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Wladimir I. Lenin 19080805 Der streitbare Militarismus und die antimilitaristische Taktik der Sozialdemokratie

Wladimir I. Lenin: Der streitbare Militarismus und die

antimilitaristische Taktik der Sozialdemokratie

[Proletarij" Nr. 33, 5. August (23. Juli) 1908. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 389-399]

I

Die Diplomaten sind in großer Aufregung. Es hagelt „Noten", Berichte" und „Erklärungen"; die Minister tuscheln hinter den Schultern der gekrönten Mannequins, die mit Champagnergläsern in den Händen „den Frieden befestigen." Aber die „Untertanen" wissen sehr wohl: Wenn die Raben zusammenfliegen, so heißt das, dass es nach Aas stinkt. Und der konservative Lord Cromer erklärte dem englischen Unterhaus:

Wir leben in einer Zeit, in der die nationalen (?) Interessen aufs Spiel gesetzt sind, in der die Leidenschaften entbrennen und die Gefahr und Möglichkeit eines Zusammenstoßes ersteht, wie friedlich (!) die Absichten der Herrscher auch sein mögen."

Zündstoff hat sich in letzter Zeit zur Genüge angesammelt und sammelt sich immer noch an. Die Revolution in Persien droht alle Scheidewände, die „Einflusssphären", die die europäischen Mächte dort errichtet haben, durcheinanderzubringen. Die Verfassungsbewegung in der Türkei droht dieses Stammgut den Pranken der europäischen kapitalistischen Räuber zu entreißen; und weiter haben sich alte, nunmehr akut gewordene „Fragen" – die mazedonische, die zentralasiatische, die fernöstliche usw. usw. – drohend erhoben.

Indessen genügt bei dem Netz der gegenwärtigen offenen und geheimen Verträge, Übereinkommen usw. ein kleiner Nasenstüber für irgendeine „Macht", um „aus dem Funken die Flamme schlagen zu lassen".

Und je drohender die Regierungen gegeneinander mit dem Säbel rasseln, desto rücksichtsloser unterdrücken sie die antimilitaristische Bewegung im eigenen Lande. Die Verfolgungen der Antimilitaristen nehmen extensiv wie intensiv immer mehr zu. Die „radikal-sozialistische" Regierung Clemenceau-Briand ist nicht weniger gewalttätig als die junkerlich-konservative Regierung Bülow. Die Auflösung der „Jugendorganisationen" in ganz Deutschland, die nach der Einführung des neuen Vereins- und Versammlungsgesetzes erfolgte, das Personen unter 20 Jahren die Teilnahme an politischen Versammlungen verbietet, hat die antimilitaristische Agitation in Deutschland äußerst erschwert.

Infolgedessen ist der Streit um die antimilitaristische Taktik der Sozialisten, der seit der Zeit des Stuttgarter Kongresses verstummt war, in der Parteipresse wieder aufgelebt.

Auf den ersten Blick eine seltsame Erscheinung: trotz der so augenscheinlichen Wichtigkeit dieser Frage, trotz der so offenbaren, in die Augen springenden Schädlichkeit des Militarismus für das Proletariat hält es schwer, eine andere Frage zu finden, in der solche Schwankungen, solche Meinungsverschiedenheiten unter den westeuropäischen Sozialisten herrschen, wie in der Diskussion über die antimilitaristische Taktik.

Die prinzipiellen Voraussetzungen für die richtige Entscheidung dieser Frage stehen seit langem durchaus fest und rufen keine Meinungsverschiedenheiten hervor. Der moderne Militarismus ist das Resultat des Kapitalismus. In seinen beiden Formen ist er eine „Lebenserscheinung" des Kapitalismus: als Kriegsmacht, die von den kapitalistischen Staaten bei ihren äußeren Zusammenstößen verwandt wird („Militarismus nach außen"1, wie sich die Deutschen ausdrücken), und als Waffe, die in den Händen der herrschenden Klassen zur Niederhaltung aller wirtschaftlichen und politischen Bewegungen des Proletariats dient („Militarismus nach innen"2). Eine Reihe internationaler Kongresse (der Pariser 1889, der Brüsseler 1891, der Züricher 1893 und endlich der Stuttgarter 1907) haben in ihren Resolutionen dieser Ansicht endgültigen Ausdruck gegeben. Am umfassendsten wird dieser Zusammenhang zwischen Militarismus und Kapitalismus in der Stuttgarter Resolution dargelegt, obwohl der Stuttgarter Kongress sich, der Tagesordnung entsprechend („Die internationalen Konflikte"), mehr mit jener Seite des Militarismus befasste, die die Deutschen „Militarismus nach außen" nennen. Die in Betracht kommende Stelle dieser Resolution lautet:

Kriege zwischen kapitalistischen Staaten sind in der Regel Folgen ihres Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkte, denn jeder Staat ist bestrebt, sein Absatzgebiet sich nicht nur zu sichern, sondern auch neue zu erobern, wobei die Unterjochung fremder Völker und Länder eine Hauptrolle spielt. Diese Kriege ergeben sich weiter aus den unaufhörlichen Wettrüstungen des Militarismus, der ein Hauptwerkzeug der bürgerlichen Klassenherrschaft und der wirtschaftlichen und politischen Unterjochung der Arbeiterklasse ist.

Begünstigt werden die Kriege durch die bei den Kulturvölkern im Interesse der herrschenden Klassen systematisch genährten Vorurteile des einen Volkes gegen das andere, um dadurch die Massen des Proletariats von ihren eigenen Klassenaufgaben sowie von den Pflichten der internationalen Klassensolidarität abzuwenden.

Kriege liegen also im Wesen des Kapitalismus; sie werden erst aufhören, wenn die kapitalistische Wirtschaftsordnung beseitigt ist oder wenn die Größe der durch die militärtechnische Entwicklung erforderlichen Opfer an Menschen und Geld und die durch die Rüstungen hervorgerufene Empörung die Völker zur Beseitigung dieses Systems treibt.

Daher ist die Arbeiterklasse, die vorzugsweise die Soldaten zu stellen und hauptsächlich die materiellen Opfer zu bringen hat, eine natürliche Gegnerin des Krieges, der im Widerspruch zu ihrem Ziele steht: Schaffung einer auf sozialistischer Grundlage beruhenden Wirtschaftsordnung, die die Solidarität der Völker verwirklicht."

II

Der prinzipielle Zusammenhang zwischen Militarismus und Kapitalismus steht also bei den Sozialisten durchaus fest, und es gibt in dieser Frage keine Meinungsverschiedenheiten. Aber die Anerkennung dieses Zusammenhanges bestimmt noch nicht konkret die antimilitaristische Taktik der Sozialisten, entscheidet nicht die praktische Frage, wie gegen die Last des Militarismus zu kämpfen ist und wie Kriege verhindert werden sollen. Und gerade in den Antworten auf diese Fragen ist unter den Sozialisten ein bedeutsames Auseinandergehen in den Ansichten zu bemerken. Auf dem Stuttgarter Kongress konnte man diese Meinungsverschiedenheiten mit besonderer Deutlichkeit konstatieren.

Auf dem einen Pol stehen die deutschen Sozialdemokraten vom Schlage Vollmars. Ist einmal – so argumentieren sie – der Militarismus eine Ausgeburt des Kapitalismus, sind einmal die Kriege eine unvermeidliche Begleiterscheinung der kapitalistischen Entwicklung, so ist keinerlei spezielle antimilitaristische Tätigkeit nötig. So sagte es Vollmar auf dem Parteitag in Essen. In der Frage, wie sich die Sozialdemokraten im Falle einer Kriegserklärung verhalten sollen, steht die Mehrheit der deutschen Sozialdemokraten, mit Bebel und Vollmar an der Spitze, hartnäckig auf dem Standpunkt, dass die Sozialdemokraten ihr Vaterland gegen einen Überfall verteidigen müssen, dass sie verpflichtet sind, an einem „Verteidigungskrieg" teilzunehmen. Diese Stellungnahme brachte Vollmar in Stuttgart zu der Erklärung;: „Aber die Liebe zur Menschheit kann mich in keinem Augenblick hindern, ein guter Deutscher zu sein" – und den sozialdemokratischen Abgeordneten Noske dazu, im Reichstag zu verkünden, dass im Falle eines Krieges gegen Deutschland „die Sozialdemokraten hinter den bürgerlichen Parteien nicht zurückbleiben und die Flinte auf den Buckel nehmen werden"; von diesem Standpunkte aus brauchte Noske nur noch einen Schritt zu tun, um zu erklären: „Wir wünschen, dass Deutschland so gerüstet sei wie nur möglich".

Auf dem anderen Pol steht die wenig zahlreiche Gruppe der Anhänger Hervés. Das Proletariat hat kein Vaterland – meinen die Hervéisten. Das heißt, dass aller und jeder Krieg ein Krieg im Interesse der Kapitalisten ist; also muss das Proletariat gegen jeden Krieg kämpfen. Auf jede Kriegserklärung muss das Proletariat mit Dienstverweigerung und dem Aufstand antworten. Darauf soll denn auch in erster Linie die antimilitaristische Propaganda hinauslaufen. In Stuttgart legte Hervé daher den folgenden Resolutionsentwurf vor:

„ … fordert er (der Kongress. Die Red.) alle Genossen auf, jede Kriegserklärung, von welcher Seite sie auch kommen mag, mit dem Militärstreik und mit dem Aufstand zu beantworten."

Dergestalt sind die „extremen" Stellungnahmen zu dieser Frage in den Reihen der westeuropäischen Sozialisten. Wie die Sonne in einem kleinen Wassertropfen, so spiegeln sich in ihnen die beiden Krankheiten wider, die immer noch die Tätigkeit des sozialistischen Proletariats in Westeuropa schädlich beeinflussen: die opportunistischen Tendenzen auf der einen Seite, die anarchistische Phrasendrescherei auf der anderen.

Zunächst einmal einige Bemerkungen über den Patriotismus. „Das Proletariat hat kein Vaterland", heißt es tatsächlich im „Kommunistischen Manifest"; dass die Haltung von Vollmar, Noske und Co. dieser Grundthese des internationalen Sozialismus „ins Gesicht schlägt", ist gleichfalls richtig. Aber daraus folgt noch nicht die Richtigkeit der Behauptung Hervés und der Hervéisten, dass es dem Proletariat gleichgültig sei, in was für einem Vaterlande es lebt: ob es in dem monarchistischen Deutschland oder dem republikanischen Frankreich oder in der despotischen Türkei lebt. Das Vaterland, d. h. das gegebene politische, kulturelle und soziale Milieu, ist der mächtigste Faktor im Klassenkampf des Proletariats; und ist Vollmar auch im Unrecht, wenn er ein „echt-deutsches“ Verhältnis des Proletariats zum „Vaterland“ feststellt, so hat auch Hervé nicht minder Unrecht, dessen Stellung zu einem so wichtigen Faktor des Befreiungskampfes des Proletariats eine unverzeihlich unkritische ist. Die politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen seines Kampfes können dem Proletariat nicht gleichgültig sein, folglich können ihm die Geschicke seines Landes nicht gleichgültig sein. Jedoch interessieren es diese Geschicke nur insofern, als sie seinen Klassenkampf betreffen, nicht aber kraft eines bürgerlichen, im Munde von Sozialdemokraten ganz unangebrachten „Patriotismus“.

Komplizierter gestaltet sich die andere Frage – das Verhalten gegenüber Militarismus und Krieg. Schon auf den ersten Blick ist es klar, dass Hervé in unverzeihlicher Weise diese beiden Fragen durcheinander wirft, den kausalen Zusammenhang zwischen Krieg und Kapitalismus vergisst. Durch Annahme der Hervéschen Taktik würde sich das Proletariat zu fruchtloser Arbeit verdammen: es würde seine ganze Kampfbereitschaft (es ist ja vom Aufstand die Rede) auf den Kampf gegen eine Folgeerscheinung (den Krieg) richten, die Ursache aber (den Kapitalismus) bestehen lassen.

Die anarchistische Denkmethode tritt hier in vollem Maße zutage. Blinder Glaube an die wunderwirkende Kraft jeder action directe.3 Heraushebung dieser „unmittelbaren Einwirkung“ aus der allgemeinen sozialen und politischen Konjunktur ohne die geringste Analyse derselben, kurz, eine „willkürlich-mechanische Auffassung“ sozialer Erscheinungen (wie K. Liebknecht sagt)4 liegt hier klar zutage.

Der Plan Hervés ist „sehr einfach“: am Tag der Kriegserklärung desertieren alle sozialistischen Soldaten, die Reservisten aber streiken und bleiben zuhause. Doch

ist der Reservistenstreik kein passiver Widerstand: bald würde die Arbeiterklasse zum offenen Widerstand übergehen, zum Aufstand, dessen Aussichten auf Erfolg um so größer sind, als die aktive Armee an den Landesgrenzen steht" (G. Hervé, „Leur patrie"5).

Das ist dieser „wirksame, praktische und direkte Plan", und Hervé schlägt, von seinem Erfolge überzeugt, vor, jede Kriegserklärung mit Streik und Aufstand zu beantworten.

Wie daraus klar hervorgeht, ist die Frage hier gar nicht, ob das Proletariat, wenn es das für zweckmäßig hält, eine Kriegserklärung mit Streik und Aufstand beantworten kann. Die Streitfrage ist, ob man das Proletariat verpflichten soll, jeden Krieg mit dem Aufstand zu beantworten. Eine Bejahung dieser Frage bedeutet, dem Proletariat die Möglichkeit zu entziehen, den Zeitpunkt des Entscheidungskampfes zu wählen, und sie seinem Gegner zu geben; nicht das Proletariat wählt, in Übereinstimmung mit seinen eigenen Interessen, den Zeitpunkt der Schlacht – wenn sein allgemeines sozialistisches Bewusstsein einen hohen Grad erreicht hat, seine Organisiertheit groß, der Anlass günstig ist usw. – nein, die bürgerlichen Regierungen könnten es auch dann zum Aufstand provozieren, wenn die Verhältnisse, von seinem Standpunkt aus betrachtet, ungünstig liegen, z. B. durch Erklärung eines solchen Krieges, der besonders geeignet ist, in breiten Bevölkerungsschichten patriotische und chauvinistische Gefühle auszulösen, der also das aufständische Proletariat isolieren würde. Ferner ist Folgendes nicht außer Acht zu lassen: die Bourgeoisie, die, vom monarchistischen Deutschland bis zum republikanischen Frankreich und der demokratischen Schweiz, auch in Friedenszeiten die antimilitaristische Tätigkeit so erbittert verfolgt – mit welcher Wut würde sie über jeden Versuch zum Militärstreik im Kriegsfalle herfallen, wo Kriegsgesetze, Kriegszustand, Kriegsgerichte usw. herrschen.

Recht hat Kautsky, wenn er über den Gedanken Hervés sagt:

Die Idee des Militärstreiks ist also sicher gut gemeint, höchst edelmütig und heroisch, aber eine heroische Torheit."6

Wenn das Proletariat es für zweckmäßig und geeignet findet, so kann es die Kriegserklärung mit dem Militärstreik beantworten. Es kann, neben anderen Mitteln der sozialen Revolution, auch zum Militärstreik greifen. Aber es liegt nicht im Interesse des Proletariats, sich durch dieses „taktische Rezept" zu binden.

In diesem Sinne hat denn auch der Stuttgarter Kongress diese Streitfrage gelöst.

III

Ist jedoch die Auffassung der Hervéisten „heroische Torheit", so ist der Standpunkt Vollmars, Noskes und ihrer Anhänger vom „rechten Flügel" opportunistische Feigheit. Ist der Militarismus eine Ausgeburt des Kapitalismus und wird er zusammen mit diesem fallen – so sagten sie in Stuttgart und ganz besonders in Essen –, so bedarf es auch keiner besonderen antimilitaristischen Agitation: es darf sie nicht geben. Aber auch eine radikale Lösung der Arbeiter- und der Frauenfrage – entgegnete man ihnen in Stuttgart – ist ja unter dem Kapitalismus unmöglich, trotzdem aber kämpfen wir für Arbeiterschutz, für die Erweiterung der bürgerlichen Rechte der Frauen usw. Eine spezielle antimilitaristische Propaganda muss um so energischer betrieben werden, als die Fälle der Einmischung bewaffneter Kräfte in den Kampf zwischen Kapital und Arbeit immer häufiger werden und die Bedeutung des Militarismus nicht nur im heutigen Kampf des Proletariats, sondern auch im kommenden – im Augenblick der sozialen Revolution – immer klarer zutage tritt.

Für eine spezielle antimilitaristische Propaganda sprechen nicht nur prinzipielle Erwägungen, sondern auch bedeutsame geschichtliche Erfahrungen. In dieser Hinsicht geht Belgien anderen Ländern voran. Die Belgische Arbeiterpartei organisierte außer der allgemeinen Propaganda antimilitaristischer Ideen sozialistische Jugendgruppen unter dem Namen „Junge Garde" („Jeunes Gardes"). Die Gruppen eines Bezirks bilden einen Bezirksverband, alle Bezirksverbände den Landesverband mit einem „Zentralrat" an der Spitze. Die Organe der „Jungen Garde" („La jeunesse –- c'est l'avenir"7, „De Caserne"8, „De Loteling"9) haben eine Auflage von Zehntausenden Exemplaren. Der stärkste Verband ist der wallonische, der aus 62 Ortsgruppen mit 10.000 Mitgliedern besteht. Die ganze „Junge Garde" zählt heute 121 Ortsgruppen.

Neben schriftlicher Agitation wird auch eine intensive mündliche betrieben: im Januar und September (den Monaten der Rekruteneinziehung) werden in den größten Städten Belgiens Volksversammlungen und Umzüge veranstaltet; vor den Türen der Rathäuser, unter freiem Himmel, erläutern sozialistische Redner den Rekruten die Bedeutung des Militarismus. Dem „Zentralrat" der „Jungen Garde" ist ein „Beschwerdekomitee" angegliedert, das Informationen über alle Ungerechtigkeiten, die in den Kasernen vorkommen, zu sammeln hat. Diese Informationen werden in der Rubrik „Aus der Armee" täglich im Zentralorgan der Partei „Le Peuple") veröffentlicht. Die antimilitaristische Propaganda macht vor den Toren der Kasernen nicht halt – die sozialistischen Soldaten bilden Gruppen für Propaganda in der Armee. Gegenwärtig werden etwa 15 solcher Gruppen („Soldatenverbände") gezählt.

Nach belgischem Muster, mit verschiedener Intensität und Organisation, wird auch in Frankreich*, in der Schweiz, in Österreich und anderen Ländern antimilitaristische Propaganda betrieben.

Somit ist eine spezielle antimilitaristische Tätigkeit nicht nur prinzipiell notwendig, sondern auch praktisch zweckmäßig und fruchtbringend. Insofern daher Vollmar sich gegen sie aussprach, unter Hinweis auf die in dieser Hinsicht unmöglichen Polizeibedingungen in Deutschland, auf die Gefahr der Zertrümmerung der Partei unter solchen Umständen, lief die Frage auf die konkrete Analyse der Verhältnisse des in Frage stehenden Landes hinaus. Das aber ist eine Frage der Tatsachen, nicht des Prinzips. Doch auch hier trifft die Bemerkung von Jaurès zu, die deutsche Sozialdemokratie, die in ihrer Jugend die schwere Prüfung des Sozialistengesetzes, die eiserne Faust Bismarcks überstanden hat, brauchte jetzt, wo sie ungleich größer und stärker ist, die Verfolgungen durch die heutigen Machthaber nicht zu scheuen. Aber hundertmal im Unrecht ist Vollmar, wenn er sich bemüht, seine Behauptung mit Argumenten der prinzipiellen Unzweckmäßigkeit einer speziellen antimilitaristischen Propaganda zu stützen.

Nicht weniger opportunistisch ist die Auffassung Vollmars und seiner Anhänger, die Sozialdemokraten seien verpflichtet, sich an einem Verteidigungskrieg zu beteiligen. Die glänzende Kritik Kautskys hat diese Argumente zunichte gemacht. Kautsky verwies darauf, dass es zuweilen, besonders in Augenblicken patriotischen Taumels, unmöglich ist festzustellen, ob der in Frage stehende Krieg Angriffs- oder Verteidigungsziele verfolgt (von Kautsky angeführtes Beispiel: war Japan im russisch-japanischen Krieg der angreifende oder der angegriffene Teil?). Die Sozialdemokraten würden sich in die Netze diplomatischer Verhandlungen verstricken, wenn sie es sich einfallen ließen, ihre Stellung zum Kriege von diesem Merkmal abhängig zu machen. Sozialdemokraten können sogar in die Lage kommen, selbst einen Angriffskrieg zu fordern. Im Jahre 1848 (auch den Hervéisten kann es nicht schaden, sich dessen zu erinnern) hielten Marx und Engels einen Krieg Deutschlands gegen Russland für notwendig. Später suchten sie auf die öffentliche Meinung Englands zu dem Zwecke einzuwirken, dieses Land zu kriegerischem Vorgehen gegen Russland zu bewegen. Kautsky bringt u. a. das folgende hypothetische Beispiel:

Nehmen wir an – sagt er –, die Revolution siege in Russland und ihre Rückwirkung bringe auch in Frankreich ein proletarisches Regime ans Ruder, veranlasse dagegen eine Koalition der europäischen Monarchen gegen die russische Revolution. Würde da die internationale Sozialdemokratie dagegen protestieren, wenn die französische Republik der russischen zu Hilfe käme?" (K. Kautsky: „Patriotismus, Krieg und Sozialdemokratie".)

Es ist klar, dass in dieser Frage (wie auch in der Auffassung des „Patriotismus") nicht der Angriffs- oder der Verteidigungscharakter des Krieges, sondern die Interessen des Klassenkampfes des Proletariats, oder besser gesagt, die Interessen der internationalen Bewegung des Proletariats jenen einzig möglichen Standpunkt bilden, von dem aus die Frage der Stellung der Sozialdemokratie zu der einen oder anderen Erscheinung der internationalen Beziehungen betrachtet und entschieden werden kann.

Bis zu welchen Extremen der Opportunismus in diesen Fragen gehen kann, zeigt ein Auftreten von Jaurès aus jüngster Zeit. In einem bürgerlich-liberalen deutschen Blättchen, wo er sich über die internationalen Beziehungen äußert, verteidigt er das Bündnis von Frankreich und England mit Russland gegen die Beschuldigung friedensfeindlicher Absichten und betrachtet es als „Friedensgarantie"; er begrüßt die Tatsache, dass „wir das Bündnis von England und Russland, dieser langjährigen Feinden erlebt haben."

Eine glänzende Wertung dieser Auffassung gibt Rosa Luxemburg in ihrem „Offenen Brief" im letzten Heft der „Neuen Zeit"10, in dem sie Jaurès eine temperamentvolle Abfuhr bereitet.

Vor allem konstatiert R. Luxemburg, von einem Bündnis „Englands" und „Russlands" sprechen, heiße „die zünftige Sprache der bürgerlichen Politiker" führen, denn die Interessen der kapitalistischen Staaten und diejenigen des Proletariats in der Außenpolitik seien entgegengesetzt, und man könne daher nicht von Interessenharmonie auf dem Gebiet der auswärtigen Politik sprechen. Ist der Militarismus eine Ausgeburt des Kapitalismus, so können auch die Kriege nicht durch Intrigen der Regierenden und Diplomaten beseitigt werden, und Aufgabe des Sozialisten ist es, nicht Illusionen darüber zu erwecken, sondern, im Gegenteil, die Heuchelei und Ohnmacht der diplomatischen „friedlichen Schritte" stetig zu entlarven.

Doch den Zentralpunkt des Briefes bildet die Beurteilung des von Jaurès so gerühmten Bündnisses Englands und Frankreichs mit Russland. Die europäische Bourgeoisie hat dem Zarismus die Möglichkeit gegeben, den Ansturm der Revolution abzuwehren.

Nun sucht der Absolutismus den zeitweiligen Sieg über die Revolution zu einem definitiven zu machen, sich zu befestigen, und dazu versucht er vor allem das alte erprobte Mittel jeder erschütterten Despotie: die Erfolge der auswärtigen Politik."

Alle Bündnisse Russlands bedeuten jetzt „die Befestigung der Heiligen Allianz der Bourgeoisie Westeuropas mit der russischen Konterrevolution, mit den Würgern und Henkern der russischen und polnischen Freiheitskämpfer. Sie bedeuten die Festigung mit Unterstützung der blutigsten Reaktion nicht nur im Innern Russlands, sondern auch in den internationalen Beziehungen." „Es ist klar, dass angesichts dessen die elementarste Pflicht der Sozialisten und Proletarier aller Länder darin besteht, mit aller Macht den Bündnissen mit dem konterrevolutionären Russland entgegenzuarbeiten."

Wie soll man es sich erklären – wendet sich R. Luxemburg an Jaurès – dass Sie ,mit leidenschaftlichem Eifer' daran arbeiten, die Regierung des blutigen Henkers der russischen Revolution und des persischen Aufstandes zum einflussreichen Faktor der europäischen Politik, den russischen Galgen zum Pfeiler des internationalen Friedens zu machen, – Sie, der Sie seinerzeit die glänzendsten Reden gegen die Anleihe an Russland in der französischen Kammer gehalten, der Sie erst vor wenigen Wochen den erschütternden Appell an die öffentliche Meinung gegen die blutige Arbeit der Feldkriegsgerichte in Russisch-Polen in Ihrer ,Humanité' veröffentlicht haben? Wie soll man Ihre Friedenspläne, die auf dem franko-russischen und anglo-russischen Bündnis beruhen, mit dem jüngsten Protest der französischen sozialistischen Kammerfraktion wie der Administrativen Kommission des Nationalrats der Sozialistischen Partei gegen die Reise Fallières nach Russland in Einklang bringen, dem Protest, unter dem auch Ihre Unterschrift steht und der die Interessen der russischen Revolution mit ergreifenden Worten in Schutz nimmt? Kann der Präsident der französischen Republik sich nicht auf Ihre eigenen Darlegungen über die internationale Lage berufen, und wird die Konsequenz nicht auf seiner Seite sein, wenn er Ihrem Protest gegenüber erklärt: Wer den Zweck will, muss auch die Mittel wollen, wer das Bündnis mit dem zarischen Russland als eine Garantie des internationalen Friedens betrachtet, der muss auch alles akzeptieren, was dieses. Bündnis befestigt und die Freundschaft pflegt.

Was würden Sie dazu sagen, wenn sich ehemals in Deutschland, in Russland, in England Sozialisten und Revolutionäre gefunden hätten, die ,im Interesse des Friedens' eine Allianz mit der Regierung der Restauration oder mit der Regierung Cavaignacs oder mit der Regierung Thiers' und Jules Favres befürwortet und mit ihrer moralischen Autorität gedeckt haben würden?"

Dieser Brief spricht für sich, und die russischen Sozialdemokraten können diesen Protest der Genossin R. Luxemburg und: diese ihre Verteidigung der russischen Revolution vor dem Angesicht des internationalen Proletariats nur begrüßen.

1 Im Original deutsch. Die Red.

2 Im Original deutsch. Die Red.

3 Direkte Aktion. Die Red.

5 „Ihr Vaterland." Die Red.

6 Lenin zitiert den Aufsatz von K. KautskyPatriotismus, Krieg und Sozialdemokratie", „Neue Zeit", XXIII. B. 1–2, S. 370, russisch unter dem Titel „Unsere Auffassung des Patriotismus", St. Petersburg 1905.

7 „Die Jugend ist die Zukunft" Die Red.

8 „Die Kaserne" Die Red.

9 „Der Rekrut" Die Red.

* Eine interessante Eigentümlichkeit der Franzosen ist die Organisierung des sog. „Sou du Soldat": jeder Arbeiter gibt aus seinem Wochenlohn seinem Verbandssekretär einen Sou, und die so zusammenkommenden Gelder werden Soldaten übermittelt „zur Ermahnung daran, dass sie selbst im Soldatenrock zur ausgebeuteten Klasse gehören und das unter keinen Umständen vergessen dürfen."

10 Der Offene Brief von Rosa Luxemburg an Jaurès ist in der „Neuen Zeit" veröffentlicht worden, Jahrgang XXVI, 1907–8, Bd. 2, Nr. 43 vom 24. Juli: „Offener Brief an Jean Jaurès".

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