch in dieser Frage den Auffassungen der revolutionären Sozialdemokratie treu geblieben waren, erwiesen sich in der Minderheit. Das ist ein Umstand von gewaltiger Bedeutung, denn ohne sich über ihn vollkommen klar zu werden, kann man weder den Kampf um die Einzelheiten des Statuts noch den Kampf um die personelle Zusammensetzung des Zentralorgans und des Zentralkomitees verstehen.19

1 In der Ausgabe von 1908: „Wir führen in der Fußnote die verschiedenen Fassungen an". Die Red.

A § 1 in meinem Entwurf: „Als Mitglied der Partei gilt jeder, der ihr Programm anerkennt und die Partei sowohl mit materiellen Mitteln als auch durch die persönliche Mitarbeit in einer der Parteiorganisationen unterstützt".

§ 1 in der Fassung, die von Martow auf dem Parteitag vorgeschlagen und vom Parteitag angenommen wurde: „Als Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands gilt jeder, der ihr Programm anerkennt, die Partei mit materiellen Mitteln unterstützt und ihr unter der Leitung einer ihrer Organisationen einen regelmäßigen persönlichen Beistand leistet". (Fußnote des Verfassers zur Ausgabe von 1908. Die Red.)

2 Dieser Absatz von den Worten „Die verhältnismäßig kleine" und der Anfang des nächsten Absatzes bis zum Wort „Jetzt" sind in der Ausgabe von 1908 weggelassen. D. Red.

3 Die Worte „nach den dem Leser bekannten Ereignissen" sind in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.

4 Die Worte „geschichtlich gegebene … klänge" sind in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.

B Das Wort „Organisation" wird gewöhnlich in zweifachem Sinne gebraucht, in einem weiteren und in einem engeren. Im engen Sinne des Wortes bedeutet es die einzelne, wenn auch ganz lose Zelle der menschlichen Gemeinschaft. Im weiten Sinne bedeutet es die Summe solcher zu einem Ganzen zusammengefassten Zellen. Die Flotte, die Armee, der Staat z. B. sind zu gleicher Zeit eine Summe von Organisationen (im engen Sinne des Wortes) und eine Art gesellschaftlicher Organisation (im weiten Sinne des Wortes). Die Schulbehörde ist eine Organisation (im weiten Sinne des Wortes), die Schulbehörde besteht aus einer Reihe von Organisationen (im engen Sinne des Wortes). Genau so ist die Partei eine Organisation, muss sie eine Organisation sein (im weiten Sinne des Wortes); zugleich muss die Partei aus einer ganzen Reihe mannigfaltiger Organisationen (im engen Sinne des Wortes) bestehen. Deshalb hat Genosse Axelrod, der von der Trennung der Begriffe Partei und Organisation spricht, erstens diesen Unterschied im weiten und im engen Sinne des Wortes Organisation nicht in Betracht gezogen, und zweitens nicht bemerkt, dass er selbst die organisierten und die nichtorganisierten Elemente in einen Topf geworfen hat.

5 In der Ausgabe von 1908 sind die in Klammern stehenden Worte weggelassen. Die Red.

6 Durch die Tatsache selbst. Die Red.

7 „losen Organisationen" bei Lenin deutsch. Die Red. Die im Text angeführte Rede Lenins, die er in der 22. Sitzung des Kongresses (15. August n. St.) gehalten hat, ist in den Parteitagsprotokollen folgendermaßen wiedergegeben: „Lenin verteidigt mit wenigen Worten seine Formulierung und unterstreicht besonders, dass sie anfeuert: ,Organisiert euch!' Man darf nicht glauben, dass die Parteiorganisationen nur aus Berufsrevolutionären bestehen müssen. Wir brauchen die verschiedenartigsten Organisationen, Organisationen aller Arten und Schattierungen, angefangen von außerordentlich engen und konspirativen und bis zu sehr breiten, freien, losen Organisationen. Das notwendige Merkmal einer Parteiorganisation ist ihre Bestätigung durch das Zentralkomitee" (Protokolle des 2. Parteitags der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, herausgegeben vom Institut zur Erforschung der Parteigeschichte, 1924). In den Haupttext ist diese Rede nicht aufgenommen worden, weil sie nur aus wenigen Worten besteht.

8 Der Schluss dieses Absatzes, beginnend mit den Worten „Doch heutzutage", die beiden folgenden Absätze und der Anfang des dritten Absatzes bis zu den Worten „Ich habe darauf schon" sind in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.

9 Der Anfang des Absatzes bis zu den Worten „Nach dem Grad" ist in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.

C Genosse Martynow will sich übrigens von Genossen Akimow abgrenzen, will beweisen, dass verschwörerisch nicht konspirativ heißt, dass hinter dem Unterschied dieser Worte ein Unterschied der Begriffe steckt. Was das für ein Unterschied ist, haben weder Genosse Martynow noch der jetzt in seine Fußstapfen tretende Genosse Axelrod erklärt. Genosse Martynow „tut so" als ob ich z. B. in „Was tun?" (ebenso wie in den „Aufgaben") mich nicht entschieden gegen „die Einengung des politischen Kampfes bis zur Verschwörung" ausgesprochen hätte, Genosse Martynow möchte die Hörer zwingen, zu vergessen, dass diejenigen, gegen die ich kämpfte, die Notwendigkeit einer Organisation von Revolutionären nicht einsahen, wie Genosse Akimow sie auch heute nicht einsehen will.

10 Die Resolution von Kostitsch (Sborowski), in der § 1 des Parteistatuts folgendermaßen formuliert war: „Jeder, der das Programm der Partei anerkennt, die Partei mit materiellen Mitteln unterstützt und ihr unter der Leitung einer der Parteiorganisationen regelmäßig Beistand leistet, wird von der Partei als ihr Mitglied anerkannt" (Protokoll des zweiten Parteitags der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands).

11 Lenin meint die Artikelserie Kautskys unter dem Titel „Die Intelligenz und die Sozialdemokratie" („Die Neue Zeit", 13. Jahrg., 1894/95, II. Bd., Nr. 27, S. 10–16; Nr. 28, S. 43–49; Nr. 29, S. 74–80.

12 Der letzte Satz ist in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.

13 Die in Klammern stehenden Worte sind in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.

14 Die in Klammern stehenden Worte sind in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.

D Auf dem Kongress der Liga hat Genosse Martow noch ein Argument zugunsten seiner Formulierung angeführt, über das man nur lachen kann. „Wir könnten darauf hinweisen," sagt er, „dass Lenins Formel, buchstäblich aufgefasst, die Vertrauensleute des Zentralkomitees aus der Partei ausschließt, denn diese Vertrauensleute bilden keine Organisation" (S. 59). Dieses Argument wurde auch auf dem Kongress der Liga mit Heiterkeit aufgenommen, wie es in den Protokollen heißt. Genosse Martow glaubt, dass die von ihm aufgezeigte „Schwierigkeit" nur dadurch zu lösen sei, dass die Vertrauensleute des Zentralkomitees der „Organisation des Zentralkomitees" angehören. Aber nicht darum handelt es sich. Es handelt sich darum, dass Genosse Martow durch sein Beispiel anschaulich gezeigt hat, dass er den Gedanken des § 1 nicht im Geringsten begriffen hat. Das ist ein Schulbeispiel wortklauberischer Kritik, die tatsächlich nur Hohn verdient. Formell würde es genügen, eine ,Organisation der Vertrauensleute des Zentralkomitees" zu bilden, einen Beschluss über ihre Aufnahme in die Partei zu fassen, und die „Schwierigkeit", die dem Genossen Martow soviel Kopfzerbrechen bereitet hat, wäre mit einem Schlage beseitigt. Jedoch der Gedanke des § 1 in meiner Formulierung besteht in dem Antrieb „organisiert euch!", in der Sicherung einer realen Kontrolle und Leitung. Vom Standpunkte des Wesens der Sache ist schon allein die Frage lächerlich, ob die Vertrauensleute des Zentralkomitees der Partei angehören werden oder nicht, denn die reale Kontrolle über sie ist schon allein dadurch unbedingt und vollständig gesichert, dass man sie zu Vertrauensleuten ernannt hat, dass man sie auf ihren Posten als Vertrauensleute belässt. Folglich kann hier von einer Verwechslung des Organisierten mit dem Nichtorganisierten (die Wurzel des Irrtums in der Formulierung des Genossen Martow) keine Rede sein. Die Untauglichkeit der Formel des Genossen Martow besteht darin, dass all und jeder sich für ein Parteimitglied erklären kann, – jeder Opportunist, jeder müßige Schwätzer, jeder „Professor" und jeder „Gymnasiast". Über diese Achilles-Ferse seiner Formulierung sucht Genosse Martow vergeblich hinwegzutäuschen, indem er Beispiele anführt, in denen nicht einmal die Rede davon sein kann, dass man sich eigenmächtig zum Parteimitglied macht, sich für ein Parteimitglied erklärt. (Diese Fußnote ist in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.)

15 Die Worte „aus ,Was tun?' und" sind in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.

E Zu solchen Betrachtungen, die bei den Versuchen, der Martowschen Formel eine Begründung zu geben, unvermeidlich auftauchen, gehört insbesondere der Satz des Genossen Trotzki (siehe S. 248 u. 346), dass „der Opportunismus durch kompliziertere (oder durch tiefere) Ursachen bestimmt wird als dieser oder jener Punkt des Statuts, – er wird hervorgerufen durch die relative Entwicklungsstufe der bürgerlichen Demokratie und des Proletariats" Es handelt sich nicht darum, dass Punkte des Statuts Opportunismus erzeugen können, sondern darum, mit Hilfe dieser Punkte eine mehr oder weniger scharfe Waffe gegen den Opportunismus zu schmieden. Je tiefer seine Ursachen sind, um so schärfer muss diese Waffe sein. Darum ist es ein Chwostismus reinsten Wassers, wenn man durch die „tiefen Ursachen" des Opportunismus eine Formulierung rechtfertigt, die ihm Tür und Tor öffnet. Als Genosse Trotzki gegen Genossen Liber war, verstand er, dass das Statut ein „organisiertes Misstrauen" des Ganzen gegen einen Teil, der Vorhut gegen die rückständigen Massen ist; als sich aber Genosse Trotzki im Lager des Genossen Liber erwies, vergaß er das und begann sogar die Schwäche und die mangelnde Festigkeit in unserer Organisierung dieses Misstrauens (des Misstrauens gegen den Opportunismus) durch „komplizierte Ursachen", durch „das Entwicklungsniveau des Proletariats" usw. zu erklären. Ein anderes Argument des Genossen Trotzki: „Für die intellektuelle Jugend, die so oder anders organisiert ist, ist es viel leichter, sich selbst in die Listen der Partei einzutragen" (gesperrt von mir). Ja, so ist es! Darum krankt jene Formulierung an intellektueller Verschwommenheit, auf Grund deren sogar unorganisierte Elemente sich als Parteimitglieder erklären können, nicht aber meine Formulierung, die das Recht ausschaltet, „sich selbst" in die Listen der Parteimitglieder „einzutragen". Genosse Trotzki meint, wenn das Zentralkomitee die Organisationen der Opportunisten „nicht anerkennt", so nur wegen des Charakters der Leute, sobald aber diese Leute als politische Persönlichkeiten bekannt sind, seien sie nicht gefährlich und man könne sie durch einen allgemeinen Parteiboykott entfernen. Das trifft nur in den Fällen zu, in denen es sich um eine Entfernung aus der Partei handelt (aber auch da nur zur Hälfte, denn eine organisierte Partei entfernt durch Abstimmung und nicht durch Boykott). Das ist vollkommen falsch hinsichtlich der viel häufigeren Fälle, wo es unsinnig ist, zu entfernen, wo man nur kontrollieren muss. Zum Zwecke der Kontrolle kann das Zentralkomitee absichtlich unter bestimmten Bedingungen eine nicht ganz zuverlässige, aber arbeitsfähige Organisation in die Partei aufnehmen, um sie zu prüfen, um zu versuchen, sie auf den richtigen Weg zu bringen, um durch seine Anleitung ihre teilweisen Abweichungen zu paralysieren usw. Eine solche Aufnahme in die Partei ist nicht gefährlich, wenn im allgemeinen nicht zugelassen wird, dass man „sich selbst" als Parteimitglied „einträgt". Eine solche Aufnahme wird oft von Nutzen sein für den offenen und verantwortlichen, der Kontrolle unterworfenen Ausdruck (und für die Erörterung) irriger Auffassungen und einer irrigen Taktik. „Wenn aber juristische Definitionen den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen sollen, so muss die Formel des Genossen Lenin abgelehnt werden", sagt Genosse Trotzki, und wiederum spricht er wie ein Opportunist. Die tatsächlichen Beziehungen sind nicht tot, sondern leben und entwickeln sich. Die juristischen Definitionen können der fortschrittlichen Entwicklung dieser Beziehungen entsprechen, können aber auch (wenn diese Definitionen schlecht sind) einem Rückschritt oder einem Stillstand „entsprechen". Dieser letztgenannte Fall ist eben der „Fall" des Genossen Martow.

16 Der Satz „So einfach diese für die Parteispitzen" ist in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.

F Für sie wurden 28 Stimmen, gegen sie 22 Stimmen abgegeben. Von den acht Anti-Iskristen waren sieben für Martow, einer für mich. Ohne die Unterstützung der Opportunisten hätte Martow seine opportunistische Formel nicht durchgesetzt. (Auf dem Kongress der Liga hat Genosse Martow sehr unglücklich versucht, diese zweifellos bestehende Tatsache zu widerlegen, indem er sich aus irgendeinem Grunde nur auf die Stimmen der Bundisten beschränkte und den Genossen Akimow und seine Freunde vergaß, – oder richtiger, sich ihrer erst dann erinnerte, als dies gegen mich sprechen konnte, so z. B. die Tatsache, dass Genosse Bruker mit mir einverstanden war.) (Der in Klammern stehende Satz ist in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.)

17 Der zweite Teil des Absatzes, der mit den Worten beginnt: „Leider ist aus den Protokollen nicht zu ersehen" ist in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.

18 In der Ausgabe von 1908 folgt eine Fußnote des Verfassers, die folgenden Wortlaut hat: „Die Paragraphen j, k, l, m sind in dieser Ausgabe weggelassen, da sie fast ausschließlich die Beschreibung kleiner Streitigkeiten über Einzelheiten des Statuts oder von Streitigkeiten über die persönliche Zusammensetzung der zentralen Parteikörperschaften enthalten. Weder das eine noch das andere ist für den heutigen Leser von Interesse und ist auch nicht von Wichtigkeit für die Klärung der Meinungsverschiedenheiten zwischen „Minderheit" und „Mehrheit". Wir führen nur das Ende des Paragraphen m an, das eine noch auf dem zweiten Parteitag berührte taktische Frage betrifft.

19 Der Teil des Absatzes, der mit den Worten beginnt: „Natürlich gab es auch hier" ist in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.

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