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Wladimir I. Lenin 19051000 Der Jenaer Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Wladimir I. Lenin: Der Jenaer Parteitag der Sozialdemokratischen Partei

Deutschlands1

[Geschrieben im Oktober 1905 Zum ersten Mal veröffentlicht 1924 in der Zeitschrift „Pod Snamenjem Marksisma" „Unter dem Banner des Marxismus"), Nr. 2. Nach Sämtliche Werke, Band 8, Wien-Berlin 1931, S. 314-319]

Die Parteitage der deutschen Sozialdemokraten haben schon längst eine Bedeutung gewonnen, die weit über die Grenzen der deutschen Arbeiterbewegung hinausgeht. Die deutsche Sozialdemokratie steht in Bezug auf Organisiertheit, Einheitlichkeit der Bewegung, Reichtum und Reichhaltigkeit der marxistischen Literatur an der Spitze aller sozialdemokratischen Parteien. Es ist nur natürlich, dass unter solchen Umständen auch die Beschlüsse der deutschen sozialdemokratischen Parteitage häufig eine geradezu internationale Bedeutung annehmen. So war es in der Frage der neuesten opportunistischen Richtungen im Sozialismus (Bernsteiniade). Der Beschluss des Dresdner sozialdemokratischen Parteitages, der die altbewährte Taktik der revolutionären Sozialdemokratie bestätigte, wurde vom Amsterdamer Internationalen Sozialistischen Kongress angenommen und ist jetzt zum allgemeinen Beschluss des gesamten klassenbewussten Proletariats der Welt geworden. So ist es auch jetzt. Die Frage des politischen Massenstreiks – die Hauptfrage der Jenaer Tagung – erregt die ganze internationale Sozialdemokratie. Die Ereignisse in mehreren Ländern, darunter wohl vor allem in Russland, haben diese Frage in der letzten Zeit in den Vordergrund gestellt. Und der Beschluss der deutschen Sozialdemokratie wird zweifellos auf die gesamte internationale Arbeiterbewegung einen beträchtlichen Einfluss im Sinne der Unterstützung und Festigung des revolutionären Geistes der kämpfenden Arbeiter ausüben.

Aber wir wollen zunächst auch die übrigen, vom Jenaer Parteitag geprüften und gelösten, aber weniger wichtigen Fragen kurz erwähnen. Er beschäftigte sich vor allem mit der Frage der Parteiorganisation. Wir wollen uns hier natürlich nicht mit Einzelheiten der Prüfung der deutschen Parteistatuten aufhalten. Wichtig ist, den äußerst charakteristischen Grundzug dieser Prüfung zu betonen: die Tendenz zu weiterer, vollständigerer und strengerer Durchführung des Zentralismus, zur Schaffung einer festeren Organisation. Diese Tendenz zeigte sich erstens darin, dass in die Statuten eine direkte Bestimmung aufgenommen wurde, nach welcher jeder Sozialdemokrat verpflichtet ist, einer Parteiorganisation anzugehören, es sei denn, dass besonders ernste Ursachen dies nicht zulassen. Zweitens zeigte sie sich darin, dass das System der Vertrauenspersonen durch das System der örtlichen sozialdemokratischen Organisationen ersetzt wurde, dass anstelle des Prinzips der individuellen Vollmacht, des Vertrauens zur Person, das Prinzip der kollektiven, organisatorischen Verbindung getreten ist. Drittens zeigte sie sich in dem Beschluss, nach welchem alle Parteiorganisationen verpflichtet sind, 25 Prozent ihrer Einnahmen der zentralen Parteikasse zuzuführen.

Im Großen und Ganzen sehen wir hier deutlich, dass das Wachstum der sozialdemokratischen Bewegung und ihre zunehmende Revolutionierung unbedingt und zwangsläufig zu einem konsequenten Zentralismus führen. In dieser Hinsicht ist die Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie für uns Russen außerordentlich lehrreich. Die organisatorischen Fragen haben bei uns vor kurzem in den aktuellen Fragen des Parteilebens einen unverhältnismäßig großen Raum eingenommen, und das ist auch heute noch zum Teil der Fall. Seit dem 3. Parteitag haben sich in der Partei zwei organisatorische Tendenzen deutlich herausgebildet. Erstens eine Tendenz zum konsequenten Zentralismus und zur konsequenten Erweiterung des Demokratismus innerhalb der Parteiorganisation, und zwar nicht der Demagogie, nicht des Effekts wegen, sondern um im Gefolge der in Russland zunehmenden Freiheit des Arbeitsfeldes für die Sozialdemokratie diesen Demokratismus wirklich durchzuführen. Die zweite Tendenz treibt zur organisatorischen Verschwommenheit, zur „organisatorischen Nebelhaftigkeit", deren Übel jetzt sogar Plechanow, der sie so lange verteidigte, begriffen hat (wir wollen hoffen, dass die Ereignisse ihn bald zwingen werden, auch den Zusammenhang dieser organisatorischen Nebelhaftigkeit mit der taktischen Nebelhaftigkeit einzusehen2).

Man denke an den Streit über den Paragraph 1 unserer Statuten. Die Konferenz der Neu-Iskristen, die früher die „Idee" ihrer fehlerhaften Formulierung heiß verteidigt hatten, hat jetzt sowohl den ganzen Paragraphen als auch die ganze Idee einfach über Bord geworfen. Der 3. Parteitag bestätigte das Prinzip des Zentralismus und der organisatorischen Verbindung. Die Neu-Iskristen haben sofort den Versuch gemacht, die Frage der Zugehörigkeit jedes Parteimitgliedes zur Organisation auf den Boden allgemeiner Prinzipien zu stellen. Jetzt sehen wir, dass die deutschen – sowohl die Opportunisten als auch die Revolutionäre – die prinzipielle Berechtigung einer solchen Forderung nicht einmal anzweifeln. Als sie diese Forderung (dass jedes Parteimitglied einer Parteiorganisation anzugehören hat) direkt in ihre Statuten hineinsetzten, motivierten sie die Notwendigkeit der Ausnahmen von dieser Regel keineswegs mit prinzipiellen Argumenten, sondern … mit der unzureichenden Freiheit in Deutschland. Vollmar, der in Jena über die organisatorische Frage referierte, rechtfertigte die Zulassung von Ausnahmen von der Regel damit, dass es solchen Leuten (kleinen Beamten) unmöglich sein werde, der Sozialdemokratischen Partei offen anzugehören. Es versteht sich von selbst, dass die Situation bei uns in Russland eine ganz andere ist; bei der herrschenden Unfreiheit sind alle Organisationen in gleicher Weise geheim. Bei revolutionärer Freiheit ist es besonders wichtig, die Parteien streng abzugrenzen und in dieser Hinsicht keinerlei „Verschwommenheiten" zuzulassen. Aber das Prinzip der wünschenswerten Festigung der organisatorischen Verbindungen bleibt unerschütterlich fest.

Das von den deutschen Sozialdemokraten jetzt aufgegebene System der Vertrauenspersonen hing dagegen ganz und gar mit dem Ausnahmegesetz gegen die Sozialisten zusammen. Je weiter dieses Gesetz in die Vergangenheit rückte, desto natürlicher und unvermeidlicher wurde der Übergang zum Aufbau der ganzen Partei auf dem System der unmittelbaren Verbindung zwischen den Organisationen anstelle der Verbindung durch Vertrauenspersonen.

Auch die andere Frage, die in Jena vor der Frage des politischen Streiks erörtert wurde, ist für Russland außerordentlich lehrreich. Es ist die Frage der Maifeier oder, genauer (wenn man das Wesen der Frage und nicht den Punkt, der den Anlass der Diskussion bildete, ins Auge fasst), die Frage des Verhältnisses der Gewerkschaftsbewegung zur sozialdemokratischen Partei. Wir haben im „Proletarij" schon oft davon gesprochen, welchen großen Eindruck die Kölner Tagung der Gewerkschaftsverbände auf die deutschen Sozialdemokraten, und nicht auf sie allein, gemacht hat. Auf dieser Tagung zeigte sich greifbar, dass sich sogar in Deutschland, wo die Traditionen und der Einfluss des Marxismus am stärksten sind, in den Gewerkschaftsverbänden – wohlgemerkt: in den sozialdemokratischen Gewerkschaftsverbänden – antisozialistische Tendenzen, Tendenzen nach „reinem Trade-Unionismus" im englischen Sinne, d.h. in unbedingt bürgerlichem Geiste, entwickeln. Und so ist auf dem Jenaer Parteitag aus der Frage der Maidemonstration im engeren Sinne des Wortes zwangsläufig die Frage des Trade-Unionismus und der Sozialdemokratie oder, um die Bezeichnung der Richtungen unter den russischen Sozialdemokraten anzuwenden, die Frage des „Ökonomismus" entstanden.

Fischer, der Referent in der Maifrage, sagte geradeheraus, dass es ein großer Fehler wäre, die Tatsache nicht zu beachten, dass „in den Gewerkschaften da und dort der sozialistische Geist etwas verlorengegangen ist". Es gehe so weit, dass z.B. Bringmann, der Vertreter des Zimmererverbandes, Sätze der folgenden Art aussprach und druckte:

Nach meinen Erfahrungen hat die Arbeitsruhe am 1. Mai in den Gewerkschaften gewirkt wie ein Fremdkörper im menschlichen Organismus." „Die Gewerkschaft ist unter den gegebenen Verhältnissen das einzige Mittel, um die Lage der Arbeiterklasse zu verbessern" usw.3

Zu diesen „Krankheitssymptomen", wie sich Fischer treffend ausdrückte, gesellt sich eine Reihe anderer. Der enge Professionalismus oder „Ökonomismus" ist sowohl in Deutschland als auch in Russland und überhaupt überall mit dem Opportunismus (Revisionismus) verknüpft. Die Zeitung desselben Zimmererverbandes schrieb von der Zerstörung der Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus, von der Unrichtigkeit der Krisentheorie, der Katastrophentheorie usw. Der Revisionist Calwer rief die Arbeiter nicht zur Unzufriedenheit, nicht zur Steigerung ihrer Bedürfnisse, sondern zur Bescheidenheit auf usw. usw. Liebknecht fand die allgemeine Zustimmung des Parteitages, als er sich gegen die Idee der „Neutralität" der Gewerkschaftsverbände aussprach und dazu bemerkte:

Bebel ist zwar auch für die Neutralität eingetreten, aber ich glaube, dass es einer der wenigen Punkte ist, wo Bebel nicht die Mehrheit der Partei hinter sich hatte."4

Bebel selbst bestritt, dass er den Gewerkschaftsverbänden Neutralität gegenüber der Sozialdemokratie angeraten habe. Die Gefahr des engen Professionalismus erkannte Bebel durchaus an. Bebel sagte weiter, dass ihm noch schlimmere Beispiele dieser zünftlerischen Verblödung bekannt seien: bei den jungen Führern der Gewerkschaftsverbände gehe das so weit, dass sie über die Partei überhaupt, über den Sozialismus überhaupt und über die Theorie des Klassenkampfes überhaupt höhnen. Diese Erklärung Bebels rief allgemeine Empörungsrufe des sozialdemokratischen Parteitages hervor. Lauter Beifall erklang, als er entschlossen erklärte:

Seid auf dem Posten, überlegt euch, was ihr tut, ihr wandelt einen sehr verhängnisvollen Weg, an dessen Ende ihr euren eigenen Niedergang herbeiführt, ohne es zu wollen!"5

Zur Ehre der deutschen Sozialdemokratie muss also gesagt werden, dass sie der Gefahr ins Auge gesehen hat. Sie hat die Extreme des Ökonomismus nicht vertuscht, sie hat keine üblen Ausflüchte und Winkelzüge ersonnen (wie sie bei uns z.B. von Plechanow nach dem 2. Parteitag so reichlich erfunden wurden). Nein, sie hat die Krankheit mit aller Schärfe festgestellt, die schädlichen Tendenzen entschlossen verurteilt und alle Parteimitglieder gerade und offen zu ihrer Bekämpfung aufgerufen. Ein lehrreiches Ereignis für die russischen Sozialdemokraten, von denen sich manche für ihre „Erleuchtung" in der Frage der Gewerkschaftsbewegung von Herrn Struve ein Lob geholt haben.

1 Der vorliegende Artikel Lenins wurde, wie aus einem Briefe hervorgeht, für das Organ des Kaukasischen Verbandes, die „Borjba Proletariata" („Der Kampf des Proletariats"), geschrieben; ob er an die Redaktion abgesandt wurde, ist unbekannt.

2 In Nr. 2 des „Dnjewnik Sozialdemokrata" (Tagebuch des Sozialdemokraten, August 1905) schrieb Plechanow in einem Artikel „Die feindlichen Brüder": „… die sogenannten Menschewiki ließen auf ihrer Konferenz ihrem uneingeschränkten Streben nach Dezentralisierung ganz und gar freien Lauf. Sie erinnern manchmal an die Froschkönigin im Märchen, die, als der Kronprinz Iwan um jeden Preis bis zum nächsten Morgen ein Festgewand genäht haben wollte, den kostbaren Stoff nahm, ihn in kleine Stücke zerschnitt und zum Fenster hinauswarf, wobei sie sagte: ,Morgen früh wird alles fertig sein.' Das Märchen versichert, dass am folgenden Morgen wirklich das fix und fertige Gewand ins Fenster geflogen kam. Ich weiß nicht, ob bei den ,Menschewiki' auch so ein Wunder vor sich geht; ich fürchte nein, denn heutzutage sind Wunder selten. Die Frösche aber quaken nur und verfügen über keine Zauberkräfte mehr. Unsere, dem Zentralismus feindselig gesinnten Kronprinzen können leicht ganz ohne Kleider dastehen. Die erste Hälfte des Werkes ist jedenfalls schon vollbracht: der Stoff ist in Stücke geschnitten und auf die Straße geworfen. Die Organisation der Menschewiki ist jetzt in einen ebenso dezentralisierten Zustand gekommen, wie er den unaufgeklärten Massen eigen ist."

3 Protokoll des Jenaer Parteitages, S. 234/235. D. Red.

4 Ebenda, S. 252, D. Red.

5 Ebenda, S. 308, D. Red.

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