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Wladimir I. Lenin 19050308 Neue Aufgaben und neue Kräfte

Wladimir I. Lenin: Neue Aufgaben und neue Kräfte1

[Wperjod" Nr. 9, 23. Februar/8. März 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 201-211]

Die Entwicklung der proletarischen Massenbewegung in Russland im Zusammenhang mit der Entwicklung der Sozialdemokratie ist durch drei bedeutsame Übergänge gekennzeichnet. Der erste Übergang führte von den engen Propagandazirkeln zur breiten ökonomischen Massenagitation; der zweite zur politischen Agitation in großem Maßstabe und zu offenen Straßendemonstrationen; der dritte zum regelrechten Bürgerkrieg, zum Aufstand. Jeder dieser Übergänge wurde vorbereitet einerseits durch das Wirken des sozialistischen Gedankens in vorwiegend einer Richtung, anderseits durch die tiefgehenden Veränderungen in den Lebensbedingungen und in der gesamten psychischen Einstellung der Arbeiterklasse, durch das Erwachen immer neuer Schichten derselben zu zielbewussterem und aktiverem Kampf. Diese Veränderungen gingen bisweilen geräuschlos vor sich, die Ansammlung der proletarischen Kräfte vollzog sich unbemerkt hinter der Szene, so dass sich bei den Intellektuellen nicht selten Zweifel an der Dauerhaftigkeit und Lebenskraft der Massenbewegung einstellte. Dann trat ein Umschwung ein und die ganze revolutionäre Bewegung hob sich wie mit einem Schlage auf eine neue, höhere Stufe empor. Vor dem Proletariat und seinem Vortrupp, der Sozialdemokratie, erhoben sich praktisch neue Aufgaben, zu deren Lösung neue Kräfte, wie aus dem Boden gestampft, erwuchsen, die noch am Vorabend des Umschwunges niemand vermutet hatte. Doch geschah dies alles nicht mit einem Mal, nicht ohne Schwankungen, nicht ohne Richtungskämpfe innerhalb der Sozialdemokratie, nicht ohne Rückfälle in veraltete, scheinbar längst überlebte und zu Grabe getragene Anschauungen.

Jetzt durchlebt unsere Partei wieder eine solche Periode der Schwankungen. Um unsere Taktik und unsere Organisation den neuen Aufgaben anpassen zu können, muss man den Widerstand der opportunistischen Theorien über „Demonstrationen von höherem Typus" (Plan der Semstwokampagne) oder über die „Organisation als Prozess" überwinden, muss man gegen die reaktionäre Furcht vor der „Festsetzung" des Aufstandes oder vor der revolutionären demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft ankämpfen.

Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, dass der Verlauf der Bewegung auch diesmal alle diese Überbleibsel veralteter und abgewirtschafteter Ansichten hinwegfegen wird. Dieses Hinwegfegen darf jedoch keineswegs in der bloßen Widerlegung der alten Fehler bestehen, sondern weit mehr in positiver, revolutionärer Arbeit an der praktischen Durchführung der neuen Aufgaben, an der Gewinnung und Ausnutzung der neuen Kräfte, die jetzt in solch gigantischer Masse in die revolutionäre Arena treten, für unsere Partei. Gerade diese Fragen der positiven revolutionären Arbeit müssen den Hauptgegenstand der Verhandlungen des bevorstehenden III. Parteitages bilden, gerade darauf müssen jetzt alle Mitglieder unserer Partei bei ihrer lokalen wie bei der allgemeinen Arbeit ihr ganzes Sinnen und Trachten konzentrieren. Welche neuen Aufgaben vor uns stehen, darüber haben wir in allgemeinen Zügen bereits mehr als einmal gesprochen: Ausdehnung der Agitation auf neue Schichten der städtischen und ländlichen Armut, Schaffung einer breiteren, beweglicheren und stärkeren Organisation, Vorbereitung des Aufstandes und Bewaffnung des Volkes und zu diesem Zwecke eine Verständigung mit der revolutionären Demokratie. Welche neuen Kräfte für die Durchführung dieser Aufgaben da sind, davon sprechen beredt die Nachrichten über allgemeine Arbeitseinstellungen in ganz Russland, über Streiks, über die revolutionäre Stimmung der Jugend, der demokratischen Intelligenz überhaupt und selbst vieler Kreise der Bourgeoisie. Das Vorhandensein dieser gewaltigen frischen Kräfte, besonders in der Arbeiterklasse und der Bauernschaft, ist eine hinreichende Gewähr dafür, dass die neuen Aufgaben gelöst werden können, und sie werden auch sicherlich gelöst werden. Die praktische Frage, vor der wir stehen, ist vor allem die, wie gerade diese neuen Kräfte ausnutzen, lenken, vereinigen und organisieren, wie gerade die sozialdemokratische Arbeit hauptsächlich auf die neuen höheren, durch die augenblickliche Lage in den Vordergrund gerückten Aufgaben konzentrieren, ohne dass dabei die alten und gewöhnlichen Aufgaben vergessen werden, die vor uns stehen und stehen werden, solange sich noch die Welt der kapitalistischen Ausbeutung hält.

Um einige Methoden zur Lösung dieser praktischen Frage anzudeuten, wollen wir mit einem Einzelbeispiel beginnen, das aber unseres Erachtens außerordentlich charakteristisch ist. Vor kurzem, unmittelbar vor dem Beginn der Revolution, schnitt das bürgerlich-liberale „Oswoboschdjenije" (Nummer 63) die Frage der Organisationsarbeit der Sozialdemokratie an2. Aufmerksam den Kampf zwischen den beiden Richtungen in der Sozialdemokratie verfolgend, verfehlte das „Oswoboschdjenije" nicht, wieder einmal die Wendung der neuen „Iskra" zum Ökonomismus auszuschlachten und (aus Anlass der demagogischen Broschüre des „Arbeiters") seine tiefe, prinzipielle Sympathie für den Ökonomismus zu unterstreichen. Das liberale Organ bemerkte ganz richtig, dass aus dieser Broschüre (siehe darüber Nummer 2 des „Wperjod") unvermeidlich die Verneinung oder Verkleinerung der Rolle der revolutionären Sozialdemokratie sich ergebe. Zu den vollkommen unrichtigen Behauptungen des „Arbeiters", dass nach dem Siege der orthodoxen Marxisten der ökonomische Kampf ignoriert worden sei, meint das „Oswoboschdjenije":

Die Illusion der heutigen russischen Sozialdemokratie besteht darin, dass sie Angst hat vor der Kulturarbeit, Angst hat vor den legalen Wegen, vor dem Ökonomismus, vor den sogenannten unpolitischen Formen der Arbeiterbewegung, ohne zu begreifen, dass nur die Kulturarbeit, die legalen und unpolitischen Formen eine genügend feste und genügend breite Basis für eine Bewegung der Arbeiterklasse schaffen können, die die Bezeichnung einer revolutionären Bewegung verdient."

Und das „Oswoboschdjenije" rät seinen Anhängern, „die Initiative zur Schaffung einer gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung zu ergreifen", nicht gegen die Sozialdemokratie, sondern gemeinsam mit dieser, wobei eine Parallele zu den Bedingungen der deutschen Arbeiterbewegung in der Zeit des Sozialistengesetzes gezogen wird.

Es ist hier nicht der Platz, auf diese Parallele, die vollkommen verfehlt ist, einzugehen. Vor allem muss die Wahrheit über das Verhältnis der Sozialdemokratie zu den legalen Formen der Arbeiterbewegung wiederhergestellt werden.

Die Legalisierung der nicht sozialistischen und unpolitischen Arbeiterverbände hat in Russland bereits begonnen," hieß es im Jahre 1902 in „Was tun?". – „Wir sind von nun ab gezwungen, dieser Richtung unsere Beachtung zu schenken."

Aber in welcher Weise soll das geschehen? – wird dort die Frage gestellt, und es wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, nicht bloß die Subatowschen Lehren, sondern auch alle liberalen Harmoniereden über das Thema der „Zusammenarbeit der Klassen" zu entlarven. (Das „Oswoboschdjenije", das die Sozialdemokraten zur Zusammenarbeit einlädt, erkennt die erste Aufgabe vollkommen an, verschweigt aber die zweite.)

All das tun“ – heißt es weiter – „heißt keineswegs vergessen, dass die Legalisierung der Arbeiterbewegung letzten Endes für uns und nicht für die Subatow von Nutzen sein wird."

Wir scheiden die Spreu vom Weizen, indem wir die Subatowiade und den Liberalismus in den legalen Vereinen entlarven.

Der Weizen, das ist das Interesse noch breiterer und ganz rückständiger Arbeiterschichten für soziale und politische Fragen, das ist die Befreiung der Revolutionäre von solchen Funktionen, die ihrem Wesen nach legal sind (Verbreitung von legalen Schriften, gegenseitige Hilfe usw.) und deren Entfaltung uns unvermeidlich immer mehr Agitationsmaterial liefern wird."

Daraus ist klar ersichtlich, dass, was die Frage der „Angst" vor den legalen Formen der Bewegung betrifft, gerade das „Oswoboschdjenije" gänzlich das Opfer einer Illusion" geworden ist. Die revolutionären Sozialdemokraten haben nicht nur keine Angst vor diesen Formen, sondern sie weisen direkt darauf hin, dass in ihnen neben Spreu auch Weizen enthalten ist. Mit seinen Betrachtungen verschleiert also das „Oswoboschdjenije" nur die wirkliche (und begründete) Angst der Liberalen vor der Entlarvung des Klassenwesens des Liberalismus durch die revolutionäre Sozialdemokratie.

Ganz besonders aber interessiert uns vom Gesichtspunkt der gegenwärtigen Aufgaben die Frage der Entlastung der Revolutionäre von einem Teil ihrer Funktionen. Gerade der gegenwärtige Moment des Beginns der Revolution verleiht dieser Frage eine besonders aktuelle und weittragende Bedeutung. „Je energischer wir den revolutionären Kampf führen werden, umso mehr wird die Regierung gezwungen sein, einen Teil der gewerkschaftlichen Arbeit zu legalisieren, wodurch sie uns einen Teil unserer Last abnehmen wird", hieß es in „Was tun?" Doch der energische revolutionäre Kampf befreit uns von einem „Teil unserer Last" nicht nur auf diesem Wege, sondern auch auf vielen anderen. Der gegenwärtige Moment hat nicht bloß vieles von dem „legalisiert", was früher verboten war. Er hat die Bewegung so sehr erweitert, dass auch ohne die Legalisierung durch die Regierung vieles zur Praxis, zur Gewohnheit und für die Masse erreichbar geworden ist, was früher nur für den Revolutionär als erreichbar galt und erreichbar war. Der ganze geschichtliche Verlauf der Entwicklung der sozialdemokratischen Bewegung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich, ungeachtet aller Hindernisse, einen immer größeren Spielraum erkämpft, den Gesetzen des Zarismus und den Maßnahmen der Polizei zum Trotz. Das revolutionäre Proletariat umgibt sich sozusagen mit einer gewissen, für die Regierung undurchdringlichen Atmosphäre von Sympathie und Unterstützung sowohl in der Arbeiterklasse als auch in den anderen Klassen (die natürlich nur einen kleinen Teil der Forderungen der Arbeiterdemokratie sich zu eigen machen). Im Anfang der Bewegung musste der Sozialdemokrat eine Unmenge Kulturarbeit leisten oder seine Kräfte fast ausschließlich auf die ökonomische Agitation verwenden. Und nun geht eine solche Funktion nach der andern immer mehr in die Hände neuer Kräfte, breiterer Schichten über, die sich der Bewegung anschließen. In den Händen der revolutionären Organisationen konzentrierte sich immer mehr die wirkliche politische Leitung, die Aufgabe, die sozialdemokratischen Schlussfolgerungen aus den Äußerungen des Arbeiterprotestes und des Volksunwillens zu ziehen. Zu Anfang mussten wir die Arbeiter lesen und schreiben lehren, im direkten wie im übertragenen Sinne des Wortes. Jetzt hat sich das Niveau der politischen Bildung so gigantisch gehoben, dass wir alle unsere Kräfte auf die unmittelbareren sozialdemokratischen Ziele der organisatorischen Leitung des revolutionären Stroms konzentrieren können und müssen. Jetzt leisten die Liberalen und die legale Presse eine Menge jener „vorbereitenden" Arbeit, die bisher unsere Kräfte zu sehr in Anspruch genommen hat. Jetzt hat sich die offene, von der geschwächten Regierung nicht verfolgte Propaganda der demokratischen Ideen und Forderungen so sehr ausgebreitet, dass wir uns dem ganz neuen Aufschwung der Bewegung anpassen müssen. Gewiss, bei dieser vorbereitenden Arbeit gibt es sowohl Spreu als auch Weizen; gewiss, die Sozialdemokraten werden jetzt der Bekämpfung des Einflusses der bürgerlichen Demokratie auf die Arbeiter immer mehr Aufmerksamkeit schenken müssen. Aber gerade diese Arbeit wird viel mehr wirklich sozialdemokratischen Inhalt aufweisen als unsere frühere Tätigkeit, die hauptsächlich auf die Wachrüttelung der politisch unaufgeklärten Massen gerichtet war.

Je mehr sich die Volksbewegung ausbreitet, um so mehr offenbart sich die wahre Natur der verschiedenen Klassen, um so dringlicher wird die Aufgabe der Partei, die Klasse zu führen, ihr Organisator zu sein, statt den Ereignissen nachzuhinken. Je mehr sich überall die revolutionäre Selbsttätigkeit aller Art entwickelt, um so augenscheinlicher wird die Hohlheit und Inhaltslosigkeit der Phrasen vom Schlage des „Rabotscheje Djelo" über Selbsttätigkeit schlechthin, die von den Anhängern der neuen „Iskra" so gern nachgeplappert werden, um so mehr tritt die Bedeutung der sozialdemokratischen Selbsttätigkeit hervor, um so höher sind die Anforderungen, die durch die Ereignisse an unsere revolutionäre Initiative gestellt werden. Je breiter die immer neuen Ströme der gesellschaftlichen Bewegung werden, um so wichtiger wird eine starke sozialdemokratische Organisation, die es versteht, für diese Ströme ein neues Flussbett zu schaffen. Je mehr die unabhängig von uns vor sich gehende demokratische Propaganda und Agitation uns in die Hände arbeitet, um so wichtiger ist die organisierte Führung der Sozialdemokratie für die Wahrung der Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von der bürgerlichen Demokratie.

Die revolutionäre Epoche ist für die Sozialdemokratie dasselbe, was die Kriegszeit für die Armee ist. Die Kader unserer Armee müssen erweitert, sie müssen von der Friedens- auf die Kriegsstärke gebracht werden, die Reserven und der Landsturm müssen mobilisiert, die Urlauber zu den Fahnen zurückberufen werden, neue Hilfskorps und Truppenabteilungen müssen aufgestellt und Etappendienststellen eingerichtet werden. Man darf nicht vergessen, dass es im Kriege unvermeidlich und notwendig ist, die Kontingente mit weniger gut ausgebildeten Rekruten aufzufüllen, die Offiziere auf Schritt und Tritt durch gewöhnliche Soldaten zu ersetzen, die Beförderung von Soldaten zu Offizieren zu beschleunigen und zu vereinfachen.

Ohne in Gleichnissen zu sprechen: man muss den Bestand aller möglichen Parteiorganisationen und der sich an die Partei anlehnenden Organisationen stark erweitern, um mit dem hundertfach stärker gewordenen Strom der revolutionären Energie des Volkes auch nur einigermaßen Schritt halten zu können. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass man die unablässige Vorbereitung und systematische Unterweisung in den Wahrheiten des Marxismus zurücktreten lassen soll. Gewiss nicht; man muss jedoch bedenken, dass jetzt bei der Vorbereitung und Unterweisung die Kampfhandlungen selbst eine viel größere Bedeutung haben, die die Unvorbereiteten eben in unserem, ganz in unserem Sinne belehren. Man muss daran denken, dass unser „doktrinäres" Festhalten am Marxismus jetzt dadurch bekräftigt wird, dass der Gang der revolutionären Ereignisse allüberall der Masse einen Anschauungsunterricht erteilt, und dass alle diese Lehren gerade unser Dogma bestätigen. Wir sprechen also nicht von einem Verzicht auf das Dogma, nicht von einem Nachlassen unseres misstrauischen und argwöhnischen Verhaltens gegenüber den verschwommenen Intellektuellen und den revolutionären Hohlköpfen; ganz im Gegenteil. Wir sprechen von den neuen Methoden der Unterweisung im Dogma, die zu vergessen für einen Sozialdemokraten unzulässig wäre. Wir sprechen davon, wie wichtig es jetzt ist, die anschaulichen Lehren der großen revolutionären Ereignisse auszunutzen, um nicht mehr den Zirkeln, sondern den Massen unseren alten „dogmatischen" Unterricht zu erteilen, zum Beispiel darüber, dass es notwendig ist, in der Praxis den Terror mit dem Aufstand der Masse zu verbinden, dass man verstehen muss, hinter dem Liberalismus der gebildeten russischen Gesellschaft die Klasseninteressen unserer Bourgeoisie zu sehen (vgl. unsere Polemik in dieser Frage mit den Sozialrevolutionären in Nummer 3 des „Wperjod").

Es handelt sich also nicht um die Abschwächung unserer sozialdemokratischen Ansprüche, unserer orthodoxen Unversöhnlichkeit, sondern um die Verstärkung der einen wie der anderen durch neue Wege und neue Unterrichtsmethoden. Während der Kriegszeit müssen die Rekruten unmittelbar in den Kriegsaktionen ausgebildet werden. Geht nur kühner an die neuen Ausbildungsmethoden heran, Genossen! Stellt kühner immer neue Bataillone auf, schickt sie in den Kampf, werbt mehr unter der Arbeiterjugend, erweitert die altgewohnten Rahmen aller Parteiorganisationen, von den Komitees bis zu den Betriebsgruppen, Werkstättenvereinen und Studentenzirkeln! Bedenkt, dass jede Verzögerung in dieser Sache den Feinden der Sozialdemokratie zunutze kommt, denn die neuen Ströme suchen einen sofortigen Ausweg und wenn sie kein sozialdemokratisches Flussbett finden, werden sie sich in ein nicht-sozialdemokratisches ergießen. Bedenkt, dass jeder praktische Schritt der revolutionären Bewegung die jungen Rekruten unvermeidlich und unabwendbar gerade die sozialdemokratische Wissenschaft lehren wird, denn diese Wissenschaft beruht auf der objektiv richtigen Berücksichtigung der Kräfte und Tendenzen der verschiedenen Klassen, die Revolution aber ist nichts anderes als das Zerstören des alten Überbaus und das selbständige Auftreten verschiedener Klassen, die auf ihre Art einen neuen Überbau zu errichten trachten. Erniedrigt nur nicht unsere revolutionäre Wissenschaft zu einem bloßen Buchstabendogma, trivialisiert sie nicht durch jämmerliche Phrasen über Taktik als Prozess, Organisation als Prozess, Phrasen, mit denen man die Zerfahrenheit, die Unentschlossenheit, den Mangel an Initiative rechtfertigt. Gebt den verschiedenartigsten Unternehmungen der verschiedensten Gruppen und Zirkel mehr Spielraum und bedenkt, dass die Richtigkeit ihres Weges abgesehen von unseren Ratschlägen und ohne diese Ratschläge durch die unerbittlichen Anforderungen der revolutionären Ereignisse selbst gewährleistet wird. Schon längst ist gesagt worden, dass man in der Politik oft vom Feinde lernen müsse. Und in revolutionären Momenten zwingt uns der Feind immer besonders eindringlich und rasch die richtigen Schlussfolgerungen auf.

Die Losung: organisiert euch! – die die Anhänger der Mehrheit auf dem II. Parteitag genau formuliert haben wollten, muss jetzt sofort verwirklicht werden. Wenn wir nicht verstehen, kühn, initiativ neue Organisationen zu schaffen, dann sollen wir die leeren Ansprüche auf die Rolle der Avantgarde aufgeben. Wenn wir hilflos bei den bereits erreichten Grenzen, Formen und Rahmen der Komitees, Gruppen, Versammlungen und Zirkel stehen bleiben, werden wir damit unsere Ungeschicklichkeit beweisen. Tausende von Zirkeln entstehen jetzt überall, ohne unser Zutun, ohne bestimmtes Programm und Ziel, einfach unter dem Einfluss der Ereignisse. Es ist notwendig, dass die Sozialdemokraten sich zur Aufgabe machen, unmittelbare Beziehungen zu einer möglichst großen Zahl solcher Zirkel herzustellen und zu befestigen, dass sie ihnen helfen, sie durch ihr Wissen und ihre Erfahrung aufklären, durch ihre revolutionäre Initiative beleben. Mögen alle solchen Zirkel, außer den bewusst nicht-sozialdemokratischen, entweder direkt in die Partei eintreten oder sich an die Partei anlehnen. Im letzteren Falle darf man weder die Annahme unseres Programms noch bindende organisatorische Beziehungen zu uns verlangen; es genügt das bloße revolutionäre Gefühl, der bloße Wunsch, den Kampf gegen den Absolutismus zu unterstützen, damit aus solchen sich anlehnenden Zirkeln bei energischer Beeinflussung durch die Sozialdemokraten, unter dem Druck der Ereignisse, sich zunächst demokratische Helfer und später überzeugte Mitglieder der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei herausbilden.

Es gibt eine Masse Leute und es fehlt an Leuten – auf diese widerspruchsvolle Formel ließen sich seit jeher die Widersprüche des Organisationslebens und der organisatorischen Anforderungen der Sozialdemokratie bringen. Und dieser Widerspruch tritt jetzt mit besonderer Stärke hervor: man kann ebenso oft von allen Seiten leidenschaftliche Anforderungen neuer Kräfte und Klagen über den Mangel an Leuten in den Organisationen hören, und gleichzeitig besteht überall ein ungeheures Angebot von Diensten, ein Anwachsen der jungen Kräfte, besonders unter der Arbeiterklasse. Der Organisationspraktiker, der unter solchen Verhältnissen über Mangel an Leuten klagt, verfällt in dieselbe Illusion, in die auf dem Höhepunkt der Entwicklung der großen französischen Revolution Madame Roland verfallen ist, die im Jahre 1793 schrieb: es gibt keine Männer in Frankreich, nur Pygmäen sind zu sehen3. Wer so spricht, der sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht, der gibt zu, dass ihn die Ereignisse blind gemacht haben, dass nicht er, der Revolutionär, in seinem Bewusstsein und seiner Tätigkeit die Ereignisse beherrscht, sondern dass diese ihn beherrschen, ihn unterjocht haben. Ein solcher Organisator sollte lieber in den Ruhestand treten und den jungen Kräften Platz machen, bei denen nicht selten die Energie den Mangel an Erfahrung wettmachen kann.

Es gibt Leute, noch nie hatte das revolutionäre Russland eine solche Masse Leute wie jetzt. Niemals gab es für eine revolutionäre Klasse so ungewöhnlich günstige Bedingungen – in Bezug auf zeitweilige Verbündete, bewusste Freunde, unfreiwillige Helfer – wie für das russische Proletariat der Gegenwart. Leute gibt es in Menge, man muss bloß die Gedanken und Belehrungen der Chwostisten über Bord werfen, man muss nur der Initiative, den „Plänen" und „Unternehmungen" Spielraum lassen; dann werden wir uns auch als würdige Vertreter der großen revolutionären Klasse erweisen, dann wird das Proletariat Russlands die ganze große russische Revolution ebenso heldenhaft durchführen, wie es sie begonnen hat.

1 Dieser Artikel wurde von Lenin einige Mal umgearbeitet. Im „Lenin-Sammelbuch" Nr. 5 sind mehrere Varianten des Planes zu diesem Artikel veröffentlicht. Wir bringen diesen Artikel nach dem endgültigen Text, wie er im „Wperjod" abgedruckt wurde.

[Anmerkung 134 der „Ausgewählten Werke“, Band 3:] Der Artikel „Neue Aufgaben und neue Kräfte“ wurde in Nr. 9 des „Wperjod“ vom 25. Februar/8. März 1905 veröffentlicht. Die Überschrift des Artikels bringt die neue Stellung der Organisationsfragen durch Lenin in dieser Zeit zum Ausdruck, die auch mit den geänderten Methoden und Formen der Arbeit unter den Bedingungen der beginnenden Revolution von 1905 zusammenhängt.

2 Bezieht sich auf einen Artikel Struves: „Ein dringendes Gebot der Stunde" in Nr. 63 des „Oswoboschdjenije" vom 20. (7.) Januar 1905.

3 In den „Memoiren" der Madame Roland heißt es: „Frankreich war gleichsam erschöpft an Männern; es ist wirklich eine auffallende Tatsache, wie sehr es in dieser Revolution daran fehlte; nur Pygmäen waren zu sehen" (S. 335 der deutschen Übersetzung, erschienen 1844).

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