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Wladimir I. Lenin 19080701 Die Agrarfrage in Russland am Ende des 19. Jahrhunderts

Wladimir I. Lenin: Die Agrarfrage in Russland am Ende des

19. Jahrhunderts1

[Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 259-341]

Der Zweck des vorliegenden Aufsatzes ist, einen kurzen Abriss der Gesamtheit der sozialen und ökonomischen Verhältnisse in der russischen Landwirtschaft zu geben. Eine derartige Arbeit kann nicht den Charakter einer Spezialuntersuchung tragen. Sie muss das Fazit der marxistischen Forschung ziehen, muss jedem einigermaßen bedeutenden Merkmal unserer Landwirtschaft seinen Platz im Gesamtsystem der russischen Volkswirtschaft zuweisen, muss die allgemeine Entwicklungslinie der Agrarverhältnisse in Russland umreißen und jene Klassenkräfte aufdecken, die diese Entwicklung so oder anders bestimmen. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachten wir also zuerst die Bodenbesitzverhältnisse in Russland, dann die Gutsherren- und die Bauernwirtschaft, und zum Schluss werden wir einen allgemeinen Überblick darüber geben, wohin unsere Entwicklung im Laufe des 19. Jahrhunderts geführt und welche Aufgaben sie dem 20. Jahrhundert hinterlassen hat.

I

Die Bodenbesitzverhältnisse im Europäischen Russland gegen Ende des 19. Jahrhunderts können wir nach den Angaben der neuesten Bodenstatistik, der von 1905 (herausgegeben vom Zentralen Statistischen Komitee, St. Petersburg 1907),2 darstellen.

Die in Evidenz gehaltene Bodenfläche im Europäischen Russland betrug nach den Angaben dieser Untersuchung im ganzen 395,2 Millionen Desjatinen. Sie verteilt sich auf die drei Hauptgruppen folgendermaßen:

1. Gruppe – Privatbesitz

101,7 Mill. Desj.

2. Gruppe – Anteilland

138,8 Mill. Desj.

3. Gruppe – Kronland und andere Ländereien

154,7 Mill. Desj.

Im ganzen im Europäischen Russland

395.2 Mill. Desj.

Dazu ist zu bemerken, dass unsere Statistik über 100 Millionen Desjatinen im fernen Norden, in den Gouvernements Archangelsk, Olonez und Wologda, in der Rubrik Kronländereien unterbringt. Ein gewaltiger Teil dieser Kronländereien ist zu streichen, da es sich ja hier um den wirklich nutzbaren Boden des Europäischen Russland handelt. In meiner Arbeit über das Agrarprogramm der Sozialdemokraten in der russischen Revolution (diese Arbeit wurde Ende 1907 geschrieben, konnte aber Umstände halber, denen gegenüber der Verfasser machtlos war, nicht erscheinen) schätzte ich den wirklichen landwirtschaftlichen Bodenfonds im Europäischen Russland auf annähernd 280 Millionen Desjatinen. Davon sind nicht 150 Millionen, sondern im ganzen 39,5 Millionen Desjatinen Kronländereien. Folglich bleibt im Europäischen Russland nach Abzug des Gutsherren- und des Bauernbesitzes nur noch weniger als ein Siebentel der gesamten Bodenfläche übrig. Sechs Siebentel befinden sich in den Händen zweier antagonistischer Klassen.

Betrachten wir nun den Landbesitz dieser Klassen, die sich auch als Stände voneinander unterscheiden, denn der größte Teil des im Privatbesitz befindlichen Grund und Bodens gehört dem Adel, das Anteilland dagegen den Bauern. Von 101,7 Millionen Desjatinen Land im Privatbesitz gehören 15,8 Millionen Desjatinen Gesellschaften und Genossenschaften, während sich die übrigen 85,9 Millionen Desjatinen im Eigentum von Privatpersonen befinden. Diese verteilten sich nach Ständen 1905 und, in Parallele dazu, 1877 folgendermaßen:

Stand der Landbesitzer:

Es gehörten

1903

1877

1903

Mill. Desj

%

Mill. Desj

%

mehr + weniger - Mill. Desj

Um das Wieviel­fache zugenom­men bzw.

abge­nommen

Adligen

53,2

61,9

73,1

79,9

19,9

1,40

Geistlichen

0,3

0,4

0,2

0,2

0,1

1,74

Kaufleut. u. Ehrenbürgern

12,9

15

9,8

10,7

3,1

1,3

Städtischen Kleinbürgern

3,8

4,4

1,8

2,1

1,9

1,85

Bauern

13,2

15,4

5,8

6,3

7,4

2,21

Den übrigen Ständen

2,2

2,5

0,3

0,3

1,9

8,07

Fremden Staatsangehörigen

0,3

0,4

0,4

0,5

0,1

1,52

Im ganzen befanden sich in Privatbesitz

85,9

100

91,5

100

5,6

1,09

Der Hauptanteil am Privatbesitz in Russland entfällt demnach auf den Adel. Ihm gehört eine gewaltige Menge Boden. Doch die Entwicklung geht dahin, dass der Landbesitz des Adels abnimmt. Auch der nicht an einen Stand gebundene Landbesitz nimmt zu, und zwar außerordentlich schnell. Von 1877 bis 1905 vergrößerte sich am schnellsten der Landbesitz der „übrigen Stände" (in 28 Jahren um das Achtfache) und dann der der Bauern (um mehr als das Doppelte). Die Bauernschaft sondert also immer mehr und mehr solche soziale Elemente aus, die sich in Privateigentümer von Grund und Boden verwandeln. Das ist eine allgemeine Erscheinung. Und wir werden bei der Analyse der bäuerlichen Wirtschaft den sozialen und ökonomischen Mechanismus aufzudecken haben, der diese Aussonderung bewirkt. Vorläufig muss genau festgestellt werden, dass die Entwicklung des privaten Landeigentums in Russland vom ständischen zum nichtständischen Landbesitz geht. Am Ende des 19. Jahrhunderts umfasst zwar der feudale oder fronherrliche Bodenbesitz immer noch die gewaltige Mehrheit des gesamten privaten Bodenbesitzes, doch schreitet die Entwicklung unverkennbar zur Bildung des bürgerlichen Privateigentums an Grund und Boden. Der von Gefolgsleuten, Stammgutbesitzern, Dienstleuten usw. ererbte private Landbesitz nimmt ab. Es wächst der private Landbesitz heran, der ganz einfach für Geld erworben wird. Die Herrschaft des Grund und Bodens geht zurück, es wächst die Herrschaft des Geldes. Der Boden wird mehr und mehr in den Handelsverkehr hineingezogen; im weiteren Verlauf unserer Darstellung werden wir sehen, dass die Dimensionen dieses Prozesses noch um ein Vielfaches größer sind, als es die Angaben über die Bodenbesitzverhältnisse allein zeigen.

Wie stark gegen Ende des 19. Jahrhunderts die „Macht des Bodens", d. h. die Macht des mittelalterlichen Landbesitzes der fronherrlichen Gutsbesitzer in Russland noch ist, ist besonders deutlich zu ersehen aus den Angaben über die Verteilung des privaten Grundeigentums nach der Größe des Besitzes. Die Quelle, der wir uns bedienen, hebt die Angaben über den privaten Großgrundbesitz ganz besonders hervor. Hier die allgemeine Verteilung nach der Größe des Besitzes:

Besitzgruppen

Anzahl der Besitzungen

Land in Desjatinen

Durchschnitts­fläche pro Besitzung in Desj.

10 Desjatinen und darunter

409.864

1.625.226

3,9

10– 50 Desjatinen

209.119

4.821.031

23,4

50–500 Desjatinen

106.065

17.326.495

163,3

500– 2000 Desjatinen

21.748

20.590.708

947

2000–10000 Desjatinen

5.386

20.602.109

3.825

Über 10000 Desjatinen

699

20.798.504

29.754

Im Ganzen über 500 Desjatinen

27.833

61.991.321

2.227

Insgesamt im Europäischen Russland

752.881

85.834.073

114

Hieraus ist ersichtlich, dass der kleine Privatbesitz unter dem privaten Bodeneigentum eine verschwindend geringe Rolle spielt. Sechs Siebentel der Gesamtzahl der Bodenbesitzer, 619.000 von 753.000, haben insgesamt 6,5 Millionen Desjatinen in ihrem Besitz. Dagegen gibt es unermesslich große Latifundien: 700 Eigentümer besitzen durchschnittlich jeder 30.000 Desjatinen. Diese 700 Menschen besitzen dreimal soviel Boden wie 600.000 kleine Landeigentümer. Die Latifundien bilden überhaupt ein Merkmal des russischen privaten Bodenbesitzes. Wenn wir alle Besitzungen von über 500 Desjatinen gesondert nehmen, so erhalten wir 28.000 Eigentümer, die 62 Millionen Desjatinen in ihrem Besitz haben, d. h. durchschnittlich jeder 2227 Desjatinen. In den Händen dieser 28.000 befinden sich also drei Viertel des gesamten privaten Grundbesitzes.A Die Besitzer dieser ungeheuren Latifundien gehören ihrem Stande nach hauptsächlich zum Adel. Von 27.833 Besitzungen gehören 18.102, d. h. fast zwei Drittel, Adligen, und diese besitzen 44½ Millionen Desjatinen, d. h. über 70 Prozent der ganzen auf die Latifundien entfallenden Bodenmenge. Es ist also klar, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Russland eine ganz gewaltige Bodenfläche – und zwar, wie bekannt, von der besten Qualität so wie früher (im Mittelalter) in den Händen des privilegierten Adelsstandes, in den Händen der Fronherren von gestern konzentriert ist. Wir werden weiter unten ausführlich über die Bewirtschaftungsmethoden sprechen, die sich auf diesen Latifundien herausgebildet haben. Hier wollen wir nur kurz auf die allgemein bekannte Tatsache hinweisen, von der in der Literatur Herr Rubakin ein eindrucksvolles Bild entworfen hat, dass nämlich die höchsten Würdenträger der Bürokratie Mann für Mann unter diesen Besitzern adliger Latifundien figurieren.3

Gehen wir zum Anteilbesitz über. Mit Ausnahme von 1,9 Millionen Desjatinen Boden, die nicht nach der Größe der Besitzungen klassifiziert sind, befindet sich die übrige Bodenmenge, 136,9 Millionen Desjatinen, im Besitz von 12,25 Millionen Bauernhöfen. Im Durchschnitt entfallen also auf den Hof 11,1 Desjatinen. Doch auch das Anteilland ist nicht gleichmäßig verteilt: fast die Hälfte, 64 Millionen Desjatinen von 137, befindet sich in den Händen von 2,1 Millionen mit Boden reichlich bedachten Höfen; das ist ein Sechstel der Gesamtzahl. Hier eine Tabelle über die Verteilung des Anteillandes im Europäischen Russland:

Hofgruppen

Höfe

Desj.

Durchschnittsfläche pro Hof in Desjatinen

bis 5 Desjatinen

2.857.650

9.030.333

3,1

5-8 Desjatinen

3.317.601

21.706.550

6,5

Im Ganzen bis 8 Desjatinen

6.175.251

30.736.883

4,9

8–15 Desjatinen

3.932.485

31.271.922

10,7

15–30 Desjatinen

1.551.904

32.695.510

20,1

über 30 Desjatinen

617.715

42.182.923

52,9

Insgesamt im Europäischen Russland

12.277.355

136.887.238

11,1

Mehr als die Hälfte der Anteilhöfe 6,2 Millionen von 12,3 – besitzt also bis zu acht Desjatinen pro Hof. Im Allgemeinen und im Durchschnitt für ganz Russland ist diese Bodenmenge unbedingt unzureichend, um darauf eine Familie zu ernähren. Um ein Urteil über die wirtschaftliche Lage dieser Höfe zu ermöglichen, wollen wir an die Gesamtdaten der militärischen Pferdezählungen erinnern (der einzigen Statistik, die periodisch und regulär ganz Russland erfasst). In 48 Gouvernements des Europäischen Russland, d. h. unter Ausschluss des Dongebiets und des Gouvernements Archangelsk, wurden für die Jahre 1896 bis 1900 11.112.287 Bauernhöfe gezählt. Von ihnen besaßen 3.242.462, also 29,2 Prozent, gar kein Pferd. Je ein Pferd hatten 3.361.778 Höfe, also 30,3 Prozent. Es ist bekannt, wie es um so einen Bauer ohne Pferd in Russland bestellt ist (natürlich nehmen wir hier das Gesamtbild und nicht irgendwelche Ausnahmerayons mit Milchwirtschaften in den Vororten. Tabakpflanzungen usw.). Ebenso bekannt ist ferner die Not und die Armut der Bauern mit einem Pferde. Die 6-Millionen-Masse von Höfen bedeutet 24 bis 30 Millionen Bewohner. Und alle diese Hofinsassen sind Paupers, Bettler, denen verschwindend kleine Landfetzen zugeteilt sind, von denen sie nicht leben, auf denen sie nur verhungern können. Wenn angenommen werden soll, dass zu einem gut bestellten landwirtschaftlichen Betrieb, um auskommen zu können, wenigstens 15 Desjatinen erforderlich sind, so ergeben sich 10 Millionen Bauernhöfe, die hinter diesem Maß zurückbleiben; sie besitzen 72,9 Millionen Desjatinen Land.

Weiter. Beim Anteillandbesitz muss ein außerordentlich wichtiger Zug erwähnt werden. Die Ungleichmäßigkeit in der Verteilung des Anteillandes unter den Bauern ist unvergleichlich geringer als die Ungleichmäßigkeit in der Verteilung des privaten Landbesitzes. Doch dafür bestehen unter den Anteilbauern eine Menge Unterschiede, Teilungen, Scheidewände anderer Art: die Unterschiede zwischen den verschiedenen Bauernkategorien, die sich im Laufe langer Jahrhunderte historisch herausgebildet haben. Um diese Schranken sinnfällig aufzuzeigen, nehmen wir zuerst die Gesamtangaben über das Europäische Russland. Die Statistik von 1905 führt die folgenden Hauptgruppen an. Die Bauern, die früher einem Gutsherrn gehörten, haben durchschnittlich 6,7 Desjatinen Anteilland auf den Hof. Die ehemaligen Staatsbauern besitzen 12,5 Desjatinen, die ehemaligen Apanagebauern 9,5 Desjatinen, die Kolonisten 20,2 Desjatinen, die Pachtbauern 3,1 Desjatinen, die Resjoschi 5,3 Desjatinen, die Baschkiren und Tjeptjaren4 28,3 Desjatinen, die baltischen Bauern 36,9 Desjatinen, die Kosaken 52,7 Desjatinen. Schon hieraus ist ersichtlich, dass der Anteilbesitz der Bauern rein mittelalterlicher Art ist. Die Leibeigenschaft lebt bis auf den heutigen Tag in der Unmenge von Scheidewänden weiter, die unter den Bauern erhalten geblieben sind. Die einzelnen Kategorien unterscheiden sich nicht nur durch die Größe des Bodenbesitzes, sondern auch durch die Höhe ihrer Zahlungen, durch die Loskaufbedingungen, durch den Charakter ihres Besitzes usw. Nehmen wir einmal statt der Gesamtangaben für ganz Russland die Angaben für ein Gouvernement, und wir werden sehen, was es mit diesen Scheidewänden auf sich hat. Da ist z. B. das Jahrbuch der Semstwostatistik für das Gouvernement Saratow.5 Außer den für ganz Russland geltenden Kategorien, d. h. jenen, die wir oben bereits erwähnt haben, finden wir hier, dass die örtlichen Forscher die Bauern nach den folgenden Kategorien unterscheiden: Geschenkbauern, Volleigentümer, Staatsbauern mit Gemeinde- oder Viertelbesitz, Staatsbauern, die früher gutsherrliche Bauern waren, Pächter von fiskalischen Grundstücken, Siedlungseigentümer, Ansiedler, Freigelassene, zinsfreie Bauern, freie Landwirte, frühere Fabrikbauern usw. Diese Verflechtung mittelalterlicher Einteilungen geht so weit, dass zuweilen die Bauern ein und desselben Dorfes in zwei voneinander vollständig verschiedene Kategorien eingeteilt sind: „ehemalige Bauern des Herrn N. N." und „ehemalige Bauern der Frau M. M." Unsere Schriftsteller aus dem Lager des liberalen Narodnikitums, die die russischen wirtschaftlichen Verhältnisse nicht unter dem Gesichtswinkel der Entwicklung, als Ablösung der fronwirtschaftlichen Ordnung durch die bürgerliche, betrachten können, ignorieren gewöhnlich diese Tatsache. Doch kann man in Wirklichkeit die Geschichte Russlands im 19. Jahrhundert und besonders ihr unmittelbares Resultat – die Ereignisse am Anfang des 20. Jahrhunderts – absolut nicht verstehen, wenn man diese Tatsache nicht in ihrer vollen Bedeutung würdigt. Ein Land, in dem der Tauschverkehr heranwächst und der Kapitalismus sich entwickelt, muss Krisen aller Art durchmachen, wenn im Hauptzweig der Volkswirtschaft mittelalterliche Verhältnisse auf Schritt und Tritt bremsen und hemmen. Die berüchtigte Dorfgemeinde, über deren Bedeutung wir noch zu sprechen haben werden, schützt die Bauern nicht vor Proletarisierung, sondern spielt vielmehr in Wirklichkeit die Rolle einer mittelalterlichen Scheidewand, die die Bauern trennt. Diese werden an kleine Verbände und Kategorien, die jede „Daseinsberechtigung" verloren haben, gleichsam fest geschmiedet.

Bevor wir zu abschließenden Betrachtungen über die Bodenbesitzverhältnisse im Europäischen Russland übergehen, müssen wir noch auf eine Seite der Sache hinweisen. Weder die Angaben über die Größe des Grundbesitzes der „oberen dreißigtausend" Gutsherren und der Millionen Bauernhöfe noch die Angaben über die mittelalterlichen Scheidewände im bäuerlichen Landbesitz zeigen zur Genüge, wie sehr unser Bauer durch die lebendig wirksamen Überbleibsel der Leibeigenschaft beengt, bedrückt und niedergehalten wird. Erstens ist der Boden, der nach jener Expropriation der Bauern zugunsten der Gutsherren, die man die große Reform von 1861 nennt, den Bauern als Anteilland belassen wurde, weit schlechter als der Boden der Gutsherren. Dies wird bezeugt durch die ganze ungeheure Literatur an örtlichen Beschreibungen und an Untersuchungen der Semstwostatistik. Darüber gibt es eine Menge unumstößlicher Angaben, die die geringeren Ernteerträge des bäuerlichen Bodens im Vergleich zum gutsherrlichen nachweisen; es ist allgemein anerkannt, dass dieser Unterschied in erster Linie auf der schlechteren Qualität der Anteilländereien beruht und dann erst auf schlechterer Bearbeitung und den Gebresten der bettelhaften bäuerlichen Wirtschaft. Zweitens wurde, als die Gutsherren im Jahre 1861 die Bauern vom Boden „befreiten", in einer Unmenge von Fällen der Boden für die Bauern in der Weise abgemessen, dass die Bauern bei „ihren" Gutsherren wie in eine Falle gerieten. Die russische semstwostatistische Literatur hat die Wissenschaft der politischen Ökonomie um die Beschreibung einer bemerkenswert originellen, eigenartigen, auf der ganzen Welt wohl kaum noch dagewesenen Art gutsherrlicher Wirtschaftsführung bereichert. Es ist dies das Wirtschaften mittels abgetrennter Bodenstücke. Die Bauern wurden 1861 von den für ihre Wirtschaft unumgänglich notwendigen Tränken, Weideplätzen usw. „befreit". Das Bauernland wurde keilartig in die gutsherrlichen Ländereien hineingeschoben, so dass den Herren Gutsbesitzern eine außerordentlich zuverlässige – und außerordentlich noble – Einnahmequelle sichergestellt wurde: die Strafgelder für Flurschäden usw. „Kein Platz da, wo man ein Huhn hinauslassen könnte" – diese bittere Bauernwahrheit, dieser „Galgenhumor" sagt mehr als jedes Zitat von jener Eigentümlichkeit des bäuerlichen Bodenbesitzes, die statistisch nicht darstellbar ist. Es braucht nicht besonders gesagt zu werden, dass diese Besonderheit Leibeigenschaft vom reinsten Wasser ist, sowohl nach ihrem Ursprung als auch in ihrem Einfluss auf die Art und Weise der Organisierung der gutsherrlichen Wirtschaft.

Nun wollen wir zu den Schlussfolgerungen für die Bodenbesitzverhältnisse im Europäischen Russland übergehen. Wir haben die Verhältnisse des gutsherrlichen und des bäuerlichen Landbesitzes getrennt aufgezeigt. Wir müssen sie jetzt in ihrem Zusammenhang betrachten. Dazu wollen wir die oben angeführte annähernde Ziffer über die Größe der Bodenmenge im Europäischen Russland – 280 Millionen Desjatinen – nehmen und prüfen, wie diese ganze Masse sich auf die Grundbesitze nach den verschiedenen Typen verteilt. Welcher Art diese Typen sind, wird im weiteren Verlauf unserer Darstellung ausführlich aufgezeigt werden. Jetzt aber wollen wir, ein wenig vorauseilend, die Hauptetappen als vorausgesetzt nehmen. Die Grundbesitze mit nicht mehr als 15 Desjatinen auf den Hof zählen wir zur ersten Gruppe; das ist die verarmte Bauernschaft, die durch die fronherrliche Ausbeutung niedergehalten wird. Die zweite Gruppe bildet die mittlere Bauernschaft mit einem Besitz von 15 bis 20 Desjatinen. Die dritte bilden die wohlhabende Bauernschaft (die bäuerliche Bourgeoisie) und der kapitalistische Landbesitz mit 20 bis 500 Desjatinen. Die vierte besteht aus den fronherrlichen Latifundien mit je über 500 Desjatinen. Wenn wir in diesen Gruppen den bäuerlichen und den gutsherrlichen Landbesitz vereinigen, kleine Abrundungen vornehmenB und annähernde Berechnungen (die ich in der obengenannten Arbeit ins Einzelne gehend darlege) anstellen, so erhalten wir folgendes Bild der russischen Grundbesitzverhältnisse am Ende des 19. Jahrhunderts.

Der Grundbesitz im Europäischen Russland am Ende des 19. Jahrhunderts


Anzahl

Desjatinen auf eine Besitzung

der Besitzungen

der Desjatinen

(in Millionen)

a) Ruinierte Bauernschaft, durch die fronherrliche Ausbeutung niedergehalten

10,5

75,0

7,0

b) Mittlere Bauernschaft

1,0

15,0

15,0

c) Bäuerliche Bourgeoisie und kapitalistischer Grundbesitz

1,5

70,0

46,7

d) Fronherrliche Latifundien

0,03

70

2.333

Im Ganzen

13,03

230

17,6

Nach Ausmaß der Besitzungen nicht verteilt


50


Summe

13,03

280

21,4

Wir wiederholen: die Richtigkeit der ökonomischen Charakterisierung der hier angeführten Gruppen wird im weiteren Verlauf unserer Darstellung nachgewiesen werden. Und wenn Einzelheiten dieses Bildes (das, dem Wesen der Sache entsprechend, nur ein annäherndes sein kann) zur Kritik herausfordern, so bitten wir den Leser, wohl darauf zu achten, dass mit der Kritik an Einzelheiten nicht die Ablehnung des Kerns der Sache durch geschmuggelt werde. Dieser Kern der Sache aber besteht darin, dass wir auf dem einen Pol des russischen Grundbesitzes 10,5 Millionen Höfe (ungefähr 50 Millionen Menschen) mit 75 Millionen Desjatinen Land haben, während auf dem Gegenpol dreißigtausend Familien (ungefähr 150.000 Menschen) mit 70 Millionen Desjatinen Land stehen.

Um das Thema der Grundbesitzverhältnisse abschließen zu können, bleibt uns nur noch übrig, über das eigentliche Europäische Russland hinauszugehen und in den Hauptzügen die Bedeutung der Kolonisation zu untersuchen. Um dem Leser einigermaßen eine Vorstellung von der gesamten Bodenmenge des Russischen Reiches (ohne Finnland) zu geben, bedienen wir uns der Angaben des Herrn Mertwago.6 Der Anschaulichkeit halber bringen wir sie in Tabellenform und fügen die Bevölkerungsziffern nach der Zählung von 1897 hinzu.


Gesamte Bodenfläche

davon

Bevölk.zahl

Boden, über den keine Anga­ben vorl. in Millionen Desj.

Statist. erfasster Boden in Mill. Desj.

davon landwirtschaftlich nutzbarer Boden (in Mill. Desjatinen)

In 1000 Quadrat­werst

in Mill. Desj.

Acker­land

Wie­sen­land

Wald

insges.

ins­ges. (in Tausenden)

auf eine Quadratwerst

10 Gouverne­ments des Königreiches Polen

111,6

11,6

11,6

7,4

0,9

2,5

10,8

9 402,2

84,3

38 Gouverne­ments westlich der Wolga

1 755,6

183

183

93,6

18,7

34,0

146,3

12 Gouverne­ments nördlich und östlich der Wolga

2 474,9

258

258

22,3

7,1

132,0

101,4

50 Gouverne­ments des Europ. Russland zusammen

4 230,5

441

441,0

123,3

26,7

168,5

93318,5

442,0

22,1

Kaukasus

411,7

42,9

22,1

20,8

6,5

2,2

2,5

11,2

9 289,4

22,0

Sibirien

10 966,1

1 142,6

639,7

502,9

4,3

3,9

121,0

129,2

5 758,8

0,5

Mittelasien

3 141,6

327,3

157,4

169,9

0,9

1,6

8,0

10,5

7 746,7

2,5

Asiatisches Russland zusammen

14 519,4

1512,8

819,2

693,6

11,7

7,7

131,5

150,9

Das ganze Russische Reich

18 861,5

1 965,4

819,2

1 146,2

135,0

34,1

300,0

469,4

125 640,0

6,7

Aus diesen Ziffern tritt klar zutage, wie wenig wir noch von den Randgebieten Russlands wissen. Allerdings wäre es blanker Unsinn, die Bodenfrage des inneren Russlands durch Umsiedlung nach den Randgebieten „lösen" zu wollen. Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, dass diese Art „Lösung" nur von Scharlatanen vorgeschlagen werden kann, dass jene Gegensätze zwischen den alten Latifundien im Europäischen Russland und den neuen Lebens- und Wirtschaftsbedingungen im gleichen Europäischen Russland, die wir früher aufzeigten, nur durch die eine oder andere Umwälzung im Europäischen Russland, nicht aber außerhalb desselben „gelöst" werden müssen. Nicht darum handelt es sich, dass die Bauern durch Umsiedlung von der Leibeigenschaft befreit werden sollen; es handelt sich vielmehr darum, dass neben der Agrarfrage des Zentrums die Agrarfrage der Kolonisation steht. Nicht darum handelt es sich, die Krise im Europäischen Russland durch die Kolonisationsfrage zu verhüllen, sondern darum, die verderblichen Folgen der fronherrlichen Latifundien sowohl im Zentralgebiet als auch in den Randgebieten aufzuzeigen. Die Überbleibsel der Leibeigenschaft im Zentrum Russlands hemmen die russische Kolonisation. Anders als durch eine Agrarumwälzung im Europäischen Russland, anders als durch Befreiung der Bauern vom Druck der fronherrlichen Latifundien ist es unmöglich, freie Bahn für die russische Kolonisation zu schaffen, sie zu regeln. Diese Regelung soll nicht im bürokratischen „Sorgetragen" für die Umsiedlung und nicht in der „Organisierung der Übersiedlungen" bestehen, von der die Schriftsteller aus dem Lager des liberalen Narodnikitums gern reden, sondern in der Beseitigung jener Verhältnisse, die den russischen Bauer zu Unwissenheit, geistigem Tiefstand und Verwilderung, zu ewiger Fron für die Besitzer der Latifundien verdammen.

Herr Mertwago weist in seiner mit Herrn Prokopowitsch zusammen verfassten Broschüre („Wie viel Land gibt es in Russland, und wie benutzen wir es?", Moskau 1907) sehr richtig darauf hin, dass durch den Fortschritt der Kultur unbrauchbarer Boden in brauchbaren verwandelt wird. Baer und Helmersen, Mitglieder der Akademie und Kenner dieser Sache, schrieben im Jahre 1845. dass die Taurischen Steppen „wegen ihres Klimas und ihres Wassermangels immer zu den ärmsten und unfruchtbarsten gehören werden"!!7 Damals produzierte die Bevölkerung des Gouvernements Taurien 1.8 Millionen Tschetwert Brotgetreide.

In 60 Jahren hat sich die Bevölkerung verdoppelt und produziert nunmehr 17,6 Millionen Tschetwert, also fast zehnmal soviel.

Das ist eine sehr wahre und wichtige Betrachtung. Doch hat Herr Mertwago eins vergessen: die Hauptbedingung, die die schnelle Kolonisierung von Neu-Russland ermöglichte, war Aufhebung der Leibeigenschaft im Zentrum Russlands. Nur die Umwälzung im Zentrum machte es möglich, den Süden schnell, großzügig, auf amerikanische Art zu besiedeln und ihn zu industrialisieren (über das amerikanische Emporblühen von Südrussland nach 1861 ist ja sehr, sehr viel gesprochen worden). Auch jetzt kann nur eine Umwälzung im Europäischen Russland, nur die vollkommene Beseitigung der dort noch bestehenden Reste der Leibeigenschaft sowie die Befreiung der Bauern von den mittelalterlichen Latifundien in Wirklichkeit eine neue Kolonisationsära eröffnen.

Die Kolonisationsfrage in Russland ist der Agrarfrage im Innern des Landes untergeordnet. Am Ende des 19. Jahrhunderts stehen wir vor der Alternative: entweder wird die Hörigkeit in den „ur"russischen Gouvernements vollkommen liquidiert; dann ist die schnelle, großzügige, amerikanische Entwicklung der Kolonisierung unserer Randgebiete gesichert. Oder aber die Agrarfrage im Zentrum wird verschleppt; dann ist eine Verzögerung der Entwicklung der Produktivkräfte, die Aufrechterhaltung der Hörigkeitstraditionen auch im Kolonisationswesen unvermeidlich. Im ersten Fall wird ein freier Farmer Landwirtschaft treiben, im zweiten Fall werden es ein durch Schuldknechtschaft niedergehaltener Muschik und die mittels abgetrennter Ländereien „wirtschaftende" Herrschaft tun.

II

Wir gehen nun zur Organisation der gutsherrlichen Wirtschaft über. Es ist allgemein bekannt, dass das Hauptmerkmal dieser Organisation in der Verbindung des kapitalistischen Systems („freie Lohnarbeit") mit dem System der Abarbeit besteht. Was versteht man nun unter diesem System der Abarbeit?

Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir einen Blick auf die Organisation der gutsherrlichen Wirtschaft zur Zeit der Leibeigenschaft werfen. Allen ist bekannt, was die Leibeigenschaft in rechtlicher und administrativer Hinsicht war und welche Lebensverhältnisse unter ihr herrschten. Doch sehr selten wird die Frage gestellt, worin der Kernpunkt der ökonomischen Beziehungen zwischen Gutsherren und Bauern zur Zeit der Leibeigenschaft bestand. Damals teilten die Gutsherren den Bauern Land zu. Zuweilen liehen sie den Bauern auch andere Produktionsmittel, wie Bauholz, Vieh usw. Welche Bedeutung hatte es nun, dass den leibeigenen Bauern gutsherrliches Land zugeteilt wurde? Das Anteilland war damals eine Form des Arbeitslohnes, wenn wir im Hinblick auf die heutigen Verhältnisse sprechen wollen. Bei der kapitalistischen Produktion wird dem Arbeiter sein Arbeitslohn in Geld ausgezahlt. Der Profit des Kapitalisten realisiert sich in Geldform. Die notwendige und die Mehrarbeit (d. h. die Arbeit, mit der der Lebensunterhalt des Arbeiters bestritten wird, und diejenige, die dem Kapitalisten den nicht bezahlten Mehrwert gibt) sind zu einem einzigen Arbeitsprozess in der Fabrik, zu einem Arbeitstag in der Fabrik usw. vereinigt. Anders steht die Sache in der Fronwirtschaft. Notwendige Arbeit und Mehrarbeit gibt es auch hier, wie es sie auch in der Sklavenwirtschaft gibt. Doch sind diese beiden Arten der Arbeit zeitlich und räumlich getrennt. Der leibeigene Bauer arbeitet drei Tage für seinen Herrn und drei Tage für sich selbst. Für den Herrn arbeitet er auf dem gutsherrlichen Lande oder am Getreide des Gutsherrn. Für sich arbeitet er auf dem Anteilland und beschafft dort für sich und seine Familie das Getreide, das zum Unterhalt der Arbeitskraft für den Gutsherrn notwendig ist.

Folglich stimmt das Hörigkeits- oder Fronsystem mit dem kapitalistischen in der Hinsicht überein, dass bei beiden der Arbeiter nur das Produkt der notwendigen Arbeit erhält, während er das Produkt der Mehrarbeit dem Besitzer der Produktionsmittel ohne Bezahlung abgibt. Hingegen unterscheidet sich die Fronwirtschaft von der kapitalistischen in den folgenden drei Beziehungen: erstens ist Fronwirtschaft Naturalwirtschaft, die kapitalistische dagegen Geldwirtschaft. Zweitens wird bei der Fronwirtschaft die Ausbeutung dadurch bewerkstelligt, dass der Arbeiter an die Scholle gefesselt wird, dass er Land zugeteilt bekommt, während bei der kapitalistischen der Arbeiter vom Lande freigesetzt wird. Um Einkommen (d. h. Mehrprodukt) zu erzielen. muss der Leibeigenen- und Gutsbesitzer auf seinem Boden Bauern haben, die über Anteilland, Inventar und Vieh verfügen. Der Bauer ohne Land, ohne Pferd und ohne Wirtschaft ist für die fronherrliche Ausbeutung ein untaugliches Objekt. Der Kapitalist dagegen muss, um ein Einkommen (Profit) zu erzielen, gerade Arbeiter ohne Land und ohne Wirtschaft vor sich haben, Arbeiter, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft auf dem freien Arbeitsmarkt zu verkaufen. Drittens muss der Bauer, dem Land zugeteilt ist, von dem Gutsherrn persönlich abhängig sein, denn da er Land besitzt, wird er nur gezwungen für den Herrn arbeiten. Das Wirtschaftssystem erzeugt hier „außerökonomischen Zwang", Hörigkeit, rechtliche Abhängigkeit, mangelnde Gleichberechtigung usw. Dagegen ist der „ideale" Kapitalismus vollste Vertragsfreiheit auf freiem Markte zwischen dem Eigentümer und dem Proletarier.

Nur wenn wir uns dieses ökonomische Wesen der Hörigen- oder, was dasselbe ist, der Fronwirtschaft genau klargemacht haben, können wir die Bedeutung des Systems der Abarbeit und seinen Platz in der Geschichte verstehen. Die Abarbeit ist ein direktes und unmittelbares Überbleibsel der Fron. Die Abarbeit ist Übergang von der Fron zum Kapitalismus. Das Wesen der Abarbeit besteht darin, dass die Bauern das Land des Gutsherrn mit ihrem eigenen Inventar bestellen und dafür teils mit Geld, teils mit Naturalien (mit Boden, mit abgetrennten Ländereien, mit Viehweide, mit Winterdarlehen usw.) entlohnt werden. Die unter dem Namen Halbpacht bekannte Wirtschaftsform ist eine der Spielarten der Abarbeit. Für die auf Abarbeit beruhende gutsherrliche Wirtschaft ist der Bauer mit Landanteil eine Notwendigkeit, und habe er ein auch noch so schlechtes lebendes und totes Inventar. Ferner muss dieser Bauer in Not sein, damit er sich in Schuldknechtschaft begebe. Schuldknechtschaft anstatt freier Lohnarbeit ist eine unvermeidliche Begleiterscheinung des Systems der Abarbeit. Der Gutsherr tritt hier nicht als kapitalistischer Unternehmer auf, der über Geld und den gesamten Produktionsapparat verfügt. Beim System der Abarbeit tritt der Gutsherr als Wucherer auf, der die Not des benachbarten Bauern ausnutzt und seine Arbeit zu spottbilligem Preise erwirbt.

Um dies möglichst sinnfällig aufzuzeigen, wollen wir die Angaben des Departements für Landwirtschaft anführen, eine Quelle, die über jeden Verdacht, gegen die Herren Gutsbesitzer voreingenommen zu sein, erhaben ist. Die bekannte Veröffentlichung „Freie Lohnarbeit in der Wirtschaft" usw. (Lieferung 5 der „Landwirtschaftlichen und statistischen Angaben auf Grund des von Landwirten erhaltenen Materials", St. Petersburg 1892)8 bringt Angaben über das mittlere Schwarzerdegebiet für acht Jahre (1883–1891): als Durchschnittslohn für die volle Bestellung einer Desjatine mit Wintergetreide mit bäuerlichem Inventar muss man sechs Rubel annehmen. Doch wenn man die Kosten dieser Arbeit bei freier Lohnarbeit errechnet, so erhält man – so heißt es in derselben Veröffentlichung– 6,19 Rubel allein für die Arbeit zu Fuß, die Arbeit des Pferdes nicht gerechnet; diese Arbeit ist mit mindestens 4,50 Rubel anzusetzen (in der erwähnten Publikation, S. 45: „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland", S. 141). Folglich würde der Preis bei freier Lohnarbeit 10,69 Rubel betragen, bei Abarbeit dagegen beträgt er 6 Rubel. Wie soll man diese Erscheinung erklären, wenn sie nicht zufällig und vereinzelt vorkommt, sondern als normal und üblich gilt? Worte wie „Schuldknechtschaft", „Wucher", „Betrug" usw. bezeichnen Form und Charakter des Geschäftes, erklären aber nicht sein wirtschaftliches Wesen. Wie kann ein Bauer jahrelang eine Arbeit für 6 Rubel leisten, die 10,69 Rubel wert ist? Der Bauer kann dies deshalb tun, weil sein Anteilland einen Teil der Ausgaben der bäuerlichen Familie deckt und erlaubt, den Arbeitslohn unter die für „freie Lohnarbeit übliche" Norm herabzusetzen. Der Bauer ist gerade deshalb gezwungen, dies zu tun, weil das dürftige Anteilland ihn an den benachbarten Gutsherrn fesselt, da es ihm nicht die Möglichkeit gibt, von seiner Wirtschaft allein zu leben. Es ist verständlich, dass diese Erscheinung nur als ein Glied im Prozess der Verdrängung der Fron durch den Kapitalismus „normal" sein kann. Denn unter solchen Bedingungen wird der Bauer unvermeidlich ruiniert und verwandelt sich langsam, aber sicher in einen Proletarier.

Wir lassen noch gleichartige, aber etwas ausführlichere Angaben über den Kreis Saratow folgen. Das Durchschnittsentgelt für die Bearbeitung einer Desjatine mit Einerntung, Einfahren und Dreschen bei Winterkontrakt unter Vorauszahlung von 80 bis 100 Prozent des Arbeitsentgelts beträgt 9,6 Rubel. Bei Abarbeit des Pachtzinses für Ackerland beträgt es 9,4 Rubel, bei freier Lohnarbeit dagegen 17,50 Rubel! Die Kosten für Ernte und Einfahren belaufen sich bei Abarbeit auf 3,8 Rubel für die Desjatine, bei freier Lohnarbeit auf 8,5 Rubel usw. Jede dieser Zahlen schließt eine lange Geschichte von endloser Not, Schuldknechtschaft und Verelendung der Bauern in sich ein. Jede dieser Ziffern bezeugt, wie lebendig in Russland am Ende des 19. Jahrhunderts die fronherrliche Ausbeutung und die Reste der Fron sind.

Es ist sehr schwer festzustellen, in welchem Maße das System der Abarbeit verbreitet ist. Gewöhnlich ist es so, dass in der gutsherrlichen Wirtschaft das System der Abarbeit und das kapitalistische System zusammen angewandt werden, und zwar in verschiedenen Operationen der Landwirtschaft. Ein unbeträchtlicher Teil des Landes wird mit gutsherrlichem Inventar und durch Lohnarbeiter bestellt. Der größere Teil des Landes wird an Bauern verpachtet, als Halbpacht, gegen Abarbeit.; Hier einige Beispiele, die wir der ausführlichen Arbeit des Herrn Kaufmann entnehmen, der eine Reihe neuester Angaben über den privaten landwirtschaftlichen Betrieb zusammengefasst hat.C Gouvernement Tula (die Angaben beziehen sich auf die Jahre 1897 bis 1898): „Die Gutsherren sind bei der alten Dreifelderwirtschaft geblieben ... Weit liegendes Land wird von den Bauern in Pacht genommen", die Bestellung des gutsherrlichen Bodens ist im höchsten Grade unbefriedigend. Gouvernement Kursk: „Die infolge der hohen Preise vorteilhafte desjatinenweise Überlassung von Boden an Bauern ... hat zur Erschöpfung des Bodens geführt". Gouvernement Woronesch: Die mittleren und kleineren Grundbesitzer „führen in ihrer Mehrzahl ihre Wirtschaft mittels des bäuerlichen Inventars oder geben ihre Güter in Pacht ... in der Mehrzahl der Wirtschaften sind Methoden üblich, die sich durch völliges Fehlen jeglicher Verbesserung auszeichnen."

Derartige Äußerungen zeigen uns, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts die verschiedenen Gouvernements auf Grund des Vorwiegens des Systems der Abarbeit oder des kapitalistischen Systems im Allgemeinen mit vollem Recht so charakterisiert werden können, wie es Herr Annenski in seinem Buch „Einfluss der Ernten usw." getan hat. Wir bringen diese Charakterisierung in Form einer kleinen Tabelle:

I. Gouvernements mit vorherrschendem kapitalistischen System

9

10

17

7.407

II. Gouvernements mit vorherrschendem gemischten System

3

4

7

2.222

III. Gouvernements mit vorherrschendem Abarbeitssystem

12

5

17

62.81

Insgesamt

24

19

43

15.910

Im Schwarzerdegebiet herrscht demnach die Abarbeit entschieden vor, während sie in allen 43 Gouvernements, die in der vorliegenden Tabelle zusammengefasst sind, in den Hintergrund tritt. Dabei ist noch die Bemerkung von Wichtigkeit, dass zur ersten Gruppe (mit kapitalistischem System) gerade die für das landwirtschaftliche Zentrum nicht charakteristischen Gegenden gehören: die baltischen Gouvernements, die südwestlichen (mit Zuckerrübenbau), die südlichen, die beiden hauptstädtischen.

Über den Einfluss, den das System der Abarbeit auf die Entwicklung der Produktivkräfte in der Landwirtschaft ausübt, redet das Material, das in der Arbeit des Herrn Kaufmann zusammengefasst ist, eine beredte Sprache.

Es kann keinem Zweifel unterliegen – lesen wir dort –, dass die bäuerliche Kleinpacht und Halbpacht eine der Ursachen ist, die den Fortschritt der Landwirtschaft am meisten hemmen..."

In Übersichten über die Landwirtschaft im Gouvernement Poltawa wird stets darauf hingewiesen, dass „die Pächter den Boden schlecht bestellen, schlechtes Saatgut verwenden, Unkraut wachsen lassen".

Im Gouvernement Mohilew (1898) „wird jede Verbesserung in der Wirtschaft durch die von der Halbpacht verursachten Missstände gelähmt". Die „Skopschtschina" ist eine der Hauptursachen dafür, dass „die Landwirtschaft im Dnjeprkreis sich in einer solchen Lage befindet, dass an irgendwelche Neuerungen und Verbesserungen gar nicht zu denken ist".

Unser Material“ – schreibt Herr Kaufmann (S. 517) – „gibt uns eine Reihe bestimmter Hinweise darauf, dass selbst im Rahmen einer und derselben Besitzung auf den verpachteten Ländereien die alten und veralteten Wirtschaftsmethoden weiterbestehen, während auf den Ländereien, die vom Gut aus bewirtschaftet werden, bereits neue, rationellere eingeführt sind.“

So behauptet sich auf den verpachteten Ländereien die Dreifelderwirtschaft, manchmal sogar ohne Düngung des Bodens, während auf den Gutsländereien Vielfelderwirtschaft herrscht. Durch die Halbpacht wird der Anbau von Futtermitteln, die Verbreitung von Kunstdünger, die Anwendung besserer landwirtschaftlicher Geräte gehemmt. Die Resultate von all dem treten in den Angaben über die Ernteerträge sinnfällig zutage. So wurden in einem Latifundium des Gouvernements Simbirsk geerntet: auf den Gutsfeldern – Roggen 90 Pud pro Desjatine, Weizen 60 Pud, Hafer 74 Pud; auf den verpachteten Ländereien aber nur 58 bzw. 28 und 50 Pud. Hier die Gesamtangaben über einen ganzen Kreis (Gorbatow, Gouvernement Nischni-Nowgorod):

Bodenkategorie

Roggenernte pro Desjatine in Pud

Anteilland

Gutsfelder

Privater Grundbesitz

Halbpacht

Pacht

I

62

74

44

II

53

63

49

_

III

51

60

50

42

IV

48

69

51

51

Für alle Kategorien

54D

66

50

43D

Somit trägt der mittels fronherrlicher Methoden (Halbpacht und Kleinpacht) bewirtschaftete gutsherrliche Boden geringere Ernte als das Anteilland! Das ist eine Tatsache von größter Bedeutung, denn sie zeigt unumstößlich, dass die Grundursache der landwirtschaftlichen Rückständigkeit Russlands, der Stagnation der ganzen Volkswirtschaft und der in der Welt einzig dastehenden Niedergedrücktheit des Bauern das System der Abarbeit, d. h. ein direkter Überrest der Fronherrschaft ist. Keine Kredite, keine Meliorationen, keine Bauern„hilfe", keine der bei Bürokraten und Liberalen so beliebten „Förderungsmaßnahmen" werden nennenswerte Resultate ergeben, solange der Druck der fronherrlichen Latifundien, Traditionen und Wirtschaftssysteme weiterbesteht. Und umgekehrt: eine Agrarumwälzung, die den gutsherrlichen Grundbesitz vernichtet und die alte mittelalterliche Gemeinde sprengt (z. B. die Nationalisierung des Bodens auf nicht polizeilichem, nicht bürokratischem Wege), würde unweigerlich den Ausgangspunkt eines außerordentlich raschen und wirklich breiten Fortschritts bilden. Die in Halb- und Kleinpacht bewirtschafteten Ländereien verdanken ihren unglaublich niedrigen Ernteertrag der Arbeit „für den gnädigen Herrn". Nicht nur der Ernteertrag dieser Ländereien würde steigen, wenn der heutige Bauer nicht mehr „für den gnädigen Herrn" zu arbeiten brauchte, sondern unvermeidlich auch der Ernteertrag der Anteilländereien – ganz einfach als Folge der Hinwegräumung der fronherrlichen Hindernisse, die heute die Wirtschaft beengen.

Auch bei der gegenwärtigen Lage der Dinge ist natürlich in der Privatwirtschaft ein Fortschritt im kapitalistischen Sinn festzustellen, aber er vollzieht sich äußerst langsam und zwingt Russland noch auf lange Zeit hinaus unvermeidlich unter die politische und soziale Herrschaft des „wilden Junkers". Wir wollen nunmehr betrachten, worin dieser Fortschritt sich äußert, und zugleich versuchen, gewisse allgemeine Resultate desselben festzustellen.

Dass die Ernteerträge der zur Gutswirtschaft gehörenden, d. h. der mit Hilfe kapitalistischer Methoden bestellten gutsherrlichen Ländereien über denjenigen der Bauernfelder stehen, ist ein Zeichen des technischen Fortschritts des Kapitalismus in der Landwirtschaft. Dieser Fortschritt hängt mit dem Übergang System der Abarbeit zum System der Lohnarbeit zusammen. Die Verelendung der Bauernschaft, das Schwinden ihres Pferdebestandes und ihres Inventars, die Proletarisierung des Ackerbauern nötigen den Gutsherrn, zur Bebauung der Felder mit eigenem Inventar überzugehen. Es wächst die Anwendung landwirtschaftlicher Maschinen, die die Arbeitsproduktivität steigern und unabwendbar zur Entwicklung rein kapitalistischer Produktionsverhältnisse führen. In den Jahren 1869–1872 betrug der Wert des landwirtschaftlichen Maschinenimports Russlands 788.000 Rubel, 1873-1880 2,9 Millionen Rubel, 1881-1888 4,2 Millionen Rubel, 1889–1896 3,7 Millionen Rubel,1902-1903 15,2 bzw. 20,6 Millionen Rubel. Die Produktion landwirtschaftlicher Maschinen hatte (ungefähr, nach der ziemlich rohen Schätzung der Fabriken und Werke) im Jahre 1876 einen Wert von 2,3 Millionen Rubel, 1894 von 9,4 Millionen Rubel, 1900-1903 von 12,1 Millionen Rubel. Dass diese Zahlen von einem landwirtschaftlichen Fortschritt, und zwar von einem kapitalistischen Fortschritt zeugen, ist unbestreitbar. Aber ebenso unbestreitbar ist, dass dieser Fortschritt im Vergleich zu den Möglichkeiten in den modernen kapitalistischen Staaten äußerst langsam ist: Beispiel – Amerika! Laut der Zählung vom 1. Juni 1900 belief sich der Farmerboden in den Vereinigten Staaten auf 838,6 Millionen Acres, d. h. ca. 324 Millionen Desjatinen. Die Zahl der Farmen war 5,7 Millionen, sodass auf eine Farm durchschnittlich 146,2 Acres (ca. 60 Desjatinen) entfallen. Die Produktion landwirtschaftlicher Geräte für diese Farmer hatte im Jahre 1900 einen Wert von 157,7 Millionen Dollar (1890–145,3 Millionen Dollar, 1880 – 62.1 Millionen Dollar!).E Die russischen Zahlen sind im Vergleich damit lächerlich klein, sie sind es aber aus dem Grunde, weil bei uns die fronherrlichen Latifundien groß und stark sind.

Das Verhältnis der Verbreitung vervollkommneter landwirtschaftlicher Geräte bei den privaten Gutsbesitzern und bei den Bauern war Gegenstand einer besonderen Erhebung, veranstaltet vom Landwirtschaftsministerium Mitte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Eine Zusammenfassung ihrer Ergebnisse, die in der Arbeit des Herrn Kaufmann ausführlich dargelegt sind, bringen wir in der nachstehenden Tabelle:

Gebiete

Prozentsatz der Meldungen über zahlreiche Anwendung vervollkommneter landwirtschaftl. Geräte

bei Gutsbesitzern

bei Bauern

Zentrales landwirtschaftliches Gebiet

20–51

8–20

Mittlere Wolga

18–66

14

Neurussland

50–91

33–65

Weißrussland

54–86

17–41

Seengebiet

24–47

1–21

Moskauer Gebiet

22–51

10–26

Industriegebiet

4– 8

2

Der Durchschnitt aller Gebiete ergibt bei den Gutsbesitzern 42 Prozent, bei den Bauern 21 Prozent.

Was die Verwendung von Stalldünger anbetrifft, so zeigt uns die Statistik gleichermaßen unwiderleglich, „dass die Gutswirtschaft der bäuerlichen in diesem Punkte stets weit voraus war und es auch geblieben ist" (Kaufmann, S. 544). Ja noch mehr: ziemlich verbreitet war in dem Russland nach der Reform von 1861 die Erscheinung, dass die Gutsbesitzer den Bauern Dünger abkauften. Das ist bereits eine Folge äußerster Notlage der Bauern. In der letzten Zeit geht diese Erscheinung zurück.

Endlich gibt es zur Frage der landwirtschaftlichen Technik in der bäuerlichen und in der Gutswirtschaft genaues und umfangreiches statistisches Material über den Futtermittelbau (Kaufmann, S. 561). Hier eine Zusammenfassung:

Jahr

Futtermittelbau im Europäischen Russland

Bauernwirtschaften

Gutsbesitzerwirtschaften

1881

49.800 Desjatinen

491.600 Desjatinen

1901

499.000 Desjatinen

1 046.000 Desjatinen

Was ist das Resultat aller dieser Unterschiede zwischen der bäuerlichen und der gutsherrlichen Wirtschaft? Zur Beurteilung dessen besitzen wir nur die Angaben über den Ernteertrag. Im Durchschnitt für 18 Jahre (1883–1900) war der Ernteertrag im Europäischen Russland (in Tschetwert):


Roggen

Winterweizen

Sommerweizen

Hafer

In Gutswirtschaften

6

5,75

5

5

In Bauernwirtschaften

5

8,5

4,25

7

Unterschied

16,7%

13%

15%

17,6%

Herr Kaufmann hat vollkommen recht, wenn er sagt, dass der Unterschied „gar nicht groß" sei (S. 592). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, nicht nur dass den Bauern 1861 der schlechte Boden belassen wurde, sondern auch dass diese Durchschnittsberechnungen (wie wir sofort sehen werden) große Unterschiede innerhalb der Bauernschaft selbst verschleiern.

Der allgemeine Schluss, zu dem wir auf Grund der Betrachtung der Gutswirtschaft kommen müssen, ist der folgende. Unverkennbar bahnt sich der Kapitalismus auf diesem Gebiet seinen Weg. Die Wandlung vollzieht sich in der Richtung von der auf Fronarbeit zu der auf freier Lohnarbeit basierenden Wirtschaft. Der technische Fortschritt der kapitalistischen Landwirtschaft im Vergleich zu der auf Abarbeit basierenden sowie im Vergleich zur bäuerlichen Kleinwirtschaft tritt nach allen Richtungen hin deutlich zutage. Doch vollzieht sich dieser Fortschritt in einem für ein modernes kapitalistisches Land äußerst langsamen Tempo. Und so findet das Ende des 19. Jahrhunderts in Russland den schärfsten Gegensatz vor zwischen den Erfordernissen der ganzen sozialen Entwicklung und der fronherrlichen Wirtschaft, die in Gestalt der grundherrlichen Latifundien des Adels, in Gestalt des auf Abarbeit basierenden Wirtschaftssystems ein Hemmnis der Wirtschaftsentwicklung, eine Quelle der Unterdrückung, der Barbarei, der zahllosen Formen des „Tatarentums" im russischen Leben ist.

Die Bauernwirtschaft steht im Mittelpunkt der heutigen Agrarfrage in Russland. Wir haben oben gezeigt, welches die Verhältnisse des bäuerlichen Grundbesitzes sind, und müssen nunmehr seine Organisation betrachten – nicht im technischen, sondern im volkswirtschaftlichen Sinne.

An erster Stelle haben wir es hier mit der Frage der bäuerlichen Dorfgemeinde zu tun. Mit ihr befasst sich eine äußerst ausgedehnte Literatur, und die in der Richtung auf das Narodnikitum orientierte Gedankenwelt unserer Gesellschaft verbindet die Hauptpunkte ihrer Weltanschauung mit den nationalen Eigentümlichkeiten dieser „ausgleichenden" Institution. Hier muss vor allem darauf verwiesen werden, dass in der Literatur über die russische bäuerliche Dorfgemeinde zwei verschiedene Seiten der Frage ständig miteinander verflochten und auf Schritt und Tritt verwechselt werden: die agrikulturelle und die der Lebensweise einerseits, die politisch-ökonomische anderseits. In den meisten Schriften über die Dorfgemeinde (W. Orlow, Trirogow, Keußler, W. W.)9 wird der ersten Seite so viel Raum und Aufmerksamkeit gewidmet, dass die zweite dadurch vollkommen im Schatten bleibt. Indessen ist diese Methode grundfalsch. Die Eigenart der russischen Agrarverhältnisse im Vergleich zu allen anderen Ländern unterliegt keinem Zweifel, aber es sind auch keine zwei rein kapitalistische und allgemein als solche anerkannte Länder zu finden, die sich nicht in gleichem Maße durch ihre Agrarverhältnisse und deren Geschichte, durch die Formen von Grundbesitz und Bodennutzung usw. von einander unterscheiden. Was der Frage der russischen Bodengemeinschaft ihre Schärfe und Bedeutung verliehen, was seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die beiden Hauptrichtungen der Gedankenwelt unserer Gesellschaft – das Narodnikitum und die marxistische Richtung – voneinander geschieden hat, ist gar nicht die agrikulturelle und die die Lebensweise betreffende Seite der Frage. Einzelne lokale Forscher mussten ihr vielleicht große Aufmerksamkeit zuwenden, sowohl um gerade die lokalen Eigentümlichkeiten der landwirtschaftlichen Lebensweise allseitig festzustellen als auch um die von Unwissenheit diktierten, frechen Versuche der Bürokratie, eine kleinliche, von Polizeigeist durchtränkte Reglementierung durchzuführen, aufzuzeigen. Für einen Ökonomen ist es aber jedenfalls durchaus unstatthaft, durch das Studium der Abarten der Bodenumteilung, ihrer Technik und dergl. die Frage in den Hintergrund zu drängen, welche Wirtschaftstypen sich innerhalb der Dorfgemeinde herausbilden und entwickeln, wie sich die Beziehungen gestalten zwischen Wohlhabenden und Armen, zwischen denen, die Lohnarbeiter beschäftigen, und denen, die sich zu schwerer Arbeit verdingen, zwischen denen, die ihre Wirtschaft heben und technische Verbesserungen einführen, und denen, die verelenden, ihre Wirtschaft fahren lassen und aus dem Dorfe fliehen. Zweifellos veranlasste diese Erkenntnis unsere Semstwostatistiker, – die uns für das Studium der russischen Volkswirtschaft unschätzbares Material geliefert haben – Mitte der 80er Jahre, von der behördlich geübten Zusammenfassung der Bauern nach Gemeinden, nach Landanteil, nach der Zahl der registrierten oder tatsächlich vorhandenen Personen männlichen Geschlechts zu der einzig wissenschaftlichen Gruppierung, nach der Vermögenslage der Höfe, überzugehen. Wir möchten daran erinnern, dass in der Zeit, wo das Interesse für das Studium der russischen Volkswirtschaft besonders groß war, selbst ein in dieser Frage so ausgesprochener“Parteimann" wie der Schriftsteller W.W. von ganzem Herzen den „neuen Typus semstwostatistischer Publikationen" (Titel eines Aufsatzes von W. W. in „Sewerny Wjestnik", 1885, Nr. II) begrüßt und dabei folgendes erklärt hat:

Das Zahlenmaterial muss nicht für ein solches Agglomerat verschiedenartigster ökonomischer Gruppen der Bauernschaft ermittelt werden, wie sie das Dorf oder die Dorfgemeinde ist, sondern für diese Gruppen selber."

Die hervorstechendste Eigentümlichkeit unserer Dorfgemeinde, die ihr in den Augen der Narodniki besondere Bedeutung verliehen hat, ist der ausgleichende Charakter der Bodennutzung. Wir wollen die Frage ganz aus dem Spiel lassen, in welcher Weise die Dorfgemeinde dieses Ausgleichen erreicht, und wollen uns vielmehr unmittelbar den Wirtschaftstatsachen, den Resultaten dieses Ausgleichens zuwenden. Die Verteilung des gesamten Anteillandes im Europäischen Russland ist, wie wir oben mit Hilfe genauer Zahlen bewiesen haben, bei weitem keine gleichmäßige. Die Bodenverteilung unter den Bauern verschiedener Kategorien, unter den Bauern verschiedener Dörfer, selbst unter den Bauern innerhalb eines Dorfes, die verschiedenen Gutsbesitzern gehört haben, hat mit Gleichmäßigkeit ebenfalls nichts zu tun. Nur innerhalb kleiner Dorfgemeinden bedingt der Umteilungsapparat einen ausgleichenden Charakter dieser kleinen abgeschlossenen Verbände. Betrachten wir nunmehr die Angaben der Semstwostatistik über die Bodenverteilung zwischen den einzelnen Höfen. Dabei müssen wir unserer Gruppierung natürlich nicht die Größe der Familie, nicht die Zahl der Arbeitskräfte, sondern unbedingt den wirtschaftlichen Wohlstand der einzelnen Höfe (Anbaufläche, Zahl des Zugviehs, der Kühe usw.) zugrunde legen, denn das ganze Wesen der kapitalistischen Entwicklung der kleinen Landwirtschaft besteht in der Schaffung und Verstärkung der wirtschaftlichen Ungleichheit innerhalb der patriarchalischen Verbände und in der weiteren Verwandlung dieser einfachen Ungleichheit in kapitalistische Beziehungen. Wir würden daher alle Eigentümlichkeiten der neuen Wirtschaftsentwicklung verschleiern, wenn wir uns nicht die spezielle Untersuchung der Unterschiede der Wirtschaftslage innerhalb der Bauernschaft selbst zur Aufgabe machten.

Wir wollen zunächst einen typischen Kreis (die Untersuchungen der Semstwostatistik über die Bauernhöfe mit ausführlichen kombinierten Tabellen bewegen sich im Rahmen einzelner Kreise) nehmen und dann die Gründe anführen, die uns bestimmen, die uns interessierenden Schlussfolgerungen auf die Bauernschaft ganz Russlands auszudehnen. Wir entnehmen das Material der „Entwicklung des Kapitalismus", Kapitel II.

Im Kreis Krasnoufimsk, Gouv. Perm, wo es außer der Dorfgemeinde keinen anderen bäuerlichen Grundbesitz gibt, verteilt sich das Anteilland wie folgt:


Pro Hof

Personen beiderlei Geschlechts

Anteilland in Desjatinen

Ohne Bodenbestellung

3,5

9,8

Mit Bodenbestellung bis 5 Desj.

4,5

12,9

Mit Bodenbestellung von 5 bis 10 Desj.

5,4

17,4

Mit Bodenbestellung von 10 bis 20 Desj

6,7

21,3

Mit Bodenbestellung von 20 bis 50 Desj.

7,9

28,8

Mit Bodenbestellung von mehr als 50 Desj.

8,2

44,6

Insgesamt

5,5

17,4

Wir sehen, dass mit der Hebung der Wirtschaft des Hofes unbedingt regelmäßig auch die Stärke der Familie steigt. Es ist klar, dass eine zahlreiche Familie ein Faktor bäuerlichen Wohlstands ist. Das steht fest. Es fragt sich nur, welche sozialen und ökonomischen Folgen dieser Wohlstand in der gegebenen Lage der gesamten Volkswirtschaft hat. Beim Anteilland sehen wir eine, wenn auch nicht allzu große Ungleichmäßigkeit seiner Verteilung. Je wohlhabender ein Bauernhof, desto mehr Anteilland entfällt auf einen Insassen. In der untersten Gruppe sind es weniger als drei Desj. pro Kopf, in den weiteren Gruppen ungefähr 3 Desj., dann 3 Desj., ungefähr 4 Desj., 4 Desj. und endlich in der obersten Gruppe über 5 Desj. pro Kopf. Folglich bilden Stärke der Familie und Menge des Anteillandes nur für eine kleine Minderheit der Bauern die Grundlage einer günstigen Vermögenslage, denn die beiden höchsten Gruppen umfassen nur ein Zehntel der Gesamtzahl der Höfe. Hier das prozentuale Verhältnis zwischen der Zahl der Höfe, der Bevölkerungszahl und der Verteilung des Anteillandes:

Hofgruppen

Prozentsatz zur Gesamtmenge

der Höfe

der Bevölkerung beiderlei Geschlechts

des Anteillandes

Ohne Bodenbestellung

10,2

6,5

5,7

Mit Bodenbestellung bis 5 Desj.

30,3

24,8

22,6

Mit Bodenbestellung 5–10 Desj.

27,0

26,7

26,0

Mit Bodenbestellung 10–20 Desj.

22,4

27,3

28,3

Mit Bodenbestellung 20–50 Desj.

9,4

13,5

15,5

Mit Bodenbestellung über 50 Desj.

0,7

1,2

1,9

Insgesamt

100

100

100

Aus diesen Zahlen geht klar hervor, dass in der Verteilung des Anteillandes eine Proportionalität herrscht, dass das Resultat der Ausgleichstendenzen innerhalb der Dorfgemeinde von uns berücksichtigt wird. Die sich auf Bevölkerung und Anteilboden beziehenden Zahlen kommen einander in den einzelnen Gruppen ziemlich nahe. Doch auch hier beginnt bereits der Einfluss des wirtschaftlichen Wohlstands der einzelnen Höfe in Erscheinung zu treten: der Anteil der unteren Gruppen am Grund und Boden steht unter dem Bevölkerungsprozentsatz, der Anteil der oberen Gruppen steht über ihm. Diese Erscheinung ist nicht vereinzelt, tritt nicht allein in diesem Kreis zutage, sondern sie kehrt in ganz Russland wieder. In der oben erwähnten Arbeit habe ich gleichartige Zahlen für 21 Kreise aus sieben Gouvernements der verschiedensten Gegenden Russlands zusammengefasst. Sie erstrecken sich auf eine halbe Million Bauernhöfe und zeigen überall das gleiche Verhältnis. 20% wohlhabender Höfe mit 26,1 – 30,3% der Bevölkerungszahl besitzen 29,0 – 86,7% des Anteillandes; 50% armer Höfe mit 36,6–44,7% der Bevölkerungszahl besitzen 33,0 – 37,7°/0 des Anteillandes. Proportionelle Verteilung des Anteillandes ist überall anzutreffen, zugleich aber tritt überall zutage, dass die Dorfgemeinde der bäuerlichen Bourgeoisie unterliegt; die Abweichungen von der Proportionalität kommen stets den oberen Gruppen der Bauernschaft zugute.

Es wäre daher ein großer Irrtum zu glauben, wir ignorierten bei der Untersuchung der Bauernschaft nach dem Merkmal des wirtschaftlichen Wohlstandes den „ausgleichenden" Einfluss der Dorfgemeinde. Im Gegenteil, mit Hilfe genauer Zahlen stellen wir die tatsächliche wirtschaftliche Bedeutung dieser ausgleichenden Wirkung in Rechnung, zeigen gerade, wie weit sie reicht, welche Folgen letzten Endes das System der Neuaufteilungen hat. Mag es die bestmögliche Verteilung des Bodens verschiedener Qualität sowie der Wiesen, Weiden, Wälder usw. mit sich bringen, aber die Tatsache ist unbestreitbar, dass auch in der Verteilung des Anteillandes das Übergewicht der wohlhabenden Bauerngruppen über die ärmeren zutage tritt. Die Verteilung des übrigen Bodens, also des Nicht-Anteillandes, ist. wie wir aus dem Nachstehenden ersehen werden, noch viel, viel ungleichmäßiger.

Die Bedeutung der Pacht in der bäuerlichen Wirtschaft ist bekannt. Die Bodennot ruft auf dieser Grundlage außerordentlich mannigfache Formen der Schuldknechtschaft ins Leben. Wie bereits gesagt, ist die bäuerliche Bodenpacht auf Schritt und Tritt im Grunde nichts anderes als eine Form des Abarbeitssystems der gutsherrlichen Wirtschaft, eine Form der Fron, mit deren Hilfe sich der Grundbesitzer Arbeitskräfte sichert. Somit unterliegt der fronherrliche Charakter unserer Bauernpacht keinem Zweifel. Wenn wir aber schon einmal die kapitalistische Entwicklung eines Landes vor uns haben, so müssen wir speziell untersuchen, ob und wie in der bäuerlichen Pacht bürgerliche Beziehungen zutage treten. Zu diesem Zweck bedarf es wiederum Materials über die verschiedenen Wirtschaftsgruppen innerhalb der Bauernschaft, nicht aber über ganze Dörfer und Gemeinden. So z. B. musste Karyschew in den „Ergebnissen der Semstwostatistik" zugeben, dass Naturalpacht (d. h. diejenige Form der Pacht, bei der der Pachtzins nicht in Geld, sondern in einem bestimmten Teil des Produkts oder in Arbeit entrichtet wird) in der Regel überall teurer ist als Geldpacht, und zwar bedeutend teurer, manchmal sogar doppelt so teuer; dass ferner die Naturalpacht unter den ärmsten Bauerngruppen die größte Verbreitung hat. Jeder einigermaßen wohlhabende Bauer ist bestrebt, Boden gegen Geld zu pachten.

Der Pächter nimmt jede Gelegenheit wahr, um die Pachtsumme in Geld zu erlegen und auf diese Weise die Nutzung fremden Rodens für sich zu verbilligen" (Karyschew im erwähnten Werk, S. 265).10

Folglich ist es gerade die arme Bauernschaft, auf der die fronherrlichen Eigentümlichkeiten unserer Pacht mit ihrer ganzen Schwere lasten. Wohlhabende Bauern sind bestrebt, sich vom mittelalterlichen Joch zu befreien, und dies gelingt ihnen nur in dem Maße, wie sie über genügende Geldmittel verfügen. Wer Geld hat, kann gegen bar, zu den üblichen Marktpreisen Boden pachten. Wer keins hat, begibt sich in Schuldknechtschaft, zahlt einen sehr hohen Pachtzins, sei es in Form von Abarbeit, sei es in Naturalform. Wir sahen bereits, um wie viel die Entlohnung bei dem Abarbeitssystem niedriger ist als bei freier Lohnarbeit. Sind aber die Pachtbedingungen für Bauern verschiedener Vermögenslage verschieden, so ist es klar, dass wir uns nicht auf die Gruppierung der Bauern nach Anteilland beschränken können (wie Karyschew es stets tut), denn diese Art von Gruppierung vereinigt künstlich Höfe von verschiedener Vermögenslage, wirft Landproletariat und bäuerliche Bourgeoisie durcheinander.

Betrachten wir als Illustration des Gesagten die Statistik für den Kreis Kamyschin, Gouvernement Saratow, wo es fast nur Gemeinschaftsbesitz an Boden gibt (von 2455 Landgemeinden dieses Gouvernements haben 2436 Gemeinschaftsbodenbesitz). Das Verhältnis zwischen den verschiedenen Höfegruppen in Bezug auf die Bodenpachtung ist hier das folgende:

Gruppen der Hofwirte

% der Höfe

Boden pro Hof (in Desjatinen)

Anteilacker

Pachtland

Mit mehr als 4 Stück Arbeitsvieh

21,1

16,1

16,6

Mit 4 Stück Arbeitsvieh

8,3

12,5

7,4

Mit 3 Stück Arbeitsvieh

9,3

10,1

5,6

Mit 2 Stück Arbeitsvieh

14,6

8,5

3,5

Mit 1 Stück Arbeitsvieh

20,3

6,5

1,6

Ohne Arbeitsvieh

26,4

5,4

0.3

Im Ganzen

100

9,3

5,4

Die Verteilung des Anteillandes ist uns schon bekannt: die wohlhabenden Höfe haben pro Kopf ihrer Angehörigen mehr Anteilland als die armen. Die Verteilung des Pachtlandes ist aber dutzende Mal ungleichmäßiger. Die oberste Gruppe hat dreimal mehr Anteilland (16,1 gegen 5,4), aber fünfzig mal mehr Pachtland als die unterste (16,6 gegen 0,3). Die Unterschiede in der Vermögenslage der Bauern werden folglich durch die Pacht nicht ausgeglichen, sondern, im Gegenteil, um ein Vielfaches verstärkt, verschärft. Der entgegengesetzte Schluss, den wir bei Narodniki-Ökonomen wiederholt finden (so bei W. W., Nik-on, Maress, Karyschew, Wichljajew u. a. m.), hat seinen Ursprung in den folgenden Fehlern. Man gruppiert meist die Bauern nach der Größe ihres Anteillandes und zeigt, dass die Bauern mit geringem Landanteil mehr pachten als die mit größerem Landanteil. Man geht aber nicht weiter und zeigt nicht, dass es vorwiegend die wohlhabenden Höfe der Gemeinden mit wenig Anteilland sind, die Boden pachten, und dass daher die scheinbare Gleichheit der Bodenverteilung zwischen den Gemeinden nur ihre größte Ungleichheit innerhalb der Gemeinden selber verschleiert. Karyschew gibt z. B. selber zu, dass „die größeren Bodenpachtungen a) auf die landärmeren Kategorien, aber b) innerhalb dieser Kategorien auf die höheren Gruppen entfallen" (Seite 139 des genannten Werks). Trotzdem aber unternimmt er keine systematische Untersuchung der Verteilung der Bodenpacht nach Gruppen.

Um diesen Fehler der Narodniki-Ökonomen deutlicher in Erscheinung treten zu lassen, führen wir ein weiteres Beispiel an – Herrn Maress (im Buch „Einfluss der Ernte und der Getreidepreise", Bd. I, S. 34). Aus der Statistik für den Kreis. Melitopol folgert er „ungefähr gleichmäßige Verteilung der Pacht pro Kopf der Bauernschaft". Wie kommt er zu diesem Schluss? In der folgenden Weise: Wenn man die Höfe nach der Zahl der männlichen Arbeitskräfte gruppiert, so stellt es sich heraus, dass die Höfe ohne Arbeitskräfte „durchschnittlich" 1.6 Desjatinen pro pachtenden Hof pachten, Höfe mit einer Arbeitskraft 4,4 Desjatinen, Höfe mit zwei Arbeitskräften 8,3 Desjatinen Höfe mit drei Arbeitskräften 14,0 Desjatinen. Des Pudels Kern aber ist, dass diese „Durchschnitte" Höfe verschiedenster Vermögenslage in sich schließen, dass z. B. unter den Höfen mit einer Arbeitskraft solche sind, die vier Desjatinen pachten, 5 –10 Desjatinen bestellen und zwei bis drei Stück Vieh haben – neben solchen, die 38 Desjatinen pachten, über 50 Desjatinen bestellen und vier oder mehr Stück Vieh halten. Somit ist die von Herrn Maress ermittelte Gleichmäßigkeit nur eine Fiktion. In Wirklichkeit sind im Kreis Melitopol in den Händen der 20 Prozent ausmachenden reichsten Bauernhöfe, trotzdem sie sowohl mit Anteil als auch mit Kaufland am reichlichsten versorgt sind, 66,3 Prozent, d. h. zwei Drittel des gesamten Pachtlandes konzentriert, während auf die ärmsten Höfe, auf die Hälfte der Gesamtzahl, nur 5,6 Prozent des Pachtlandes entfallen.

Weiter. Wenn wir einerseits sehen, dass Höfe ohne Pferd oder mit nur einem Pferd eine Desjatine oder gar Bruchteile einer Desjatine, Höfe mit vier und mehr Pferden dagegen 7–16 Desjatinen pachten, so ist es klar, dass hier die Quantität in die Qualität umschlägt. Im ersten Fall ist es Pacht aus Not, eine den Pächter verknechtende Pacht. Ein „Pächter" in solchen Verhältnissen wird unvermeidlich zum Gegenstand der Ausbeutung durch Abarbeit, Winterverdingung, Gelddarlehen usw. Umgekehrt: ein Hof, der 12–16 Desjatinen Anteilland hat und darüber hinaus 7–16 Desjatinen pachtet, tut es offensichtlich nicht aus Not, sondern getrieben von seinem Reichtum, nicht um sich durchzuschlagen, sondern zur Bereicherung, um zu „verdienen". Wir sehen hier sinnfällig die Verwandlung der Pacht in kapitalistisches Farmertum, die Entstehung des Unternehmertums in der Landwirtschaft. Solche Höfe können, wie wir noch sehen werden, nicht umhin, Lohnarbeiter zu beschäftigen.

Es fragt sich nunmehr: inwiefern ist diese Pacht von offenkundigem Unternehmercharakter eine allgemeine Erscheinung? In unseren weiteren Ausführungen werden wir zeigen, dass in den verschiedenen Rayons der zu Handelszwecken betriebenen Landwirtschaft die Entwicklung der Unternehmerwirtschaft verschiedene Formen annimmt. Hier aber wollen wir noch einige Beispiele anführen und allgemeine Schlüsse in Bezug auf die Pacht ziehen.

Im Dnjeprkreis des Gouvernements Taurien bilden die Höfe mit einer Anbaufläche von 25 und mehr Desjatinen 18.2 Prozent der Gesamtzahl. Sie haben 16–17 Desjatinen Anteilland pro Hof und pachten je 17–44 Desjatinen. Im Kreis Nowousensk, Gouvernement Samara, bilden die Höfe mit fünf Stück Arbeitsvieh und mehr 24,7 Prozent der Gesamtzahl. Sie bestellen 25–53–149 Desjatinen pro Hof und pachten je 14–54–342 Desjatinen Nichtanteilland pro Hof (die erste Zahl bezieht sich auf eine Hofgruppe mit 5–10 Stück Arbeitsvieh, d. h. 17,1 Prozent der Höfe; die zweite hat 10–20 Stück Vieh und bildet 5,8 Prozent der Höfe; die dritte mit 20 Stück Vieh und mehr bildet 1,8 Prozent der Höfe). Sie pachten in anderen Gemeinden je 12–29–67 Desjatinen Anteilland und in ihrer eigenen je 9–21–74 Desjatinen. Im Kreise Krasnoufimsk, Gouvernement Perm, bestellen 10,1 Prozent der Höfe je 20 Desjatinen und mehr, Sie haben 28–44 Desjatinen Anteilland pro Hof und pachten je 14–40 Desjatinen Ackerland sowie 118–261 Desjatinen Wiesenland. In zwei Kreisen des Gouvernements Orel (Jelez und Trubtschewsk) bilden Höfe mit vier Pferden und darüber 7,2 Prozent der Gesamtzahl. Sie haben je 15,2 Desjatinen Anteilland, aber durch Kaufland und Pacht bringen sie ihre Bodennutzung auf 28,4 Desjatinen. Im Kreis Sadonsk, Gouvernement Woronesch, sind die entsprechenden Zahlen folgende: 3,2 Prozent der Höfe mit je 17,1 Desjatinen Anteilland und je 33.2 Desjatinen Gesamtbodennutzung., In drei Kreisen des Gouvernements Nischni-Nowgorod (Knjaginin. Makarjew und Wassilj) haben 9.5 Prozent der Höfe je drei Pferde und darüber; sie haben je 13–16 Desjatinen Anteilland pro Kopf und eine Bodennutzung von 21 – 34 Desjatinen.

Hieraus erhellt, dass die Pacht als Unternehmertum in der Bauernschaft keineswegs eine vereinzelte und zufällige, sondern eine allgemeine und allerorts verbreitete Erscheinung ist. Überall gibt es in der Gemeinde eine unbedeutende Minderheit wohlhabender Höfe, die mit Hilfe der Unternehmerpacht kapitalistische Landwirtschaft betreiben. Daher lässt sich in den Fragen unserer Bauernwirtschaft mit allgemeinen Phrasen über Pacht zur Lebensfristung und Pacht als Unternehmertum nichts ausrichten: man muss das konkrete Material über die Entwicklung fronherrlicher Züge, über die Entstehung kapitalistischer Beziehungen auf dem Gebiet der Pacht untersuchen.

Wir haben im Vorstehenden Zahlen darüber gebracht, weicher Teil der Bevölkerung und des Anteillandes in den 20 Prozent der Gesamtzahl ausmachenden wohlhabendsten Höfen konzentriert ist. Wir können jetzt ergänzend hinzufügen, dass in ihren Händen 50,8–83,7 Prozent des ganzen von der Bauernschaft gepachteten Bodens konzentriert sind, so dass den 50 Prozent der Gesamtzahl ausmachenden Höfen der unteren Kategorien nur 5–16 Prozent des gesamten gepachteten Bodens bleiben. Was daraus folgt, ist klar: wenn man uns fragt, welche Art von Pacht in Russland vorherrscht, Pacht zur Lebensfristung oder Unternehmerpacht, Pacht aus Not oder Bodenpachtung durch wohlhabende Bauern, fronherrliche Pacht (gegründet auf Abarbeit, verknechtende Pacht) oder bürgerliche, so kann es darauf nur eine Antwort geben. Soweit die Zahl der pachtenden Höfe in Betracht kommt, pachten die meisten Pächter zweifellos aus Not. Für die weitaus größte Mehrzahl der Bauern bringt die Pacht Knechtung mit sich. Von der Menge des gepachteten Bodens ist zweifellos mindestens die Hälfte in den Händen der wohlhabenden Bauernschaft, der ländlichen Bourgeoisie, die eine kapitalistische Landwirtschaft betreibt.

Die Pachtpreise werden meist nur im „Durchschnitt" für alle Pächter und für den ganzen Boden angegeben. In welchem Grade diese durchschnittlichen Angaben das maßlose Elend und die Unterdrückung der Bauern in ein günstigeres Licht stellen, ersieht man aus der Semstwostatistik für den Dnjeprkreis des Gouvernements Taurien, wo als glückliche Ausnahme die Pachtpreise für verschiedene Bauerngruppen angegeben sind:


Prozentsatz der pachtenden Höfe

Desj. Ackerl. pro pachtenden Hof

Pachtpreis pro Desj. in Rubel

Anbaufläche bis 5 Desj

25

2,4

15,25

Anbaufläche 5–10 Desj

42

3,9

12,00

Anbaufläche 10–25 Desj

69

8,5

4,75

Anbaufläche 25–50 Desj

88

20,0

3,75

Anbaufläche über 50 Desj

91

48,6

3,55

Im Durchschnitt

56,2

12,4

4,23

Der „durchschnittliche" Pachtpreis von 4,23 Rubel pro Desjatine entstellt demnach direkt die wirkliche Lage der Dinge und löscht jene Unterschiede aus, die den Kern der Sache ausmachen. Die armen Bauern sind genötigt, zu horrenden Preisen zu pachten, die mehr als das Dreifache der durchschnittlichen Pachtpreise betragen. Die Reichen kaufen den Boden „en gros" zu vorteilhaften Bedingungen und verpachten ihn natürlich bei passender Gelegenheit an den bedürftigen Nachbar mit einem Gewinn von 275 Prozent. Es gibt eben Pacht und Pacht. Es gibt fronherrliche Pacht, es gibt irländische Pacht11, und es gibt Handel mit Boden, kapitalistisches Farmertum.

Eine solche Erscheinung, wie die Verpachtung von Anteilland durch die Bauern, zeigt noch anschaulicher die kapitalistischen Beziehungen innerhalb der Dorfgemeinde, die Verelendung der armen Bauern und die Bereicherung der Minderheit auf Kosten der dem Ruin verfallenden Mehrheit. Pachtung und Verpachtung von Boden sind Erscheinungen, die mit der Dorfgemeinde und ihrem Ausgleichscharakter in keinerlei Zusammenhang stehen. Was für eine Bedeutung kommt im praktischen Leben dieser ausgleichenden Verteilung des Anteillandes zu, wenn die armen Bauern genötigt sind, den ihnen „ausgleichend" zugeteilten Boden an reiche Bauern zu verpachten? Lässt sich überhaupt eine anschaulichere Widerlegung der „gemeindefreundlichen" Auffassungen denken als diese Tatsache der Umgehung der offiziellen, registermäßigen, bürokratischen ausgleichenden Verteilung des Anteillandes? Die Verpachtung des Anteillandes durch die armen Bauern und die Konzentration der Pacht in den Händen der Reichen beweist aufs Anschaulichste die Ohnmacht einer jeden Ausgleichung gegenüber dem sich entwickelnden Kapitalismus.

Wie stark ist diese Erscheinung – die Verpachtung von Anteilland – verbreitet? Nach den jetzt bereits veralteten semstwostatistischen Daten der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts, auf die wir uns vorläufig beschränken müssen, scheinen die Zahl der verpachtenden Höfe und der Prozentsatz des verpachteten Anteillandes nicht hoch zu sein. Im Dnjeprkreis des Gouvernements Taurien z. B. verpachten 25,7 Prozent der Bauern Anteilland. insgesamt 14,9 Prozent des Anteillandes. Im Kreis Nowousensk, Gouvernement Samara, verpachten 12 Prozent der Höfe Land. Im Kreis Kamyschin, Gouvernement Saratow, beträgt der verpachtete Boden 16 Prozent. Im Kreis Krasnoufimsk, Gouvernement Perm, wird Anteilacker von 8 500 Bauern verpachtet, d. h. von mehr als einem Drittel der Gesamtzahl (23 500). Von den insgesamt vorhandenen 410.000 Desjatinen Anteilland werten 50 500 Desjatinen verpachtet, d. h. ca. 12 Prozent. Im Kreis Sadonsk, Gouvernement Woronesch, werden von insgesamt 136.500 Desjatinen Anteilland 6.500 Desjatinen verpachtet, d. h. weniger als 5 Prozent. In drei Kreisen des Gouvernements Nischni-Nowgorod 19.000 Desjatinen von 433.000, ebenfalls unter 5 Prozent. Aber alle diese Zahlen sind nur scheinbar niedrig, da ein derartiges prozentuales Verhältnis die stillschweigende Annahme enthält, der Boden werde von Bauern aller Gruppen mehr oder weniger gleichmäßig verpachtet. Diese Annahme steht aber in striktem Gegensatz zum wahren Sachverhalt. Weit wichtiger als die absoluten Zahlen der Pachtung und Verpachtung, als die durchschnittlichen Prozentsätze des verpachteten Bodens oder der verpachtenden Bauern ist die Tatsache, dass es vornehmlich die armen Bauern sind, die den Boden verpachten, und die wohlhabenden, die den größten Teil des Bodens pachten. In diesem Punkte lässt die Semstwostatistik nicht den geringsten Zweifel übrig. Auf 20 Prozent der Höfe, auf die reichsten, entfallen 0,3 bis 12,5 Prozent des gesamten verpachteten Bodens. Umgekehrt, auf 50 Prozent der Höfe, auf die unteren Gruppen, entfallen 63,3 bis 98 Prozent desselben, und dieser von den armen Bauern verpachtete Boden wird natürlich von den wohlhabenden gepachtet. Hier ist es wiederum klar, dass in verschiedenen Bauerngruppen die Boden Verpachtung verschiedene Bedeutung hat: die armen Bauern verpachten ihren Boden aus Not, weil sie keine Möglichkeit haben, ihn zu bestellen, kein Saatgut, kein Vieh, kein Inventar besitzen und in schlimmster Geldnot sind. Die reichen Bauern verpachten wenig; entweder tauschen sie im Interesse ihrer Wirtschaft ein Stück Land gegen ein anderes ein, oder sie treiben direkten Handel mit Boden.

Hier konkrete Zahlen für den Dnjeprkreis, Gouvernement Taurien:


Bauern, die Anteilland verpachten

Verpachtetes Anteilland

Ohne Anbaufläche

80%

97,1%

Anbaufläche bis 5 Desj.

30%

38,4%

Anbaufläche 5–10 Desj.

23%

17,2%

Anbaufläche 10–25 Desj.

16%

8,1%

Anbaufläche 25–50 Desj.

7%

2,9%

Anbaufläche über 50 Desj.

7%

13,8%

Im Durchschnitt

25,7%

14,9%

Geht etwa aus diesen Zahlen nicht klar hervor, dass Nichtbestellung des Bodens und weitestgehende Proletarisierung hier mit dem Bodenhandel eines kleinen Häufleins Reicher Hand in Hand gehen? Ist es etwa nicht bezeichnend, dass der Prozentsatz des verpachteten Anteillandes gerade bei Bauern mit großer Anbaufläche steigt, die je 17 Desjatinen Anteilland, 30 Desjatinen Kaufland und 44 Desjatinen Pachtland pro Hof haben? Im Großen und Ganzen pachten die armen Bauern des Dnjeprkreises. d. h. 40 Prozent der Höfe mit insgesamt 56.000 Desjatinen Anteilland, 8000 Desjatinen, verpachten aber 21 500. Die wohlhabende Gruppe aber, die 18,4 Prozent der Höfe zählt und 62.000 Desjatinen Anteilland hat, verpachtet 3000 Desjatinen und pachtet 82.000 Desjatinen Anteilland. In drei Kreisen des Gouvernements Taurien pachtet diese wohlhabende Gruppe 150.000 Desjatinen, d. h. drei Fünftel des ganzen verpachteten Anteillandes! Im Kreis Nowousensk, Gouvernement Samara, verpachten 47 Prozent der Höfe, die pferdelosen, und 13 Prozent der Höfe, die mit nur einem Pferd, ihr Anteilland, während die Besitzer von 10 und mehr Stück Arbeitsvieh, d. h. nur 7,6 Prozent der Gesamtzahl der Höfe, je 20–30–60–70 Desjatinen Anteilland pachten!

Über das Kaufland ist fast das gleiche zu sagen wie über die Pacht. Der Unterschied ist nur der, dass die Pacht Züge der Fronwirtschaft aufweist, dass die Pacht unter bestimmten Verhältnissen auf Abarbeit fußt und Knechtung des Pächters mit sich bringt, d. h. ein Mittel ist, für die gutsherrliche Wirtschaft Arbeitskräfte aus der benachbarten verarmten Bauernschaft heranzuziehen. Dagegen ist der Erwerb von Grundbesitz durch Anteilbauern eine rein bürgerliche Erscheinung. In Westeuropa werden Landarbeiter und Tagelöhner manchmal an den Boden gefesselt, indem man ihnen kleine Parzellen verkauft. Bei uns in Russland wurde ein ähnliches Unternehmen schon längst von Staats wegen in Gestalt der „großen Reform" von 1861 durchgeführt, und heute ist der Bodenerwerb der Bauern ausschließlich der Ausdruck der Entstehung einer ländlichen Bourgeoisie aus der Mitte der Dorfgemeinde. Darüber, wie sich nach 1861 der Bodenerwerb der Bauern entwickelt hat, haben wir bei der Erörterung der Grundbesitzstatistik bereits gesprochen. Hier müssen wir auf die gewaltige Konzentration des Kauflandes in den Händen einer Minderheit verweisen. 20 Prozent der Bauernhöfe, die wohlhabenden unter ihnen, konzentrieren in ihren Händen 59,7 bis 19 Prozent des ganzen Kauflandes; die ärmsten Bauernhöfe, 50 Prozent, haben 0,4 Prozent bis 15,4 Prozent des ganzen von Bauern käuflich erworbenen Bodens. Wir können daher getrost behaupten, dass von den 7,5 Millionen Desjatinen Boden, der von 1877 bis 1905 (siehe oben) von Bauern käuflich erworben worden ist, zwei Drittel bis drei Viertel das Eigentum der verschwindend kleinen Anzahl der wohlhabenden Höfe sind. Das gleiche gilt natürlich auch für den Bodenerwerb durch Landgemeinden und Bauerngenossenschaften. Im Jahre 1877 besaßen Landgemeinden 765.000 Desjatinen käuflich erworbenen Landes, im Jahre 1905 bereits 3,7 Millionen Desjatinen; die Bauerngenossenschaften aber besaßen 1905 bereits 7,6 Millionen Desjatinen als Privateigentum. Es wäre jedoch falsch zu glauben, der von den Landgemeinden erworbene oder gepachtete Boden verteile sich anders als bei individuellem Erwerb oder individueller Pacht. Die Tatsachen zeugen vom Gegenteil. So z. B. wurde für die drei Festlandkreise des Gouvernements Taurien Material gesammelt über die Verteilung des von Landgemeinden vom Staat gepachteten Bodens, und es stellte sich dabei heraus, dass 76 Prozent des gepachteten Bodens in den Händen der wohlhabenden Gruppe (ca. 20 Prozent der Höfe), aber nur 4 Prozent in den Händen der 40 Prozent armer Höfe sind. Die Bauern teilen den gepachteten oder erworbenen Boden nicht anders als „nach dem Gelde".

IV

Die Gesamtheit des oben angeführten Materials über Anteilland, Kaufland sowie gepachtetes und verpachtetes Land führt zu dem Schlusse, dass die tatsächliche Bodennutzung der Bauernschaft mit jedem Tage immer weniger dem offiziellen, behördlich registrierten Anteillandbesitz entspricht. Natürlich, wenn man Gesamtzahlen oder „Durchschnittsgrößen" nimmt, so wird die Verpachtung von Anteilland durch Pachtung wettgemacht, die übrige Pacht und das Kaufland verteilen sich gleichsam gleichmäßig auf die ganze Masse der Bauernhöfe, und es entsteht der Eindruck, die tatsächliche Bodennutzung des Bauern unterscheide sich nicht wesentlich von der offiziellen, d. h. vom Anteillandbesitz. Doch dieser Eindruck wird eine Fiktion sein, denn der Unterschied zwischen der tatsächlichen Bodennutzung der Bauern und dem ursprünglichen ausgleichenden Anteillandbesitz ist gerade in den äußersten Gruppen am größten, so dass bei Benutzung der „Durchschnittsgrößen" die wahre Sachlage unvermeidlich entstellt wird.

In Wirklichkeit erweist sich die Bodennutzung der unteren Bauerngruppen relativ – manchmal auch absolut – geringer als der Anteillandbesitz (Bodenverpachtung, verschwindend geringe Bodenpachtung); für die obere Gruppe aber erweist sich die ganze Bodennutzung infolge der Konzentration von Kauf- und Pachtland immer sowohl relativ als auch absolut höher als der Anteillandbesitz. 50 Prozent der Höfe, die untersten Kategorien, haben, wie wir gesehen, 33–37 Prozent des Anteillandes; ihre tatsächliche Bodennutzung beträgt aber nur 18,6–31,9 Prozent der Gesamtmenge. In manchen Fällen beträgt sie kaum die Hälfte des Anteilland-Prozentsatzes: so entfallen im Kreis Krasnoufimsk, Gouvernement Perm, auf diese Gruppen 37,4 Prozent des Anteillandes und 19,2 Prozent der Bodennutzung. 20 Prozent der Höfe, die wohlhabenden Bauern, haben 29–36 Prozent des Anteillandes, aber 34–49 Prozent der tatsächlichen Bodennutzung. Hier einige konkrete Zahlen zur Veranschaulichung dieser Verhältnisse. Im Dnjeprkreis, Gouvernement Taurien, haben 40 Prozent der Bauernhöfe, die ärmsten, 56.000 Desjatinen Anteilland, ihre ganze Bodennutzung beläuft sich jedoch nur auf 45.000 Desjatinen, das sind 11.000 Desjatinen weniger. Die wohlhabende Gruppe (18 Prozent der Höfe) besitzt 62.000 Desjatinen Anteilland, ihre ganze Bodennutzung beträgt aber 167.000 Desjatinen, d. h. um 105.000 mehr. Hier Zahlen über drei Kreise des Gouvernement Nischni-Nowgorod:

Auf einen Hof entfällt

Anteilland

gesamte Bodennutzung

Wirtschaften ohne Pferde

5,1 Desj.

4,4 Desj.

Mit 1 Pferd

8,1 Desj.

9,4 Desj.

Mit 2 Pferden

10,5 Desj.

13,8 Desj.

Mit 3 Pferden

13,2 Desj.

21,0 Desj.

Mit 4 Pferden und darüber

16,4 Desj.

34,6 Desj.

Im Durchschnitt

8,3 Desj.

10,3 Desj.

Auch hier sehen wir in der untersten Gruppe infolge Pachtung und Verpachtung einen absoluten Rückgang der Bodennutzung. Diese untere Gruppe, die pferdelosen Bauern, bildet aber die 30 Prozent der Höfe. Nahezu ein Drittel der Höfe vertiert absolut infolge Pachtung und Verpachtung. Die Bauern mit einem Pferd (37 Prozent der Höfe) haben ihre Bodennutzung vergrößert, aber in äußerst geringem Maße, verhältnismäßig weniger, als die durchschnittliche Vergrößerung der bäuerlichen Bodennutzung beträgt (von 8,3 auf 10,3 Desj.). Daher ist der Anteil dieser Gruppe an der allgemeinen Bodennutzung zurückgegangen; sie hatte in allen drei Kreisen 36,6 Prozent des Anteillandes, hatte aber nur 34,1 Prozent der gesamten Bodennutzung. Umgekehrt, die kleine Minderheit der oberen Gruppen erhöhte ihre Bodennutzung weit über den Durchschnitt hinaus. Die Höfe mit 3 Pferden (7,3 Prozent der Gesamtzahl) erhöhten sie aufs Anderthalbfache: von 13 Desjatinen auf 21 Desjatinen. Die Höfe mit 4 Pferden und darüber (2,3 Prozent der Höfe) auf mehr als das Doppelte: von 16 Desjatinen auf 35 Desjatinen.

Wir sehen also ein Sinken der Rolle des Anteillandes in der Bauernwirtschaft als allgemeine Erscheinung. An den beiden Polen des Dorfes vollzieht sich dieses Sinken auf verschiedenen Wegen. Bei den armen Bauern sinkt die Rolle des Anteillandes, weil wachsende Not und Ruin sie zwingen, den Boden zu verpachten, ihn unbestellt zu lassen, infolge Mangel an Vieh, an Inventar, an Saatgut, an Geldmitteln die Landwirtschaft einzuschränken und zu irgendeiner Lohnarbeit überzugehen oder aber ins ... bessere Jenseits zu übersiedeln. Die unteren Bauerngruppen sterben aus: Hunger, Skorbut, Typhus tun das ihre dazu. In den oberen Bauerngruppen sinkt die Bedeutung des Anteillandes, weil die sich erweiternde Wirtschaft genötigt ist, weit über seine Grenzen hinauszugehen, auf einem neuen Grundbesitz zu fußen, der nicht auf Dienstpflicht aufgebaut, sondern frei, nicht erblicher Familienbesitz, sondern ein auf dem Markt erworbener ist, d. h. aus Kauf und Pacht stammt. Je reicher die Bauernschaft an Boden ist, je schwächer die Spuren der Leibeigenschaft, je rascher die wirtschaftliche Entwicklung, desto rascher auch diese Befreiung vom Anteilland, die Hineinziehung des ganzen Bodens in den Handelsumsatz, der Aufbau einer kommerziellen Landwirtschaft auf gepachteten! Boden. Beispiel: Neurussland. Wir sahen eben, wie dort die wohlhabende Bauernschaft mehr auf Kauf- und Pachtland wirtschaftet als auf Anteilland. Das scheint ein Paradoxon zu sein, ist aber Tatsache: in der bodenreichsten Gegend Russlands verlegt die mit Anteilland bestversorgte Bauernschaft (16– 17 Desjatinen pro Hof) den Schwerpunkt ihrer Landwirtschaft vom Anteilland auf gepachtetes und gekauftes Land!

Das Sinken der Rolle des Anteillandes an den beiden rasch anwachsenden Polen der Bauernschaft ist unter anderem von größter Bedeutung für die Beurteilung der Bedingungen jener Agrarumwälzung, die das 19. Jahrhundert dem 20. als Erbe hinterlassen und die in unserer Revolution den Klassenkampf hervorgerufen hat. Diese Tatsache zeigt anschaulich, dass die Zerschlagung des alten Grundbesitzes, des grundherrlichen wie des bäuerlichen, zur unbedingten wirtschaftlichen Notwendigkeit geworden ist. Diese Zerschlagung ist absolut unvermeidlich, und keine Macht auf Erden ist imstande, sie zu verhindern. Der Kampf geht um ihre Form, um ihre Methoden: soll sie auf Stolypinsche Art durchgeführt werden, mit Erhaltung des gutsherrlichen Grundbesitzes und mit Ausplünderung der Dorfgemeinde durch die Kulaken, oder auf Bauernart, mit Vernichtung des gutsherrlichen Grundbesitzes, mit Niederreißung aller mittelalterlichen Schranken, die der Boden aufweist, durch seine Nationalisierung? Doch darauf werden wir noch ausführlich zurückkommen. Hier möchten wir nur auf jenen wichtigen Umstand verweisen, dass das Sinken der Rolle des Anteillandes zu einer äußerst ungleichmäßigen Verteilung der Steuern und Dienstleistungen führt.

Bekanntlich tragen die Steuern und Leistungen der russischen Bauern noch überaus starke Spuren des Mittelalters. Wir können auf Einzelheiten nicht eingehen; die gehören in die Finanzgeschichte Russlands. Es genügt, auf die Ablösungsgelder, diese direkte Fortsetzung des mittelalterlichen Leibzinses, diesen mit Hilfe des Polizeistaates eingetriebenen Tribut an die feudalen Grundbesitzer, auf die ungleichmäßige Besteuerung des Grundbesitzes des Adels und der Bauern, auf die Naturalleistungen usw. hinzuweisen. Wir führen nachstehend nur die summarische Größe der Steuern und Leistungen an, laut dem Material der bäuerlichen Haushaltsstatistik aus dem Gouvernement Woronesch.12 Die durchschnittliche Bruttoeinnahme einer Bauernfamilie (berechnet nach 66 typischen Haushaltungen) beläuft sich auf 491,44 Rubel, die Bruttoausgaben auf 443 Rubel. Das Reineinkommen beträgt somit 48,44 Rubel. Auf einen „durchschnittlichen“ Hof entfallen aber 34,35 Rubel an Steuern und Leistungen, sie bilden somit 70 Prozent der Reineinnahmen. Es sind natürlich nur der Form nach Steuern, in Wirklichkeit aber ist es die alte fronherrliche Ausbeutung des „dienstpflichtigen Standes".13 Das reine Geldeinkommen einer durchschnittlichen Bauernfamilie beläuft sich auf nur 17,83 Rubel, d. h.die vom russischen Bauern zu hastenden „Steuern" übersteigen doppelt sein reines Geldeinkommen – nach einem Material von 1899 nicht von 1849!

Doch die Durchschnittszahlen rücken auch hier die Notlage der Bauernschaft in ein günstigeres Licht und lassen sie viel besser erscheinen, als sie in Wirklichkeit ist. Die Angaben über die Verteilung der Steuern und Leistungen unter die Bauerngruppen verschiedener Vermögenslage zeigen, dass bei Bauern ohne oder nur mit einem Pferd (d. h. bei drei nfteln der Gesamtzahl der Bauernfamilien in Russland) die Steuern und Leistungen nichts nur das reine Geldeinkommen, sondern auch das reine Bruttoeinkommen um ein Vielfaches übersteigen. Hier diese Angaben.


Budgetdaten (pro Wirtschaft in Rubel)

dasselbe in % zu den Aus­gaben

Bruttoeinkommen

Ausgaben

Steuern u. Leistungen

a) Wirtsch. ohne Pferd

118,10

109,03

15,47

14,19

b) Wirtsch. mit 1 Pferd

178,12

174,26

17,77

10,20

c) Wirtsch. mit 2 Pferden

429,72

379,17

32,02

8,41

d) Wirtsch. mit 3 Pferden

752,19

632,86

49,55

7,83

e) Wirtsch. mit 4 Pferden

978,66

937,30

67,90

7,23

f) Wirtsch. mit 5 und mehr Pferden

1 766,79

1 593,77

86,34

5,42

Im Durchschnitt

491,44

443

34,35

7,75

Bei den Bauern ohne Pferd oder mit einem Pferd machen die Steuern den siebenten bzw. den zehnten Teil ihrer Gesamtausgaben aus.Der fronherrliche Leibzins war kaum so hoch – für den Gutsbesitzer wäre die unvermeidliche Ruinierung der Masse der ihm zu eigen gehörenden Bauern nicht von Vorteil gewesen. Die Ungleichmäßigkeit der Besteuerung stellt sich aber als außerordentlich groß heraus: die Wohlhabenden zahlen im Verhältnis zu ihren Einnahmen zweimal oder dreimal weniger als die anderen. Woher kommt diese Ungleichmäßigkeit? Daher, dass die Bauern die Hauptmasse der Steuern entsprechend dem Boden aufteilen. Steueranteil und Landanteil verschmelzen in der Vorstellung des Bauern zu einem Begriff – zu dem der „Seele". Und wenn wir in unserem Beispiel die Summe der Steuern und Leistungen berechnen, die in den verschiedenen Gruppen auf eine Desjatine Anteilland entfallen, so erhalten wir die folgenden Zahlen: a) 2,6 Rubel, b) 2.4 Rubel, c) 2,5 Rubel, d) 2,6 Rubel, e) 2,9 Rubel und f) 3,7 Rubel. Mit Ausnahme der obersten Gruppe, wo es große industrielle Anlagen gibt, die besonders besteuert werden, sehen wir eine ungefähr gleichmäßige Verteilung der Steuern. Die Größe des Anteillandes entspricht auch hier im Großen und Ganzen der Höhe der Steuern. Dies ist ein direkter Überrest (und ein direkter Beweis) des fronwirtschaftlichen Charakters unserer Dorfgemeinde. Nach dem Wesen der auf Abarbeit fußenden Wirtschaft kann es gar nicht anders sein: die Gutsherren hätten sich nicht für die Dauer eines halben Jahrhunderts nach der „Befreiung" hörige Arbeitskräfte aus der benachbarten Bauernschaft sichern können, wenn nicht diese Bauern an ihre, sie zum Hunger verdammenden Anteilparzellen gefesselt, nicht verpflichtet wären, sie zu doppelten und dreifachen Preisen zu bezahlen. Man dar! nicht vergessen, dass es in Russland am Ende des 19. Jahrhunderts gar nicht so selten vorkommt, dass die Bauern sich von ihrem Anteilland loskaufen müssen, das heißt demjenigen, der das Anteilland des Weggehenden übernimmt, noch einiges „draufzahlen". So zum Beispiel schreibt Herr Schbankow in seinem Buch „Weiberland"14 (Kostroma 1891) über das Leben der Bauern im Gouvernement Kostroma, dass „unter den aus ihren Dörfern auf Arbeitssuche wegziehenden Bauern die Anteilbesitzer selten für ihr Land auch nur einen geringen Teil der Steuern erhalten; sie verpachten es gewöhnlich gegen die Verpflichtung, es zu umzäunen; alle Steuern trägt der Hofwirt selbst". In der 1896 erschienenen „Übersicht des Gouvernements Jaroslawl" finden wir eine ganze Reihe ähnlicher Hinweise darauf, dass die Wanderarbeiter sich von ihrem Anteilland loskaufen müssen.

In rein landwirtschaftlichen Gouvernements finden wir natürlich keine derartige „Macht der Erde". Aber auch für sie gilt, wenn auch in anderer Form, der Satz, dass die Rolle des Anteilland an beiden Polen des Dorfes sinkt. Das ist eine allgemeine Erscheinung. Ist dem aber so, so führt die Verteilung der Steuern nach dem Anteilland unvermeidlich zu immer größerer Ungleichheit der Besteuerung. Von allen Richtungen her und auf verschiedensten Wegen führt die wirtschaftliche Entwicklung dazu, dass die mittelalterlichen Formen des Grundbesitzes zusammenbrechen, die ständischen Schranken (Anteilland, gutsherrlicher Boden usw.) zusammenstürzen und die neuen Wirtschaftsformen sich unterschiedslos aus Teilchen des einen wie des anderen Grundbesitzes bilden. Das 19. Jahrhundert hinterlässt dem 20. Jahrhundert das Vermächtnis, diese „Säuberung" der mittelalterlichen Formen des Grundbesitzes als unbedingt obligatorische Aufgabe zu Ende zu führen. Der Kampf geht nur darum, ob diese „Säuberung" sich in der Form der bäuerlichen Nationalisierung des Bodens, oder aber in der Form einer beschleunigten Ausplünderung der Dorfgemeinde durch die Kulaken und der Verwandlung der feudalen gutsherrlichen Wirtschaft m eine junkerliche vollziehen wird.

Nunmehr gehen wir bei unserer Analyse der gegenwärtigen Struktur der Bauernwirtschaft von der Bodenfrage zur Viehzucht über. Auch hier müssen wir als allgemeine Regel feststellen, dass die Viehverteilung unter den Bauernwirtschaften viel ungleichmäßiger ist als die Verteilung des Anteillandes Nachstehend als Beispiel Zahlen über die Viehzucht der Bauern im Dnjeprkreis, Gouvernement Taurien:


Auf einen Hof entfallen

Anteilland

Vieh

Ohne Anbaufläche

6,4 Desj.

1,1 Stück

Anbaufläche bis zu 5 Desj.

5,5 Desj.

2,4 Stück

Anbaufläche 5 bis 10 Desj.

8,7 Desj.

4,2 Stück

Anbaufläche 10 bis 25 Desj.

12,5 Desj.

7.3 Stück

Anbaufläche 25 bis 50 Desj.

16.6 Desj.

13,9 Stück

Anbaufläche über 50 Desj.

17,4 Desj.

30,0 Stück

Im Durchschnitt

11,2 Desj.

7,6 Stück

Der Unterschied im Viehbestand der extremen Gruppen ist zehnmal so groß wie der Unterschied beim Anteilland. Auch nach den Angaben über den Viehbestand erweist sich also der wirkliche Umfang der Wirtschaft ganz anders, als man es meist annimmt, wenn man sich auf durchschnittliche Zahlen beschränkt und davon ausgeht, dass der Umfang des Anteillandes alles bestimmt. Welche Landkreise wir auch betrachten mögen – überall ist die Verteilung des Viehs viel ungleichmäßiger als diejenige des Anteillandes. Die 20 Prozent ausmachenden wohlhabenden Höfe besitzen 29 bis 36 Prozent des Anteillandes, aber 37 bis 57 Prozent des gesamten Viehbestandes der Bauernschaft des Kreises oder einer Gruppe von Kreisen. Für die 50 Prozent der unteren Gruppen von Höfen verbleiben 14 bis 30 Prozent des ganzen Viehbestandes.

Doch diese Zahlen zeigen noch bei Weitem nicht die ganze Tiefe der wirklichen Unterschiede. Neben der Größe des Viehbestandes ist seine Qualität von nicht geringerer, ja manchmal sogar von größerer Bedeutung. Es versteht sich, dass ein halb ruinierter, von allen Seiten verknechteter Bauer mit seiner elenden Wirtschaft nicht imstande ist, einigermaßen gutes Vieh zu erwerben und zu halten. Der Hofbesitzer (ein Jammer von einem Besitzer) hungert, das Vieh hungert mit, das ist gar nicht anders möglich. Die Haushaltsstatistik für das Gouvernement Woronesch zeigt aufs anschaulichste die ganze Jämmerlichkeit der Viehhaltung der Bauern ohne oder mit nur einem Pferd, d. h. von drei Fünfteln aller Bauernwirtschaften Russlands. Hier einige Zahlen aus diesem Material zur Charakteristik der Viehhaltung der Bauernwirtschaften:



Viehbestand pro Wirtschaft in Großvieh umgerechnet

Durchschnittliche Jahresausgaben in Rubel

Reparatur und Ersatz von Inventar und Vieh

Viehfütterung

a) ohne Pferd

0,8

0,08

8,12

b) mit 1 Pferd

2,6

5,36

36,70

c) mit 2 Pferden

4,9

8,78

71,21

d) mit 3 Pferden

9,1

9,70

127,03

e) mit 4 Pferden

12,8

30,80

173,24

f) mit 5 und mehr Pferden

19,3

75,80

510,07

Im Durchschnitt

5,8

13,14

97,91

In den Jahren 1896-1900 wurden im Europäischen Russland 3,25 Millionen pferdeloser Bauernhöfe gezählt. Man kann sich schon vorstellen, wie ihre Land-„Wirtschaft" aussieht, wenn sie für ihr lebendes und totes Inventar ganze acht Kopeken jährlich ausgeben. Bauern mit einem Pferd gibt es 3 Millionen. Bei 5 Rubel Jahresausgaben für Inventar- und Viehersatz ist es nichts als ewige Plackerei in auswegloser Not. Selbst bei Bauern mit zwei Pferden (2,5 Millionen Höfe) und drei Pferden (1 Million Höfe) betragen die Jahresausgaben für totes und lebendes Inventar nur 9 bis 10 Rubel. Nur in den zwei obersten Gruppen (unter den 11 Millionen Bauernwirtschaften Russlands wird nur 1 Million solcher Höfe gezählt) nähern sich die Ausgaben für totes und lebendes Inventar einigermaßen den Verhältnissen eines wirklichen landwirtschaftlichen Betriebs.

Es ist ganz natürlich, dass unter solchen Verhältnissen die Qualität des Viehs in den verschiedenen Wirtschaftsgruppen nicht die gleiche sein kann. Der Wert eines Zugpferdes beträgt z. B. in den Einpferdewirtschaften 27 Rubel, in den Zweipferdewirtschaften 37 Rubel, in den Dreipferdewirtschaften 61 Rubel, in den Vierpferdewirtschaften 52 Rubel und in Wirtschaften mit mehr Pferden 69 Rubel. Der Unterschied zwischen den extremen Gruppen beträgt über 100 Prozent. Diese Erscheinung ist allen kapitalistischen Ländern gemeinsam, wo es kleine und große Wirtschaften gibt. In meinem Buch „Die Agrarfrage" (Teil I, St. Petersburg 1908) habe ich gezeigt, dass die Untersuchungen Drechslers15 über deutsche Landwirtschaft und Viehzucht das gleiche Resultat zutage gefördert haben. Das Durchschnittsgewicht eines mittleren Stücks Vieh war auf den großen Gütern 619 kg (1884, Seite 259 der zitierten Schrift), in den Bauernwirtschaften mit 25 ha und darüber 427 kg, in den Wirtschaften von 7,5 bis 25 ha 382 kg, in den Wirtschaften von 2,5 bis 7,5 ha 352 kg und endlich in den Wirtschaften bis 2,5 ha 301 kg.

Die Bestellung des Bodens, besonders seine Düngung, hängt ebenfalls von Zahl und Qualität des Viehs ab. Wir haben bereits gezeigt, dass alle statistischen Angaben für ganz Russland von einer besseren Düngung des gutsherrlichen Bodens im Vergleich zum bäuerlichen zeugen. Jetzt sehen wir, dass eine solche Unterscheidung, die zu Zeiten der Leibeigenschaft berechtigt und begründet war, veraltet ist. Es stellt sich heraus, dass zwischen den verschiedenen Bauernwirtschaften eine tiefe Kluft gähnt, und alle Untersuchungen, Berechnungen, Schlussfolgerungen, Theorien, die von der Vorstellung einer „durchschnittlichen" Bauernwirtschaft ausgehen, führen zu absolut falschen Schlüssen in dieser Frage. Leider aber untersucht die Semstwostatistik nur selten die einzelnen Hofgruppen, sondern beschränkt sich auf die Beibringung von Zahlen über ganze Gemeinden. Doch für den Kreis Krasnoufimsk, Gouvernement Perm, enthalten die Erhebungen über die einzelnen Höfe ausnahmsweise genaue Angaben über die Düngung der Felder in verschiedenen Bauernwirtschaften:.


Prozentsatz düngender Wirtschaften

Düngermenge pro düngende Wirtschaft (in Fuhren)

Anbaufläche bis 5 Desj

33,9

80

Anbaufläche 5 bis 10 Desj.

66,2

116

Anbaufläche 10 bis 20 Desj.

70,3

197

Anbaufläche 20 bis 50 Desj.

76,9

358

Anbaufläche über 50 Desj.

84,3

732

Im Durchschnitt

51,7

176

Hier sehen wir bereits verschiedene agrikulturelle Wirtschaftstypen, je nach der Größe der Wirtschaft. Auch in einer anderen Gegend sind die Statistiker, die dieser Frage ihre Aufmerksamkeit zugewandt haben, zu ähnlichen Schlüssen gekommen. Die Statistiker des Gouvernements Orel teilen mit, dass bei wohlhabenden Bauern auf ein Stück Großvieh fast doppelt so viel Dung entfällt wie bei armen Bauern. Bei 7,4 Stück Vieh hat der Hof pro Stück 391 Pud Dung, bei 2,8 Stück Vieh 208 Pud. Als „normal" gelten 400 Pud pro Stück, die Norm wird infolgedessen nur bei einer kleinen Minderheit, bei den wohlhabenden Bauern, erreicht. Die armen Bauern sind genötigt, Stroh und Dünger zum Heizen zu gebrauchen, manchmal sogar den Dünger zu verkaufen usw.

Im Zusammenhang damit muss die Frage der Zunahme der Zahl der pferdelosen Wirtschaften betrachtet werden. In den Jahren 1888 – 1891 wurden in 48 Gouvernements des Europäischen Russland 2,8 Millionen pferdelose Bauernhöfe gezählt bei einer Gesamtzahl von 10,1 Millionen, d. h. 27,3 Prozent. Etwa 9 bis 10 Jahre später, 1896– 1900, gab es unter 11,1 Millionen Bauernhöfen 3,2 Millionen pferdelose, d. h. 29,2 Proz. Die zunehmende Expropriation der Bauernschaft ist somit nicht zu bezweifeln. Betrachtet man jedoch diesen Prozess vom agronomischen Standpunkt, so kommt man zunächst zu einer Schlussfolgerung, die auf den ersten Blick paradox erscheint. Sie wurde bereits 1884 von dem bekannten Narodniki-Schriftsteller Herrn W. W. gezogen („Wjestnik Jewropy", 1884, Nr. 7),16 der das auf ein Pferd entfallende Ackerland in unserer Bauernwirtschaft dem in der „normalen" Dreifelderwirtschaft – normal vom agronomischen Standpunkt – gegenüberstellte. Es stellte sich heraus, dass die Bauern zu viel Pferde halten; bei ihnen entfallen auf ein Pferd nur 5 bis 8 Desj. Ackerland, statt der von der agronomischen Wissenschaft verlangten 7 bis 10.

Also – folgerte W. W. – ist der Rückgang der Pferdezahl bei einem Teil der Bevölkerung dieses Gebiets Russlands (Zentrales Schwarzerdegebiet) bis zu einem gewissen Grade als Wiederherstellung des normalen Verhältnisses zwischen der Anzahl des Zugviehs und der zu bestellenden Bodenfläche zu betrachten."

In Wirklichkeit erklärt sich das Paradoxon dadurch, dass das Verschwinden der Pferde bei einem Teil der Bauern Hand in Hand geht mit der Konzentration des Bodens in den Händen der wohlhabenden Höfe, bei denen sich das „normale" Verhältnis zwischen Pferdezahl und bebauter Bodenfläche einstellt. Dieses „normale" Verhältnis wird nicht „wiederhergestellt" (denn unsere Landwirtschaft hat es nie gekannt), sondern wird von der bäuerlichen Bourgeoisie allein erreicht. Die „Abnormität" besteht aber in der Zersplitterung der Produktionsmittel in der kleinen Bauernwirtschaft; die gleiche Bodenfläche, die 1 Million Bauern mit je einem Pferd, also mit Hilfe einer Million Pferde bestellen, wird von den wohlhabenden Bauern besser und sorgfältiger mit nur einer halben oder dreiviertel Millionen Pferde bebaut.

Beim toten Inventar ist in der Bauernwirtschaft zu unterscheiden zwischen gewöhnlichem bäuerlichen Inventar und vervollkommneten landwirtschaftlichen Geräten. Die Verteilung des erstgenannten entspricht im Großen und Ganzen der Verteilung des Zugviehs; die Angaben dieser Art geben uns nichts Neues für die Charakteristik der Bauernwirtschaft. Die vervollkommneten Geräte aber, die viel teurer sind, rentieren sich nur in größeren Wirtschaften, werden nur in solchen Wirtschaften eingeführt, die sich erfolgreich entwickeln und ungleich mehr konzentriert sind. Die Angaben über diese Konzentration sind von größter Bedeutung, denn sie sind die einzigen, die ein genaues Urteil darüber ermöglichen, in welcher Richtung, unter welchen sozialen Bedingungen sich der Fortschritt der Bauernwirtschaft vollzieht. Es unterliegt keinem Zweifel, dass seit 1861 in dieser Beziehung ein Schritt vorwärts zu verzeichnen ist, aber der kapitalistische Charakter dieses Fortschritts nicht nur in der gutsherrlichen, sondern auch in der bäuerlichen Wirtschaft wird vielfach bestritten oder angezweifelt.

Hier die Angaben aus der Semstwostatistik über die Verteilung der vervollkommneten landwirtschaftlichen Geräte unter der Bauernschaft:


Vervollkommnete landwirtschaftliche Geräte auf 100 Wirtschaften

2 Kreise im Gouv. Orel

1 Kreis im Gouv. Woronesch

Wirtschaften ohne Pferd

0,1

Wirtschaften mit 1 Pferd

0,2

0,06

Wirtschaften mit 23 Pferden

3,5

1

Wirtschaften mit 4 Pferden und darüber

36

23

Im Durchschnitt

2,2

1,2

In dieser Gegend sind vervollkommnete landwirtschaftliche Geräte unter der Bauernschaft verhältnismäßig wenig verbreitet. Der Prozentsatz der Höfe, die solche Geräte besitzen, ist ganz gering. Aber die untersten Gruppen verwenden fast keine solchen Geräte, während sie in den höheren systematisch zur Verwendung gelangen. Im Kreis Nowousensk, Gouv. Samara, haben insgesamt 13 Prozent der Höfe vervollkommnete Geräte, dabei steigt dieser Prozentsatz bis auf 40 Prozent in der Gruppe mit 20 Stück Zugvieh und auf 62 Prozent in der Gruppe mit 20 Stück Zugvieh und mehr. Im Kreis Krasnoufimsk, Gouv. Perm (drei Rayons dieses Kreises), kommen auf 100 Wirtschaften 10 vervollkommnete Geräte: das ist der allgemeine Durchschnitt; auf 100 Höfe mit 20–50 Desj. Anbaufläche kommen 50 solcher

Geräte, auf 100 Höfe mit 50 Desj. Anbaufläche sogar 180. Betrachten wir das prozentuale Verhältnis, das wir oben für den Vergleich der Zahlen in verschiedenen Kreisen genommen haben, erweist sich, dass die 20 Prozent wohlhabender Höfe 70 bis 86 Prozent der gesamten verbesserten Geräte besitzen, die 50 Prozent armer Bauern jedoch nur 1,3 Prozent bis 3,6 Prozent. Es unterliegt somit keinem Zweifel, dass der Fortschritt, der in der Verbreitung vervollkommneter Geräte unter der Bauernschaft zum Ausdruck kommt (über ihn spricht u. a. auch Herr Kaufmann in seiner oben zitierten Arbeit aus dem Jahre 1907), ein Fortschritt der wohlhabenden Bauernschaft ist. Drei Fünftel der Gesamtzahl der Bauernhöfe, die Bauern ohne oder mit nur einem Pferd, sind fast gar nicht in der Lage, solche vervollkommnete Geräte zu gebrauchen.

V

Im Lauf unserer bisherigen Ausführungen über die Bauernwirtschaft betrachteten wir die Bauern vornehmlich als selbständige Landwirte, verwiesen jedoch zugleich darauf, dass die unteren Gruppen aus den Reihen dieser Landwirte stetig hinaus gestoßen werden. Wohin? Offenbar in die Reihen des Proletariats. Wir müssen nunmehr ausführlich betrachten, in welcher Weise diese Herausbildung des Proletariats, insbesondere des ländlichen, vor sich geht und wie sich der Arbeitsmarkt in der Landwirtschaft gestaltet. Sind die typischen Klassenfiguren der auf Abarbeit fußenden Wirtschaft der Gutsbesitzer als Fronherr und der mit Anteilland versehene geknechtete Bauer, so sind für eine kapitalistische Wirtschaft der Lohnarbeit verwendende Farmer und der sich verdingende Knecht oder Tagelöhner typisch. Die Verwandlung des Gutsherrn und des wohlhabenden Bauern in einen Arbeitgeber haben wir aufgezeigt. Betrachten wir nunmehr die Verwandlung des Bauern in einen Lohnarbeiter.

Verwenden die wohlhabenden Bauern in großer Menge Lohnarbeit? Nehmen wir den durchschnittlichen Prozentsatz der Höfe mit Landarbeitern im Verhältnis zur Gesamtzahl der Bauernhöfe (wie es meist getan wird), so ist er nicht hoch: 12,9 Prozent im Dnjeprkreis des Gouvernements Taurien, 9 Prozent im Kreis Nowousensk, Gouv. Samara, 12,7 Prozent im Kreis Kamyschin. Gouv. Saratow, 10,6 Proz. im Kreis Krasnoufimsk, Gouvernement Perm, 3,5 Prozent in zwei Kreisen des Gouv. Orel, 3,8 Prozent in einem Kreis des Gouv. Woronesch, 2,6 Prozent in drei Kreisen des Gouv. Nischni-Nowgorod. Doch Zahlen dieser Art sind in Wirklichkeit fiktiv, denn die Höfe mit Landarbeitern werden auf die Gesamtzahl der Höfe bezogen, darunter auch auf jene Höfe, die Landarbeiter stellen. In jeder kapitalistischen Gesellschaft bildet die Bourgeoisie nur eine verschwindende Minderheit der Bevölkerung. Die Zahl der Höfe mit Lohnarbeitern wird stets „klein" sein. Die Frage ist aber, ob sich hier ein besonderer Wirtschaftstyp herausbildet oder ob die Beschäftigung von Lohnarbeitern eine zufällige Erscheinung ist. Auch darauf geben die Angaben der Semstwostatistik eine ganz bestimmte Antwort, die zeigt, dass der Prozentsatz von Höfen mit Landarbeitern für die Gruppe der wohlhabenden Bauernschaft überall ungleich höher ist als der Durchschnitt für den ganzen Kreis. Nachstehend die Daten für den Kreis Krasnoufimsk, Gouv. Perm, die ausnahmsweise nicht nur über die Zahl der Landarbeiter, sondern auch über die Beschäftigung von Tagelöhnern, d. h. über die für die Landwirtschaft typischere Form der Lohnarbeit berichten :


Prozentsatz der Lohnarbeiter beschäftigenden Wirtschaften

Männl. Arbeitskräfte pro Hof

Termin­arbeiter

Zur Heuernte

Zur Getreide­ernte

Zum Drusch

Ohne Anbaufläche

0,6

0,15

0,6

-

-

Anbaufläche bis zu 5 Desj.

1,0

0,7

5,1

4,7

9,2

Anbaufläche 5 bis 10 Desj.

1,2

4,2

14,3

20,1

22,3

Anbaufläche 10 bis 20 Desj.

1,5

17,7

22,2

43,9

25,9

Anbaufläche 20 bis 50 Desj.

1,7

50

47.9

69,6

33,7

Anbaufläche über 50 Desj.

2

83,1

64,5

87,2

44,7

Im Durchschnitt

1,2

10,6

16,4

24,3

18,8

Wir sehen, dass die wirtschaftlich gut gestellten Höfe zahlreichere Familien aufweisen als die ärmeren. Trotzdem beschäftigen sie ungleich mehr Lohnarbeiter. Die „Familienkooperation" dient als Grundlage zur Erweiterung der Wirtschaft und wird auf diese Weise zu einer kapitalistischen. In den obersten Gruppen wird die Beschäftigung von Lohnarbeitern offenkundig zum System, zur Bedingung der erweiterten Wirtschaftsführung. Dabei stellt es sich heraus, dass die Beschäftigung von Tagelöhnern selbst in den mittleren Bauerngruppen eine durchaus weitverbreitete Erscheinung ist: stellt in den zwei obersten Gruppen (10,3 Prozent der Gesamtzahl) die Mehrzahl der Höfe Lohnarbeiter ein, so beschäftigen in der Gruppe mit 10-20 Desj. Anbaufläche (22,4 Prozent der Gesamtzahl) über zwei Fünftel der Höfe Tagelöhner für die Ernte. Hieraus folgt, dass die wohlhabende Bauernschaft ohne ein ihr zur Verfügung stehendes Millionenheer von Knechten und Tagelöhnern nicht existieren könnte. Wenn auch, wie wir gesehen, der Prozentsatz der Höfe mit Knechten von Kreis zu Kreis bedeutende Schwankungen aufweist, so ist die Konzentration solcher Höfe in den obersten Gruppen der Bauernschaft, d. h. die Verwandlung der wohlhabenden Bauern in Unternehmer, zweifellos eine allgemeine Erscheinung. Auf die 20 Prozent wohlhabender Höfe entfallen 48 bis 78 Prozent der Gesamtzahl der Höfe mit Landarbeitern.

Am andern Pol gibt uns die Statistik in der Regel keinen Aufschluss über die Zahl der Höfe, die Lohnarbeiter jeder Art stellen. In einer ganzen Reihe von Fragen hat unsere Semstwostatistik im Vergleich zur alten staatlichen Statistik der Gouverneursberichte und der verschiedenen Ämter außerordentlich große Fortschritte gemacht, aber in einer Beziehung hat sich der alte bürokratische Standpunkt auch in der Semstwostatistik erhalten, nämlich in der Frage der sogenannten „Arbeitsverdienste" der Bauern. Landwirtschaft auf dem eigenen Landanteil gilt als die eigentliche Beschäftigung des Bauern, jede andere aber als „Arbeitsverdienst" oder „Gewerbe", wobei hier Wirtschaftskategorien in einen Topf geworfen werden, deren Auseinanderhaltung das Abc der politischen Ökonomie verlangt. In die Kategorie der „landwirtschaftlichen Gewerbetreibenden" werden z. B. neben einer Masse von Lohnarbeitern auch selbständige Unternehmer, (z. B. Besitzer von Melonen- und Kürbisfeldern) fallen, neben ihnen werden als „Höfe mit Arbeitsverdiensten" auch Bettler und Händler, Dienstboten und Handwerksmeister usw. angeführt. Es ist klar, dass diese himmelschreiende ökonomisch-politische Konfusion ein direkter Überrest der Hörigkeit ist. Dem Gutsherrn war es tatsächlich ganz egal, was sein zinspflichtiger Bauer trieb: ob er Händler, Lohnarbeiter oder selbständiger Gewerbetreibender war; alle leibeigenen Bauern hatten in gleicher Weise den Leibzins zu zahlen, sie alle galten als vorübergehend und bedingt von ihrer eigentlichen Beschäftigung abwesend.

Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft geriet diese Auffassung in einen immer schärferen Gegensatz zur Wirklichkeit. Die Mehrzahl der Bauernhöfe mit Arbeitsverdiensten gehört zweifelsohne zu denjenigen, die Lohnarbeiter stellen, aber ein ganz genaues Bild können wir uns davon nicht machen, denn unter die Gesamtzahl fällt auch die kleinere Gruppe selbständiger Gewerbetreibender, wodurch die elende Lage der armen Bauern verschleiert wird. Zur Veranschaulichung des Gesagten wollen wir ein Beispiel anführen. Im Kreis Nowousensk, Gouv. Samara, haben die Statistiker aus der Gesamtmasse der „Gewerbe" die „landwirtschaftlichen Gewerbe" herausgehoben.17 Natürlich ist auch diese Bezeichnung nicht genau, doch die Aufzählung der Berufe zeigt wenigstens, dass von den 14.063 „Gewerbetreibenden" dieser Art 13.297 Knechte und Tagelöhner sind. Hier ist also das Übergewicht der Lohnarbeiter sehr groß. Die Verteilung der landwirtschaftlichen Gewerbe ist die folgende:


Prozentsatz der landwirtschaftlichen Gewerbetreibenden männlichen Geschlechts

Ohne Zugvieh

71,4

Mit 1 Stück Arbeitsvieh

48,7

Mit 2– 3 Stück Arbeitsvieh

20,4

Mit 4 Stück Arbeitsvieh

8,5

Mit 5–10 Stück Arbeitsvieh

5,0

Mit 10–20 Stück Arbeitsvieh

3,9

Mit 20 Stück und darüber

2,9

Im Durchschnitt des Kreises

25,0

Von den pferdelosen Bauern sind folglich sieben Zehntel, von den Bauern mit 1 Pferd fast die Hälfte Lohnarbeiter. Im Kreis Krasnoufimsk, Gouv. Perm, ist der durchschnittliche Prozentsatz der Höfe mit landwirtschaftlichen Gewerben gleich 16:2 Prozent, unter den Höfen ohne Anbaufläche sind 52,3 Prozent „Gewerbetreibende", unter den Bauern mit Anbaufläche bis zu 5 Desjatinen 26,4 Prozent. In anderen Kreisen, für die die landwirtschaftlichen Gewerbe nicht gesondert angeführt werden, ist das Bild kein so krasses, aber allgemeine Regel bleibt, dass „Gewerbe" und „Arbeitsverdienste" eine Spezialität der unteren Gruppen sind. Auf die 50 Prozent der Höfe dieser Gruppen entfallen 60 bis 93 Prozent der Gesamtzahl der Höfe mit Arbeitsverdiensten.

Wir ersehen hieraus, dass die unteren Bauerngruppen, besonders die Höfe ohne oder mit nur einem Pferd, hinsichtlich ihrer Lage in der Gesamtstruktur der Volkswirtschaft Knechte und Tagelöhner (im weiteren Sinne – Lohnarbeiter) mit Landanteilen sind. Diese Schlussfolgerung wird auch von der Statistik des Wachstums der Verwendung von Lohnarbeit nach 1861 für ganz Russland sowie durch Haushaltsuntersuchungen über die Einkommensquellen der unteren Gruppen und endlich auch von der Statistik über ihre Lebenshaltung bestätigt. Auf diese dreierlei Beweise wollen wir nunmehr etwas ausführlicher eingehen.

Allgemeine Zahlen über die Zunahme der Zahl der ländlichen Lohnarbeiter in ganz Russland besitzen wir nur in Bezug auf die Wanderarbeiter, ohne genaue Unterscheidung von landwirtschaftlichen und nicht-landwirtschaftlichen. Die Frage, ob jene oder diese in der Mehrzahl sind, wurde in der Narodniki-Literatur zugunsten der erstgenannten beantwortet, aber wir werden weiter die Gründe anführen, die für die gegenteilige Auffassung sprechen. Die Tatsache der raschen Zunahme der Zahl der Wanderarbeiter unter der Bauernschaft nach 1861 unterliegt keinem Zweifel. Davon zeugen alle Quellen. Einen ungefähren statistischen Ausdruck hierfür geben auch die Zahlen über die Passgebühren und die ausgestellten Pässe. Im Jahre 1868 beliefen sich die Einnahmen aus den Passgebühren auf 2,1 Mill. Rbl.. 1884 auf 3 3 Mill. Rbl., 1894 auf 4.5 Mill. Rbl. Das ist mehr als eine Verdoppelung. Die Zahl der ausgestellten Pässe und Reiseausweise belief sich 1884 im Europ. Russland auf 4.7 Mill. 1897 auf 7,8 und 1898 auf 9.3 Mill. Hier sehen wir binnen 13 Jahren eine Verdoppelung. Alle diese Zahlen entsprechen im großen und ganzen auch anderen Berechnungen, z. B. der Berechnung des Herrn Uwarow18, der semstwostatistische Zahlen, meist veraltete, für 126 Kreise von 20 Gouvernements zusammengefasst und die mutmaßliche Ziffer der Wanderarbeiter auf 5 Mill. geschätzt hat. Herr S. Korolenko schätzte sie auf Grund von Angaben über die Zahl überschüssiger lokaler Arbeitskräfte auf 6 Millionen.

Die ungeheure Mehrzahl" davon sind, wie Herr Nikolai-on19 meint, landwirtschaftliche Gewerbetreibende. In meiner „Entwicklung des Kapitalismus" habe ich eingehend dargelegt, dass die Statistiken und Untersuchungen der 60er, 80er und 90er Jahre die Unrichtigkeit dieses Schlusses vollauf beweisen. Bei der Mehrzahl, wenn auch nicht der ungeheuren Mehrzahl der Wanderarbeiter handelt es sich um nicht-landwirtschaftliche Arbeiter. Nachstehend die vollständigen und neuesten Zahlen über die im Europ. Russland 1898 ausgestellten Pässe, geordnet nach Gouvernements:

Gouvernementsgruppen

Zahl der 1898 ausgestellten Pässe

1. 17 Gouvernements mit vorherrschend nicht-landwirtschaftlichen abwandernden Arbeitern

3.369.597

2. 12 Gouvernements vom Übergangstypus

1.674.231

3. 21 Gouvernements mit vorherrschend landwirtschaftlichen abwandernden Arbeitern

2.765.762

Zusammen in 50 Gouvernements

7.809.590

Wenn wir für die Gouvernements des Übergangstypus annehmen, dass die Hälfte der Arbeiter landwirtschaftliche sind, so wird die ungefähre, am meisten wahrscheinliche Verteilung die folgende sein: etwa 4,2 Millionen nicht-landwirtschaftlicher und etwa 3,6 Mill. landwirtschaftlicher Lohnarbeiter. Man vergleiche damit die von Herrn Rudnew errechnete Zahl20; dieser fasste 1894 das semstwostatistische Material für 148 Kreise von 19 Gouvernements zusammen und errechnete 3,5 Mill. als ungefähre Zahl der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter. Diese Zahl schließt, nach dem Material der 80er Jahre, sowohl die örtlichen Landarbeiter als auch die landwirtschaftlichen Wanderarbeiter ein. Am Ende der 90er Jahre war die Zahl allein der landwirtschaftlichen Wanderarbeiter ebenso hoch.

Die Zunahme der Zahl der landwirtschaftlichen Wanderarbeiter steht in unmittelbarem Zusammenhang mit jener Entwicklung des kapitalistischen Unternehmertums in der Landwirtschaft, die wir sowohl in der gutsherrlichen als auch in der bäuerlichen Wirtschaft verfolgt haben. Man nehme z. B. die Verwendung von Maschinen in der Landwirtschaft. Dass sie bei wohlhabenden Bauern den Übergang zum Unternehmertum bedeutet, haben wir auf Grund genauer Zahlen nachgewiesen. In der gutsherrlichen Wirtschaft aber bedeutet die Anwendung von Maschinen und überhaupt vervollkommneter Geräte unvermeidlich die Verdrängung der Abarbeit durch den Kapitalismus. An die Stelle des bäuerlichen Inventars tritt das gutsherrliche; an die Stelle der alten Dreifelderwirtschaft treten neue technische Verfahren, die mit der Verwendung neuer Geräte verknüpft sind; der in Schuldknechtschaft geratene Bauer taugt nicht für die Arbeit mit vervollkommneten Geräten, und an seine Stelle tritt der Knecht oder Tagelöhner.

In jenen Gebieten des Europäischen Russland, wo nach der Reform die Maschinen am meisten zur Verbreitung gelangt sind, ist auch die Verwendung der Lohnarbeit zugewanderter Arbeiter am meisten verbreitet. Es sind dies die südlichen und östlichen Grenzgebiete des Europäischen Russland. Der Zuzug von Landarbeitern in diese Gebiete hat die Entstehung äußerst typischer und ausgeprägt kapitalistischer Verhältnisse zur Folge gehabt. Wir müssen auf sie eingehen, um das alte und immer noch vorherrschende Abarbeitssystem mit der immer mehr zutage tretenden neuen Strömung zu vergleichen. Vor allem sei hervorgehoben, dass der Süden in der Landwirtschaft die höchsten Löhne aufweist. Nach der Statistik, die sich auf ein ganzes Jahrzehnt erstreckt (1881–1891) und somit jede zufällige Schwankung ausschließt, haben in Russland die Gouvernements Taurien, Bessarabien und Dongebiet die höchsten Löhne aufzuweisen. Hier hat der Arbeiter mit Jahreskontrakt inkl. Kost und Unterkunft 143,5 Rbl., ein Saisonarbeiter (im Sommer) 55,67 Rbl. An zweiter Stelle steht in der Höhe des Arbeitslohnes das industriell am meisten entwickelte Gebiet: die Gouvernements Petersburg, Moskau, Wladimir, Jaroslawl. Hier hat ein Landarbeiter mit Jahreskontrakt einen Lohn von 135,80 Rubel, ein Terminarbeiter 53 Rubel. Die niedrigsten Löhne werden in den zentralen landwirtschaftlichen Gouvernements gezahlt (Kasan, Pensa, Tambow, Rjasan, Tula. Orel, Kursk), d. h. gerade in jenen Gegenden, wo Abarbeit. Schuldknechtschaft und alle möglichen Überreste der Fronherrschaft am stärksten sind. Hier erhält ein Landarbeiter mit Jahreskontrakt einen Lohn von nur 92,95 Rubel, d. h. anderthalb Mal weniger als in den kapitalistisch am meisten entwickelten Gouvernements, ein Saisonarbeiter 35,64 Rubel, d. h. um 20 Rubel in einem Sommer weniger als im Süden. Gerade aus diesem zentralen Gebiet ist die Arbeiterabwanderung besonders stark. Jedes Frühjahr ziehen über 1,5 Millionen Menschen von hier weg, teils auf landwirtschaftliche Arbeit (hauptsächlich nach dem Süden, zu einem Teil aber auch, wie wir weiter sehen werden, nach den industriellen Gouvernements), teils auf nicht-landwirtschaftliche Arbeit nach den Hauptstädten und in die industriellen Gouvernements. Zwischen diesem Hauptgebiet der Abwanderung und den beiden Hauptgebieten des Zuzugs (dem ackerbautreibenden Süden und den Hauptstädten mit den beiden Industriegouvernements) liegen die Gouvernements mit mittelhohen Löhnen. Diese Gouvernements locken einen Teil der Arbeitskräfte aus dem „billigsten" und hungrigsten Zentralgebiet herbei, wobei sie zugleich einen Teil der Arbeiter an die teureren Gegenden abgeben. Im Buch des Herrn S. Korolenko über die „Freie Lohnarbeit" ist dieser Prozess der Arbeiterwanderungen und der Bevölkerungsverschiebungen auf Grund eines sehr umfangreichen Materials eingehend dargestellt. Der Kapitalismus erreicht auf diese Weise eine (natürlich vom Standpunkt der Bedürfnisse des Kapitals gesehen) gleichmäßigere Verteilung der Bevölkerung; er gleicht die Arbeitslöhne im ganzen Land aus und schafft einen wirklich einheitlichen nationalen Arbeitsmarkt; er entzieht den alten Produktionsmethoden allmählich den Boden, indem er den geknechteten Bauer durch hohe Löhne „verführt". Daher die endlosen Klagen der Herren Gutsbesitzer darüber, dass die örtlichen Arbeiter verdorben werden, ihre Klagen über Liederlichkeit und Trunksucht als angebliche Folgen der Abwanderung, über die „Verderbnis", die die Arbeiter aus der Stadt mitbringen usw. usw.

In den Gebieten mit dem stärksten Arbeiterzuzug haben sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Landwirtschaft ziemlich große kapitalistische Unternehmen herausgebildet. Die kapitalistische Kooperation entstand beim Gebrauch solcher Maschinen wie z. B. der Dreschmaschinen. Herr Tesjakow21, der die Arbeits- und Lebensbedingungen der Landarbeiter im Gouvernement Cherson geschildert hat, teilt mit, dass eine Dreschmaschine mit Pferdeantrieb 14–23 und noch mehr Arbeiter braucht, eine Dreschmaschine mit Dampfantrieb aber 50–70. In manchen Wirtschaften wurden 500–1000 Arbeiter beschäftigt, eine für die Landwirtschaft außergewöhnlich hohe Zahl. Der Kapitalismus gab die Möglichkeit, die höher bezahlte Männerarbeit durch Frauen- und Kinderarbeit zu ersetzen. So z. B. wurden im Städtchen Kachowka, einem der Hauptarbeitsmärkte des Gouvernements Taurien, wo früher bis zu 40.000, in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts aber 20.000 bis 30.000 Arbeiter zusammenkamen, im Jahre 1890 bis 12,7 Prozent Frauen, im Jahre 1895 aber bereits 25,6 Prozent registriert. Kinder wurden 1893 0,7 Prozent, 1895 bereits 1,69 Prozent gezählt.

Die kapitalistischen landwirtschaftlichen Betriebe zogen Arbeiter aus allen Ecken und Enden Russlands herbei, sortierten sie nach ihrem Bedarf und schufen so eine Art Hierarchie, ähnlich derjenigen der Fabrikarbeiter. Man unterscheidet z. B. Vollarbeiter, Halbarbeiter, unter den letztgenannten wiederum „größere Hilfsarbeiter" (16 bis 20 Jahre) und „kleine Hilfskräfte" (Kinder von 8 bis 14 Jahren). Von den sogenannten „patriarchalischen" Beziehungen zwischen dem Grundbesitzer und „seinen" Bauern bleibt hier keine Spur.Die Arbeitskraft wird zur Ware, so wie jede andere. Die „echtrussische" Knechtung verschwindet und macht wöchentlicher Lohnauszahlung, erbitterter Konkurrenz und Verabredungen von Arbeitern und Arbeitgebern Platz. Die Anhäufung großer Arbeitermassen an den Arbeitsmärkten sowie die entsetzlichen unhygienischen Arbeitsbedingungen führten zu Versuchen, eine öffentliche Kontrolle über die großen Gutswirtschaften einzuführen Diese Versuche sind für die „Großindustrie" in der Landwirtschaft charakteristisch, aber sie können dort natürlich angesichts des Fehlens politischer Freiheit und legaler Arbeiterorganisationen in keiner Weise von Dauer sein. Wie schwer die Arbeitsbedingungen der zugewanderten Arbeiter sind, kann man daran ermessen, dass die Arbeitszeit 12½ bis 15 Stunden beträgt. Unfälle bei der Arbeit an Maschinen sind eine alltägliche Erscheinung. Auch sind Berufskrankheiten (z. B. der an Dreschmaschinen beschäftigten Arbeiter) verbreitet, usw. In Russland sind am Ende des 19. Jahrhunderts alle „Herrlichkeiten“ der rein kapitalistischen Ausbeutung in ihrer höchsten amerikanischen Blüte neben rein mittelalterlichen, in vorgeschrittenen Ländern längst verschwundenen Methoden der Abarbeit und Fronwirtschaft zu beobachten. Die ganze gewaltige Mannigfaltigkeit der Agrarverhältnisse in Russland läuft auf diese Verflechtung fronwirtschaftlicher und bürgerlicher Ausbeutungsmethoden hinaus.

Um die Schilderung der Bedingungen der Lohnarbeit in der russischen Landwirtschaft abzuschließen, wollen wir noch auf die Haushaltsstatistik über die Wirtschaft der untersten Bauerngruppen verweisen. Die Lohnarbeit steht hier unter der euphemistischen Bezeichnung „Arbeitsverdienst“ oder „Gewerbe“. In welchem Verhältnis stehen die Einnahmen aus dieser Quelle zu den Einnahmen aus der Landwirtschaft? Die Woronescher Haushaltungsrechnungen der pferdelosen Bauern und der Bauern mit einem Pferd geben darüber genaue Auskunft. Die Gesamteinnahmen aus allen Quellen belaufen sich bei den pferdelosen Bauern auf 118,10 Rubel, davon entfallen auf die Landwirtschaft 57,11 Rubel, auf die „Gewerbe“ 59,04 Rubel. Die letzte Summe besteht aus 22,29 Rubel „verschiedener Einnahmen“. Zu diesen gehören auch Einnahmen aus der Bodenverpachtung! Bei den Bauern mit einem Pferd belaufen sich die Bruttoeinnahmen auf 178,12 Rubel, darunter 127,69 Rubel aus dem Ackerbau und 49.22 Rubel von Gewerben (35 Rubel von persönlichen Gewerben, 6 Rubel von Fuhrmannsdiensten, 2 Rubel aus „Handels- und Industrieunternehmungen und -anlagen“ und 6 Rubel verschiedene Einnahmen). Ziehen wir davon die Ausgaben für die Landwirtschaft ab, so verbleiben 69,37 Rubel Einnahmen aus dem Ackerbau gegenüber 49.22 Rubel aus Gewerben. So erwerben drei Fünftel der Gesamtzahl der Bauernhöfe Russlands ihren Lebensunterhalt. Es ist verständlich, dass die Lebenshaltung solcher Bauern nicht höher, ja manchmal niedriger ist als diejenige der Knechte. In demselben Gouvernement Woronesch beträgt der Durchschnittslohn für Arbeiter mit Jahresvertrag (Jahrzehnt 1881–1891) 57 Rubel, dazu der Unterhalt, der sich auf 42 Rubel stellt. Dagegen betragen die Unterhaltskosten der ganzen Familie (4 Personen) beim pferdelosen Bauer 78 Rubel im Jahr, beim Bauer mit einem Pferd und fünfköpfiger Familie 98 Rubel. Durch Abarbeit, Steuern und kapitalistische Ausbeutung ist der russische Bauer auf ein bettlerhaftes Hungerminimum der Lebenshaltung herabgedrückt, das in Europa unüblich erscheint. Dort bezeichnet man einen solchen sozialen Typ als Pauper.

VI

Um eine Bilanz unserer gesamten Ausführungen über die Zersetzung der Bauernschaft zu ziehen, wollen wir zuerst das einzige in der Literatur vorhandene zusammenfassende Material für das ganze Europäische Russland anführen, das uns die Möglichkeit gibt, über die verschiedenen Bauerngruppen zu verschiedenen Zeiten zu urteilen. Es ist das Material der militärischen Pferdezählungen. In der zweiten Ausgabe meines Buches „Die Entwicklung des Kapitalismus" habe ich dieses Material für 48 Gouvernements des Europäischen Russland für die Jahre 1888–1891 sowie 1896 bis 1900 zusammengefasst. Hier die wesentlichsten Ergebnisse:


Zahl der Bauernhöfe (in Millionen)

1888-1891

1896-1900

insges.

%

insges.

%

Bauern ohne Pferd

2,8

27,3

3,2

29,2

Mit einem Pferd

2,9

28,5

3,4

30,3

Mit zwei Pferden

2,2

22,2

2,5

22

Mit drei Pferden

1,1

10,6

1

9,4

Mit vier Pferden und darüber

1,1

11,4

1

9,1

Insgesamt

10,1

100

11,1

100

Diese Zahlen zeugen, wie bereits beiläufig bemerkt wurde von der wachsenden Expropriation der Bauernschaft. Der ganze Millionenzuwachs der Zahl der Bauernhöfe entfällt auf die Zunahme der untersten Gruppen. Die Gesamtzahl der Pferde ist in dieser Zeit von 16,91 auf 16,87 Millionen gesunken, d. h. die gesamte Bauernschaft ist an Pferden etwas ärmer geworden. Auch die oberste Gruppe, die 1888-1891 5,5 Pferde pro Hof hatte, ist 1896-1900 auf 5,4 gesunken.

Aus diesen Zahlen kann leicht der Schluss gezogen werden, dass sich in der Bauernschaft keine „Differenzierung" vollzieht: die ärmste Gruppe hat am meisten zugenommen, die reichste ist am stärksten zurückgegangen (nach der Zahl der Höfe). Das sei nicht Differenzierung, sondern Nivellierung des Elends! Solche Schlüsse, gestützt auf derartige Methoden, sind in der Literatur sehr häufig zu finden. Wenn wir aber die Frage stellen, ob sich das Wechselverhältnis der Gruppen in der Bauernschaft geändert hat, so sehen wir etwas ganz anders. 1888–1891 besaß die Hälfte der Bauernhöfe, die von den unteren Gruppen gebildet wird, 23.7 Prozent der Gesamtpferdezahl und in den Jahren 18961900 ebenso viel. Ein Fünftel der Höfe, die der wohlhabendsten Gruppen, besaß in der ersten Periode 52,6 Prozent der Gesamtpferdezahl, in der zweiten 53,2 Prozent. Es ist klar, dass das Verhältnis der Gruppen zueinander fast unverändert geblieben ist. Die Bauernschaft ist verarmt, die wohlhabenden Gruppen sind verarmt, die Krise von 1891 hat sich überaus stark ausgewirkt, doch die Stellung der ländlichen Bourgeoisie gegenüber der dem Ruin verfallenden Bauernschaft hat sich deswegen doch nicht geändert, und sie konnte es im Grunde genommen auch nicht.

Dieser Umstand wird oft von denjenigen übersehen, die es unternehmen, über die Zersetzung der Bauernschaft auf Grund einzelner statistischer Zahlen zu urteilen. Es wäre z. B. lächerlich, zu glauben, einzelne Angaben über die Verteilung der Pferde könnten, an und für sich genommen, auch nur irgendwie die Frage der Zersetzung der Bauernschaft aufhellen. Diese Verteilung beweist rein gar nichts, wenn man sie nicht im Zusammenhang mit dem gesamten Material über die Bauernwirtschaft betrachtet. Erst wenn wir dieses Material untersucht und gemeinsame Berührungspunkte zwischen den Bauerngruppen in der Verteilung von Bodenpacht und Bodenverpachtung, in der Verteilung der vervollkommneten Geräte und der Düngung, der Arbeitsverdienste und des Kauflandes, der Lohnarbeiter und des Viehstandes festgestellt, erst wenn wir bewiesen haben, dass alle diese verschiedenen Seiten der in Frage stehenden Erscheinung miteinander unlöslich verknüpft sind und tatsächlich die Herausbildung zweier entgegengesetzter Wirtschaftstypen, des Proletariats und der Dorfbourgeoisie, aufzeigen, erst wenn wir dies alles festgestellt und. nur in dem Maße, wie wir es feststellt haben, können wir einzelne Daten, auch Daten über die Verteilung der Pferde, zur Illustrierung des Ganzen, das oben dargelegt wurde, benutzen. Wenn man sich dagegen uns gegenüber auf den einen oder andern Fall eines Rückganges der Pferdezahl, nehmen wir an, bei den wohlhabenden Bauern, in einer bestimmten Periode beruft, so wäre es der größte Widersinn, daraus allein irgendwelche Schlüsse auf das Verhältnis zwischen der Dorfbourgeoisie und den anderen Gruppen der Bauernschaft zu ziehen. In keinem kapitalistischen Land, in keinem Wirtschaftszweig gibt es eine gleichmäßige Entwicklung, und es kann (unter der Herrschaft des Marktes) auch keine solche geben: anders als sprungweise, im Zickzack, bald mit raschen Schritten vorwärts eilend, bald vorübergehend unter das frühere Niveau zurück sinkend, kann sich der Kapitalismus nicht entwickeln. Und der Kern der Frage der russischen Agrarkrise und der bevorstehenden Umwälzung besteht gar nicht darin, welches denn der Entwicklungsgrad des Kapitalismus oder welches sein Entwicklungstempo sei, sondern darin, ob es eine kapitalistische Krise und Umwälzung ist oder nicht, ob sie sich unter den Verhältnissen einer Verwandlung der Bauernschaft in Dorfbourgeoisie und Proletariat vollzieht oder nicht, ob die Beziehungen zwischen den einzelnen Höfen innerhalb der Dorfgemeinde bürgerliche sind oder nicht. Mit anderen Worten: die erste Aufgabe jedweder Untersuchung der Agrarfrage in Russland ist die Feststellung der grundlegenden Daten für die Charakteristik des Klassenwesens der Agrarbeziehungen. Erst nachher, nachdem klargestellt ist, mit welchen Klassen und welcher Entwicklungsrichtung wir es zu tun haben, kann von Teilfragen, vom Entwicklungstempo, von den einen oder anderen Abweichungen von der allgemeinen Richtung usw. die Rede sein.

Die Grundlage der marxistischen Auffassung der russischen Bauernwirtschaft in der Zeit nach der Reform ist die Anerkennung ihres kleinbürgerlichen Wesens. Und der Streit zwischen den Ökonomen des marxistischen Lagers und den Narodniki-Ökonomen ging vor allem darum, ob diese Charakteristik richtig, ob sie auf die russische Bauernwirtschaft anwendbar ist (er musste auch darum gehen, wollte man tatsächlich den wahren Kern der Meinungsverschiedenheiten klarstellen). Ohne diese Frage mit aller Bestimmtheit herausgearbeitet zu haben, kann man keinen einzigen Schritt zu irgendeiner konkreteren oder praktischeren Frage tun. Es wäre z. B. ein gänzlich hoffnungsloses und von Konfusion zeugendes Unterfangen, wollte man die eine oder andere, vom 19. an das 20. Jahrhundert überlieferte Methode zur Lösung der Agrarfrage untersuchen, ohne vorher festgestellt zu haben, in welcher Richtung unsere Agrarrevolution überhaupt verläuft, welche Klassen bei dem einen oder andern Gang der Ereignisse gewinnen würden usw.

Die ausführlichen Daten, die wir oben über die Zersetzung der Bauernschaft zusammengetragen haben,schaffen namentlich über jene Grundlage aller übrigen Fragen der Agrarumwälzung Klarheit, ohne deren Verständnis man nicht weiter vordringen kann.Jene Summe der Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Bauerngruppen, die wir in den verschiedensten Gegenden Russlands bis ins Einzelne untersucht haben, zeigt uns gerade das Wesen der sozial-ökonomischen Beziehungen innerhalb der Dorfgemeinde. Diese Wechselbeziehungen zeigen uns anschaulich die kleinbürgerliche Natur der Bauernwirtschaft unter den gegebenen geschichtlichen Verhältnissen. Als die Marxisten sagten, der landwirtschaftliche Kleinproduzent (einerlei, ob er auf Anteilland oder auf einem andern wirtschaftet) sei unter der Entwicklung der Warenwirtschaft unvermeidlich ein Kleinbürger, rief dieser Satz Bedenken hervor; man sagte, er ließe sich nicht beweisen, er sei eine schablonenhafte Übertragung fremder Formeln auf unsere eigenartigen Verhältnisse. Doch die Daten über die Wechselbeziehungen der Gruppen, über das Überbieten der armen Gemeindemitglieder durch die reichen bei der Bodenpachtung, über die Beschäftigung von Knechten und die Verwandlung derselben in Lohnarbeiter durch die reichen Bauern, usw. usw. – dies alles bestätigt die Richtigkeit der theoretischen Folgerungen des Marxismus und macht sie unwiderleglich. Die Frage der Bedeutung der Dorfgemeinde für die Richtung der Wirtschaftsentwicklung Russlands wird durch diese Daten unwiderruflich entschieden, denn gerade diese tatsächliche Richtung der tatsächlichen (nicht einer bloß frei erfundenen) Dorfgemeinde wird durch unser Material aufgezeigt. Trotz des beim Anteilland geschaffenen Ausgleichs, trotz Bodenneuaufteilungen usw. erweist sich, dass die tatsächliche Wirtschaftsentwicklung unserer Bauern in der Dorfgemeinde gerade der Richtung der Entstehung einer Dorfbourgeoisie und der Hinausdrängung der Masse der armen Bauern in die Reihen des Proletariats verläuft. Sowohl die Stolypinsche Agrarpolitik, wie wir noch sehen werden, als auch die von den Trudowiki verlangte Nationalisierung des Bodens liegen in dieser Entwicklungsrichtung, obwohl zwischen diesen zwei Formen der „Lösung" der Agrarfrage vom Gesichtspunkt der Raschheit der sozialen Entwicklung, des Wachstums der Produktivkräfte und der maximalen Wahrung der Masseninteressen ein gewaltiger Unterschied besteht.

Wir haben jetzt noch die Frage der Entwicklung der für den Markt arbeitenden Landwirtschaft in Russland zu betrachten. Unsere bisherige Darstellung schloss als Voraussetzung die allgemein bekannte Tatsache in sich, dass sich die ganze Periode nach der Reform durch das Wachstum von Handel und Austausch auszeichnet. Die Beibringung statistischer Belege zur Erhärtung dieses Satzes scheint uns gänzlich überflüssig. Jedoch müssen wir zeigen, erstens, in welchem Maße die heutige Bauernwirtschaft bereits dem Markte untergeordnet ist, und zweitens, welche besonderen Formen die Landwirtschaft in dem Maße ihrer wachsenden Unterordnung unter den Markt annimmt.

Die genauesten Daten über die erste Frage sind in der Haushaltsstatistik des Semstwo von Woronesch enthalten. Wir können hier die Geldeinnahmen und -ausgaben einer Bauernfamilie aus den Gesamteinnahmen und -ausgaben ausscheiden (die Bruttoeinnahmen und -ausgaben wurden bereits mitgeteilt). Hier eine Tabelle, die die Rolle des Marktes zeigt:


Geldausgaben u.-einnahmen des Bauern im Vergleich zu seinen Gesamtausgaben u. -einnahmen (in Prozenten)

Bauern ohne Pferd

57,1

54,6

Bauern mit 1 Pferd

46.5

41,4

Bauern mit 2 Pferden

43.6

45,7

Bauern mit 3 Pferden

41,5

42,3

Bauern mit 4 Pferden

45,4

40,8

Bauern mit 5 Pferden und darüber

60,2

59,2

Im Durchschnitt

49,1

47,5

Somit ist die Wirtschaft selbst eines mittleren Bauern – von der Wirtschaft der wohlhabenden und der verarmten, halb proletarischen Bauern ganz zu schweigen – in außerordentlich starkem Maße dem Markt untergeordnet. Daher sind alle Ausführungen über die Bauernwirtschaft, die die vorherrschende und wachsende Rolle des Marktes, des Austausches, der Warenproduktion ignorieren, grundfalsch. Die Vernichtung der fronherrlichen Latifundien und des gutsherrlichen Landbesitzes, diese Maßnahmen, auf die sich Ende des 19. Jahrhunderts das ganze Denken und Fühlen der russischen Bauernschaft richtet, wird die Macht des Marktes nicht schwächen, sondern steigern, denn Abarbeit und Schuldknechtschaft hemmen die Entwicklung des Handels und der Warenproduktion.

Zur zweiten Frage muss darauf hingewiesen werden, dass das Eindringen des Kapitals in die Landwirtschaft ein eigenartiger Prozess ist, der nicht richtig verstanden werden kann, wenn man sich auf allgemeines, sich auf ganz Russland beziehendes Material beschränkt. Nicht mit einem Schlag wird die Landwirtschaft zu einer für den Markt arbeitenden, und diese Entwicklung geht in den verschiedenen Wirtschaften und in den verschiedenen Gegenden des Staates nicht gleichmäßig vor sich. Im Gegenteil, der Markt unterwirft sich gewöhnlich in der einen Gegend die eine, in einer anderen Gegend eine andere Seite der Landwirtschaft, kompliziert wie sie ist, wobei die übrigen Seiten nicht verschwinden, sondern sich der „ausschlaggebenden", das heißt der geldlichen Seite, anpassen. Z. B. bildet sich in der einen Gegend vorwiegend eine für den Markt arbeitende Getreidewirtschaft heraus; das Hauptprodukt, das für den Markt produziert wird, ist Getreide. In einer solchen Wirtschaft spielt die Viehzucht eine untergeordnete Rolle, und in den extremen Fällen einer einseitigen Entwicklung der getreidebauenden Wirtschaft verschwindet sie nahezu. So z. B. wurden die „Weizenfabriken" im amerikanischen Fernen Westen manchmal für die Dauer eines Sommers fast gänzlich ohne Vieh organisiert. In anderen Gegenden bildet sich eine hauptsächlich für den Markt arbeitende Viehzuchtwirtschaft heraus; die Hauptprodukte, die hier für den Absatz produziert werden, sind Fleisch- oder Milchprodukte. Die reine Ackerbauwirtschaft passt sich hier der Viehzucht an. Es ist klar, dass sowohl der Umfang der Wirtschaft als auch ihre Organisationsmethoden in den beiden Fällen verschieden sein werden. Eine in Stadtnähe gelegene Milchviehwirtschaft lässt sich nicht nach der Größe der Anbaufläche beurteilen. An die Wirtschaften eines Ackerbauers im Steppengebiet, eines Gemüsegärtners, eines Tabakbauers, eines „Milchfarmers" (um den englischen Ausdruck zu gebrauchen) usw. kann man nicht den gleichen Maßstab der Klein- und der Großwirtschaft anlegen.

Das Eindringen von Austausch und Handel in die Landwirtschaft führt zu ihrer stetig zunehmenden Spezialisierung. Die gleichen Wirtschaftsmerkmale (z. B. Zahl der Pferde) gewinnen in verschiedenen Gegenden mit einer für den Markt arbeitenden Landwirtschaft verschiedene Bedeutung. Unter den pferdelosen Bauern, die in der Umgebung der Hauptstadt leben, gibt es z. B. große Landwirte, die, sagen wir, Milchwirtschaft betreiben, großen Umsatz haben, Lohnarbeiter beschäftigen. In der allgemeinen Masse der Bauern ohne oder nur mit einem Pferd ist die Zahl solcher Farmer natürlich verschwindend klein; aber wenn wir nur mit allgemeinen, sich auf das ganze Land beziehenden Zahlen operieren, werden wir außerstande sein, die besondere Spielart des Kapitalismus in der Landwirtschaft zu erfassen.

Diesem Umstand muss besondere Aufmerksamkeit zugewandt werden. Wenn man ihn übersieht, kann man sich keinen richtigen Begriff von der Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft machen und verfällt leicht in den Fehler der Vereinfachung. Die ganze Kompliziertheit des Prozesses kann nur erfasst werden, wenn man den tatsächlichen Eigenheiten der Landwirtschaft Rechnung trägt. Die Behauptung, die Landwirtschaft unterstehe kraft ihrer Eigenart nicht den kapitalistischen Entwicklungsgesetzen, ist vollkommen hinfällig. Richtig ist, dass die Eigentümlichkeiten der Landwirtschaft ihre Unterordnung unter den Markt hemmen, aber dessen ungeachtet vollzieht sich überall und in allen Ländern ein unaufhaltsamer Prozess des Wachstums der für den Markt produzierenden Landwirtschaft. Die Formen dieser Herausbildung einer für den Markt produzierenden Landwirtschaft sind jedoch tatsächlich eigenartig und bedürfen zu ihrer Untersuchung besonderer Methoden.

Um das Gesagte zu erläutern, nehmen wir anschauliche Beispiele aus verschiedenen Gebieten der für den Markt produzierenden Landwirtschaft in Russland. Im Gebiet des Getreidebaus für den Markt (Neurussland, die Gebiete jenseits der Wolga) sehen wir ein äußerst rasches Steigen der Ernteerträge an Getreide: 1864–66 standen diese Gouvernements hinter dem Schwarzerdegebiet zurück und wiesen nur 2,1 Tschetwert reinen Ertrag pro Kopf der Bevölkerung auf; 1883–87 hatten sie mit einem reinen Ertrag von 3,4 Tschetwert pro Kopf das Zentrum bereits überflügelt. Erweiterung der Anbaufläche – das ist das Charakteristische für dieses Gebiet in der Zeit nach der Reform. Sehr oft sind hier die Methoden der Feldbestellung die allerprimitivsten – die ganze Aufmerksamkeit richtet sich ausschließlich auf die Beackerung einer möglichst großen Fläche. Hier entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Gebilde, die den amerikanischen „Weizenfabriken" ähnlich sind. Nach der Größe der Anbaufläche (die bei den obersten Bauerngruppen bis zu 271 Desj. pro Hof erreicht) kann man sehr wohl die Größe und den Charakter der Wirtschaft beurteilen. In einem andern Gebiet – im industriellen und besonders in der Nähe der Hauptstädte – kann von einer solchen Erweiterung der Anbaufläche keine Rede sein. Nicht Ackerbau für den Markt, sondern Viehzucht für den Markt ist hier besonders charakteristisch.Hier kann man sich nach der Zahl der bestellten Desjatinen oder der Zugpferde keinen richtigen Begriff mehr von der Wirtschaft machen. Eine viel bessere Handhabe ist hier die Zahl der Kühe (Milchwirtschaft). Änderung des Fruchtwechsels, Futtermittelbau, nicht aber Erweiterung der Anbaufläche sind hier das bezeichnende Merkmal des Fortschritts der Großwirtschaft. Die Zahl der Höfe mit viel Pferden ist hier geringer; unter Umständen kann der Rückgang der Pferdezahl sogar einen Fortschritt der Wirtschaft bedeuten. Dafür sind aber die dortigen Bauern an Kühen reicher als im übrigen Russland. Herr Blagoweschtschenski22 rechnete auf Grund der Semstwostatistik durchschnittlich 1,2 Kühe pro Hof; in 18 Kreisen der Gouvernements Petersburg, Moskau, Twer und Smolensk kommen 1,6 Kühe auf einen Hof und im Gouvernement Petersburg allein 1.8 Kühe. Sowohl das Handelskapital als auch das in der Produktion investierte operieren hier vornehmlich mit den Produkten der Viehzucht. Die Einkommenshöhe hängt am meisten von der Zahl der Milchkühe ab. Es entstehen „Milchfarmen". Es entwickelt sich die Beschäftigung von landwirtschaftlichen Lohnarbeitern durch die wohlhabenden Bauern; wir haben bereits darauf verwiesen, dass aus den verarmten Zentralgebieten Arbeitskräfte zu landwirtschaftlichen Arbeiten nach den industriellen Gouvernements abwandern. Kurz, die gleichen sozialen und ökonomischen Beziehungen treten hier in einer ganz anderen Form zutage, unter landwirtschaftlichen Verhältnissen, die von den rein ackerbaulichen verschieden sind.

Betrachten wir aber Spezialkulturen, z. B. den Tabakbau oder die Verbindung von Landwirtschaft und Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte (Spiritusbrennerei, Zuckerfabrikation, Ölgewinnung, Kartoffelstärkeproduktion usw.), so gleichen hier die Erscheinungsformen des Unternehmertums weder denen im Getreidebau für den Markt noch denen in der Viehzucht für den Markt. Als Maßstab muss hier entweder die Größe der Anbaufläche von Spezialkulturen oder aber die Größe des mit dieser Wirtschaft zur technischen Weiterverarbeitung ihrer Erzeugnisse verbundenen Betriebes genommen werden.

Die allgemeine Statistik der Landwirtschaft, die es nur mit der Größe der Anbaufläche oder nur mit der Viehzahl zu tun hat, berücksichtigt bei weitem nicht alle diese Mannigfaltigkeit der Formen, und daher erweisen sich Schlüsse, die sich einzig auf eine solche Statistik stützen, auf Schritt und Tritt als falsch. Das Wachstum der für den Markt produzierenden Landwirtschaft vollzieht sich viel rascher, der Einfluss des Austausches reicht viel weiter, das Kapital bewirkt eine viel tiefere Umwälzung der Landwirtschaft, als man es auf Grund allgemeiner Zahlen und abstrakter Durchschnittsgrößen annehmen kann.

VII

Fassen wir nunmehr unsere Darlegungen über das Wesen der Agrarfrage und der Agrarkrise in Russland am Ende des 19. Jahrhunderts zusammen.

Worin besteht das Wesen dieser Krise? In der Broschüre „Munizipalisierung oder Aufteilung als Eigentum" (Wilna 1907) betont M. Schanin, dass unsere Agrarkrise eine agrikulturelle ist. dass ihre tiefsten Wurzeln in der Notwendigkeit der Hebung der in Russland unglaublich tief stehenden landwirtschaftlichen Technik, in der Notwendigkeit des Übergangs zu rationelleren Bebauungsmethoden liegen, usw.

Diese Meinung ist falsch, weil zu abstrakt. Die Notwendigkeit des Übergangs zu einer höheren Technik ist unzweifelhaft, aber erstens hat er sich nach 1861 tatsächlich vollzogen. Wie langsam der Fortschritt auch war, so ist es doch unbestreitbar, dass sowohl die gutsherrliche als auch die bäuerliche Wirtschaft in Gestalt der wohlhabenden Minderheit allmählich zum Futtermittelbau, zur Anwendung vervollkommneter Geräte, zu systematischerer und sorgfältigerer Bodendüngung usw. übergegangen sind. Ist aber dieser langsame Fortschritt der landwirtschaftlichen Technik ein allgemeiner, sich seit 1861 vollziehender Prozess, so ist es klar, dass der Hinweis auf ihn noch nicht genügt, um die von allen anerkannte Verschärfung der Agrarkrise gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu erklären. Zweitens aber erleichtert jede der beiden im Leben vorkommenden Formen der Lösung der „Agrarkrise" – sowohl die Stolypinsche Lösung von oben durch Erhaltung des gutsherrlichen Grundbesitzes und endgültige Vernichtung der Dorfgemeinde, ihre Ausplünderung durch die Kulaken, als auch die bäuerliche (von den Trudowiki befürwortete) Lösung von unten durch Vernichtung des gutsherrlichen Grundbesitzes und Nationalisierung des ganzen Bodens – in ihrer Weise den Übergang zu einer höheren Technik, liegen beide in der Richtung des agrikulturellen Fortschritts. Nur dass dieser Fortschritt bei der einen Lösung auf der Beschleunigung des Prozesses der Hinausdrängung der armen Bauern aus der Landwirtschaft, bei der anderen auf der Beschleunigung des Prozesses der Verdrängung der Abarbeit durch Vernichtung der fronherrlichen Latifundien beruht. Dass die armen Bauern auf ihrem Boden ganz erbärmlich „wirtschaften", ist eine unbestreitbare Tatsache, und es steht daher außer Zweifel, dass die Agrikultur sich heben würde, wenn man ihren Boden dem Häuflein wohlhabender Bauern zur Ausplünderung auslieferte. Doch genau ebenso unbestreitbar ist es auch, dass die auf Grund von Abarbeit und Schuldknechtschaft bearbeiteten gutsherrlichen Ländereien erbärmlich schlecht bestellt werden, schlechter als das Anteilland (man erinnere sich der oben mitgeteilten Zahlen: Ernteertrag der Anteilländereien 54 Pud pro Desjatine, der gutsherrlichen Felder in Eigenbewirtschaftung 66 Pud, in Halbpacht 50 Pud, in bäuerlicher Jahrespacht 45 Pud). Das Abarbeitssystem auf den Gütern bedeutet die Aufrechterhaltung unglaublich rückständiger landwirtschaftlicher Methoden, bedeutet die Verewigung der Barbarei sowohl in der Agrikultur als auch im ganzen öffentlichen Leben. Unzweifelhaft ist also, dass wenn man alle Abarbeit mit der Wurzel ausrottet, d. h. den ganzen gutsherrlichen Grundbesitz (und zwar ohne Entschädigung) aufhebt, die Agrikultur steigen wird.

Folglich besteht der Kern der Agrarfrage und der Agrarkrise nicht darin, dass die Hindernisse, die der Hebung des agrikulturellen Niveaus im Wege stehen, hinweg geräumt werden müssen, sondern darin, in welcher Weise, durch welche Klasse und durch welche Methode diese Hinwegräumung zu bewerkstelligen ist. Die Hinwegräumung dieser Hindernisse, die sich der Entwicklung der Produktivkräfte des Landes entgegenstellen, ist aber absolut notwendig – nicht nur im subjektiven, sondern auch im objektiven Sinne, d. h., diese Beseitigung ist unvermeidlich, und keine Macht der Welt ist imstande, ihr vorzubeugen.

Der Fehler M. Schanins, der auch von vielen anderen über die Agrarfrage schreibenden Autoren begangen wird, besteht darin, dass er den an sich richtigen Satz von der Notwendigkeit der Hebung der landwirtschaftlichen Technik allzu abstrakt behandelt und die eigenartigen Formen der Verflechtung fronherrlicher und kapitalistischer Züge in der russischen Landwirtschaft nicht berücksichtigt hat. Das größte und grundlegende Hindernis der Entwicklung der Produktivkräfte der russischen Landwirtschaft sind die Überreste der Fronherrschaft, d. h. vor allem Abarbeit und Schuldknechtschaft, dann auch die fronherrliche Besteuerung, die fehlende Gleichberechtigung der Bauernschaft, ihre niedrige Stellung gegenüber den höheren Ständen usw. usw. Die Beseitigung dieser Überreste der Fronherrschaft ist schon längst eine wirtschaftliche Notwendigkeit, und die landwirtschaftliche Krise hat sich am Ende des 19. Jahrhunderts gerade deshalb so unglaublich verschärft, weil der Prozess der Befreiung Russlands vom mittelalterlichen Wesen sich zu sehr in die Länge gezogen hat, Abarbeit und Schuldknechtschaft sich auf zu lange Zeit „eingelebt" haben. Ihr Absterbeprozess verlief nach 1861 so langsam, dass der neue Organismus gewaltsame Mittel zur raschen Abschüttelung der Fronherrschaft erforderte.

Wie ist dieser neue Wirtschaftsorganismus der russischen Landwirtschaft beschaffen? Wir haben uns in unserer Darstellung bemüht, dies besonders ausführlich zu schildern, da bei den Ökonomen des liberalen Narodnikitums hier besonders falsche Vorstellungen herrschen. Der neue Wirtschaftsorganismus, der bei uns heute die fronherrliche Schale zerbricht, heißt Landwirtschaft für den Markt und Kapitalismus. Die Ökonomik der gutsherrlichen Wirtschaft trägt, soweit diese nicht auf Abarbeit und Schuldknechtschaft des Anteilland besitzenden Bauern fußt, ganz ausgeprägt kapitalistische Züge. Die Ökonomik der Bauernwirtschaft zeigt uns – soweit wir es verstehen, in die Dorfgemeinde hineinzuschauen und zu betrachten, was dort, trotz des offiziell ausgleichenden Charakters des Anteillandbesitzes, in Wirklichkeit vor sich geht – ebenfalls überall rein kapitalistische Wesenszüge. Die Landwirtschaft, die für den Markt produziert, wächst in Russland unaufhörlich, trotz aller Hemmnisse, und verwandelt sich unvermeidlich in eine kapitalistische, obwohl die Formen dieser Verwandlung in höchstem Maße mannigfaltig und in den einzelnen Gegenden verschieden sind.

Worin muss jene Hinwegräumung der mittelalterlichen Schale bestehen, die für die weitere freie Entwicklung des neuen Wirtschaftsorganismus zur Notwendigkeit geworden ist? In der Vernichtung des mittelalterlichen Grundbesitzes. Mittelalterlich ist in Russland, bis zum heutigen Tage nicht nur der gutsherrliche, sondern zum beträchtlichen Teil auch der bäuerliche Grundbesitz. Wir haben gesehen, wie die neuen Wirtschaftsverhältnisse diesen mittelalterlichen Rahmen und die mittelalterlichen Schranken des Grundbesitzes sprengen, indem sie den armen Bauer zur Verpachtung seines angestammten Anteillandes zwingen, den wohlhabenden Bauer nötigen, seine verhältnismäßig große Wirtschaft aus Stückchen verschiedenen Bodens – Anteilland, Kaufland, beim Grundbesitzer gepachtetes Land – zusammenzusetzen. Auch die Tatsache, dass der gutsherrliche Boden zum Teil auf Grund von Abarbeit bebaut, zum andern Teil Bauern in Jahrespacht gegeben und zum dritten in eigener Regie bewirtschaftet wird, zeigt uns, dass die neuen Wirtschaftssysteme sich außerhalb des Rahmens des alten, mittelalterlichen Grundbesitzes herausbilden.

Dieser Grundbesitz kann mit einem Schlag vernichtet werden durch entschlossenen Bruch mit der Vergangenheit. Eine solche Maßnahme ist die Nationalisierung des Bodens, die in den Jahren 1905-1907 von allen Vertretern der Bauernschaft mehr oder weniger konsequent verlangt wurde. Die Aufhebung des Privateigentums an Grund und Boden ändert nichts an den bürgerlichen Grundlagen des für den Markt arbeitenden und kapitalistischen Grundbesitzes. Nichts verkehrter als die Meinung, Nationalisierung des Bodens hätte etwas mit Sozialismus oder selbst mit ausgleichender Bodennutzung zu tun. Der Sozialismus besteht bekanntlich in der Beseitigung der Warenwirtschaft. Nationalisierung ist aber Verwandlung des Bodens in Staatseigentum, und die Privatwirtschaft auf diesem Boden wird von einer solchen Verwandlung in keiner Weise berührt. Ob nun der Boden Eigentum oder „Gemeingut" des ganzen Landes, des ganzen Volkes ist – das System der Bewirtschaftung des Bodens ändert sich deshalb nicht, ebenso wenig wie das (kapitalistische) Wirtschaftssystem des wohlhabenden Bauern sich ändert, ob er nun Land „für ewige Zeiten" kauft oder ob er gutsherrlichen Boden oder Kronland pachtet, ob er die brachliegenden Anteilländereien der heruntergekommenen armen Bauern „sammelt". Da der Tauschverkehr bestehen bleibt, so ist es lächerlich, von Sozialismus zu reden. Der Austausch von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Produktionsmitteln steht aber in keinerlei Abhängigkeitsverhältnis zur Form des Grundbesitzes. (Ich bemerke nebenbei, dass ich hier nur die ökonomische Bedeutung der Nationalisierung erläutere, sie aber nicht als Programm verfechte: dies tue ich in der oben genannten Arbeit.)

Was die Ausgleichung betrifft, so haben wir oben ihre tatsächliche Anwendung bei der Verteilung des Anteillandes bereits gezeigt. Wir haben gesehen, dass der Anteilboden innerhalb der Dorfgemeinde ziemlich gleichmäßig, nur mit einer leisen Begünstigung der reichen Bauern verteilt ist. Aber infolge der Verpachtung des Bodens durch die armen und der Konzentration der Pacht in den Händen der reichen Bauern bleibt von dieser Bodenausgleichung in Wirklichkeit sehr wenig übrig. Es ist klar, dass keine gleichmäßige Verteilung des Grundbesitzes imstande ist, die Ungleichmäßigkeit der tatsächlichen Bodennutzung zu beseitigen, wenn es Unterschiede in der Vermögenslage der einzelnen Landwirte gibt und das Tauschsystem, das diese Unterschiede noch mehr verschärft, fortbesteht.

Die ökonomische Bedeutung der Nationalisierung liegt nicht da, wo sie zumeist gesucht wird. Nicht im Kampfe gegen bürgerliche Verhältnisse besteht sie (denn Nationalisierung ist die konsequenteste bürgerliche Maßnahme, wie Marx schon längst gezeigt hat),23 sondern im Kampfe gegen fronwirtschaftliche Verhältnisse. Die Buntscheckigkeit des mittelalterlichen Grundbesitzes hemmt die Wirtschaftsentwicklung; die ständischen Schranken hindern den Warenverkehr; die Unvereinbarkeit von altem Grundbesitz und neuer Wirtschaft lässt scharfe Widersprüche entstehen; die Latifundien haben zur Folge, dass die Abarbeit von den Grundherren aufrechterhalten wird. Die Bauern sind in den Anteilbodenbesitz wie in ein Ghetto gezwängt, dessen Rahmen jedoch das Leben auf Schritt und Tritt sprengt. Die Nationalisierung fegt alle mittelalterlichen Verhältnisse auf dem Gebiete des Grundbesitzes restlos hinweg, reißt alle auf dem Boden aufgerichteten künstlichen Schranken nieder, macht den Boden wirklich frei – frei für wen? Für jeden Bürger? Nichts dergleichen! Die Freiheit des pferdelosen Bauern (d. h. von 3,5 Millionen Höfen) besteht, wie wir gesehen, darin, das Anteilland zu verpachten. Der Boden wird frei für den wirklichen Landwirt, für den, der ihn tatsächlich so bebauen will und kann, wie es die modernen Wirtschaftsverhältnisse überhaupt und die Weltmarktverhältnisse insbesondere verlangen. Die Nationalisierung würde den Tod der Fronherrschaft und die Entwicklung eines rein bürgerlichen Farmertums auf einem von jedem mittelalterlichen Plunder befreiten Boden beschleunigen. Das ist die wahre geschichtliche Bedeutung der Nationalisierung in Russland gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

Der andere, objektiv nicht unmögliche Weg der Bereinigung der Grundbesitzverhältnisse im Sinne des Kapitalismus besteht, wie wir gesehen haben, in der beschleunigten Ausplünderung der Dorfgemeinde durch die Reichen sowie im Erstarken des privaten Grundbesitzes der wohlhabenden Bauern. Die Hauptquelle der Abarbeit und der Schuldknechtschaft bleibt dabei unversehrt, die gutsherrlichen Latifundien bestehen weiter. Es ist klar, dass eine solche Art der Freilegung des Weges für den Kapitalismus in ungleich geringerem Maße eine freie Entwicklung der Produktivkräfte sichert als die erste. Bleiben die Latifundien bestehen, so ist auch das Weiterbestehen des der Schuldknechtschaft ausgelieferten Bauern, der Halbpacht, der kleinen Jahrespacht, der Bestellung des „herrschaftlichen" Bodens mit bäuerlichem Inventar, d. h. die Aufrechterhaltung der rückständigsten Kultur und jener ganzen asiatischen Barbarei unvermeidlich, die als ländliche patriarchalische Verhältnisse bezeichnet wird.

Die beiden von mir aufgezeigten Wege der „Lösung" der Agrarfrage in dem sich entwickelnden bürgerlichen Russland entsprechen den zwei Entwicklungswegen des Kapitalismus in der Landwirtschaft. Ich bezeichne sie als den preußischen und den amerikanischen. Der erste wird dadurch gekennzeichnet, dass die mittelalterlichen Grundbesitzverhältnisse nicht mit einem Schlage vernichtet werden, sondern dass sie sich langsam dem Kapitalismus anpassen, dem infolgedessen noch lange Zeit hindurch halb feudale Züge anhaften. Der preußische gutsherrliche Besitz wurde von der bürgerlichen Revolution nicht zerschlagen, sondern blieb erhalten und wurde zur Grundlage der „junkerlichen" Wirtschaft, die in ihrer Grundlage kapitalistisch ist, bei der aber doch eine gewisse Abhängigkeit der ländlichen Bevölkerung bestehen bleibt, wie z. B. die Gesindeordnung zeigt, usw. Dadurch wurde die soziale und politische Herrschaft der Junker nach der Revolution von 1848 auf Jahrzehnte hinaus gefestigt, und die Entwicklung der Produktivkräfte der Landwirtschaft in Deutschland vollzog sich ungleich langsamer als in Amerika. Dort diente im Gegenteil nicht die alte Sklavenwirtschaft der Großgrundbesitzer (die war vom Bürgerkrieg zerschlagen worden) als Grundlage der kapitalistischen Landwirtschaft, sondern die freie Wirtschaft des freien Farmers auf freiem Boden – frei einerseits von allen mittelalterlichen Fesseln, von Fronherrschaft und Feudalismus, andererseits auch von den Fesseln des Privateigentums an Grund und Boden. Der Boden wurde aus den gewaltigen Bodenvorräten Amerikas gegen nominelle Zahlung vergeben, und erst auf neuer, durchaus kapitalistischer Grundlage hat sich jetzt dort das Privateigentum an Grund und Boden entwickelt.

Diese beiden Wege der kapitalistischen Entwicklung hoben sich in Russland nach 1861 ganz deutlich ab. Der Fortschritt der gutsherrlichen Wirtschaft ist unzweifelhaft, wobei aber das langsame Tempo dieses Fortschritts nicht zufällig, sondern unvermeidlich ist, solange Überreste der Fronwirtschaft fortbestehen. Unzweifelhaft ist auch, dass je freier die Bauernschaft, je weniger sie von den Überresten der Leibeigenschaft bedrückt (im Süden z. B. sind alle diese günstigen Voraussetzungen zu finden), je besser sie endlich im Großen und Ganzen mit Boden versorgt ist, desto rascher auch die Zersetzung der Bauernschaft, die Herausbildung einer Klasse landwirtschaftlicher Unternehmer, Farmer, vor sich geht. Die ganze Frage der weiteren Entwicklung des Landes läuft darauf hinaus, welcher dieser beiden Entwicklungswege endgültig die Oberhand gewinnen und, dementsprechend, welche Klasse, der alte Fron- und Grundherr oder der freie Bauernfarmer, die notwendige und unvermeidliche Umgestaltung vornehmen wird.

Bei uns wird oft angenommen, Nationalisierung des Bodens bedeute seine Ausschließung vom Handelsverkehr. Auf diesem Standpunkt steht zweifellos auch die Mehrzahl der vorgeschrittenen Bauern und der Ideologen der Bauernschaft. Das ist aber eine grundfalsche Auffassung. Gerade umgekehrt. Das Privateigentum an Grund und Boden ist ein Hindernis für die freie Betätigung des Kapitals am Grund und Boden. Bei freier Bodenpachtung vom Staat (die ja das Wesen der Nationalisierung in der bürgerlichen Gesellschaft bildet) wird daher der Boden stärker in den Handelsverkehr hineingezogen als unter der Herrschaft des Privateigentums an Grund und Boden. Freiheit der Kapitalbetätigung am Boden, Freiheit der Konkurrenz in der Landwirtschaft ist bei freier Pacht viel größer als bei Privateigentum. Nationalisierung des Bodens ist sozusagen Landlordismus ohne Landlord.Darüber aber, was der Landlordismus für die kapitalistische Entwicklung der Landwirtschaft bedeutet, enthalten die „Theorien über den Mehrwert" von Marx überaus tiefe Betrachtungen. Ich habe seine Ausführungen in der oben genannten Arbeit über das Agrarprogramm gebracht,* möchte sie aber, mit Rücksicht auf die Bedeutung der Frage, hier noch einmal wiederholen:

Im Paragraph über die historischen Bedingungen der Ricardoschen Rententheorie („Theorien über den Mehrwert", 2. Band, Teil, Stuttgart 1905, Seite 6/7) sagt Marx, Ricardo und Anderson „gehen von der auf dem Kontinent so wunderlich scheinenden Ansicht aus, dass ... kein Grundeigentum als Fessel für die beliebige Kapitalanlage auf Grund und Boden existiere". Auf den ersten Blick scheint dies ein Widerspruch zu sein, da man ja annimmt, dass das feudale Grundeigentum sich gerade in England am stärksten erhalten habe. Doch gibt Marx die Erklärung hierfür:

Nirgendwo in der Welt hat die kapitalistische Produktion... so rücksichtslos mit den traditionellen Verhältnissen des Ackerbaus geschaltet. England ist in dieser Hinsicht das revolutionärste Land der Welt. Alle historisch überlieferten Verhältnisse, nicht nur die Lage der Dorfschaften, sondern die Dorfschaften selbst, nicht nur die Wohnsitze der landwirtschaftlichen, Bevölkerung sondern diese Bevölkerung selbst, nicht nur die ursprünglichen Zentren der Bewirtschaftung, sondern diese Bewirtschaftung selbst, sind rücksichtslos weggefegt worden, wo sie den Bedingungen der kapitalistischen Produktion auf dem Lande widersprachen oder nicht entsprachen. Der Deutsche zum Beispiel findet die wirtschaftlichen Verhältnisse bestimmt durch die traditionellen Verhältnisse von Feldmarken, Lage der Wirtschaftszentren, bestimmte Konglomerationen der Bevölkerung. Der Engländer findet die historischen Bedingungen der Agrikultur vom Kapital seit dem Ende des 15. Jahrhunderts progressiv geschaffen vor. Der in dem Vereinigten Königreich gebräuchliche technische Ausdruck des ,Clearing of estates‘ (Reinigung des Grundbesitzes“) findet sich auf keinem kontinentalen Land Was heißt aber dieses Clearing of estates? Dass ohne alle Rücksicht auf die ansässige Bevölkerung, die weggejagt wird, Dorfschaften, die rasiert, Wirtschaftsgebäude, die niedergerissen, Spezies der Landwirtschaft die auf einen Schlag umgewandelt, zum Beispiel aus Ackerbau in Viehweide verwandelt, alle Produktionsbedingungen nicht akzeptiert werden, wie sie traditionell sind, sondern historisch so gemacht werden, wie sie unter den Umständen für die vorteilhafteste Anlage des Kapitals sein müssen. Insofern existiert also kein Grundeigentum; es lässt das Kapital – den Pächter – frei wirtschaften, da es ihm bloß um das Geldeinkommen zu tun ist. Ein „pommerscher Gutsbesitzer“ (Marx meint hier Rodbertus, dessen Rententheorie er in diesem Werk glänzend und ausführlich widerlegt) mit seinen angestammten Feldflurmarschen, Wirtschaftszentren und dem Landwirtschaftskollegium usw. im Kopfe, mag daher die Hände über dem Kopfe zusammenschlagen über die ,unhistorische' Ansicht, die Ricardo von der Entwicklung der Ackerbauverhältnisse hat." In Wirklichkeit seien „die englischen Verhältnisse ... die einzigen, worin sich das moderne Grundeigentum, das heißt das durch die kapitalistische Produktion modifizierte Grundeigentum adäquat" (mit idealer Vollkommenheit) „entwickelt hat. Die englische Anschauung" (d. h. die Ricardosche Rententheorie) „ist hier für die moderne, die kapitalistische Produktionsweise die klassische."

In England vollzog sich diese Reinigung des Bodens in revolutionären Formen mit gewaltsamer Zerstörung des bäuerlichen Grundbesitzes. Die Zerstörung des Althergebrachten, das sich bereits überlebt hat, ist auch in Russland absolut unvermeidlich, doch das 19. Jahrhundert und auch die ersten sieben Jahre des 20. Jahrhunderts haben die Frage noch nicht gelöst, welche Klasse diese für uns notwendige Umwälzung vornehmen wird und in welcher Form. Wir haben in unseren Ausführungen die Grundlagen der heutigen Bodenverteilung in Russland aufgezeigt. Wir haben gesehen, dass 10,5 Millionen Bauernhöfe mit 75 Millionen Desjatinen 30.000 Latifundienbesitzern mit 70 Millionen Desjatinen gegenüberstehen. Ein möglicher Ausgang des Kampfes, der auf solcher Grundlage notwendig entbrennen muss. besteht darin, dass der Bodenbesitz von 10 Millionen Höfen sich nahezu verdoppeln, derjenige der oberen Dreißigtausend verschwinden wird. Betrachten wir diesen möglichen Ausgang rein theoretisch, von dem Standpunkte, welche Gestalt die Agrarfrage in Russland am Ende des 19. Jahrhunderts angenommen hat. Welches müsste die Folgen einer solchen Umwandlung sein? In Bezug auf die Grundbesitzverhältnisse ist es klar, dass der mittelalterliche Anteillandbesitz und der mittelalterliche gutsherrliche Besitz gänzlich neu aufgeteilt werden würden. Das Alte würde bis aufs Letzte weggefegt werden. Alles Überlieferte würde aus den Grundbesitzverhältnissen verschwinden. Welche Kraft würde aber die neuen Grundbesitzverhältnisse bestimmen? Etwa das Ausgleichs-„Prinzip"? Zu diesem Glauben neigt der fortgeschrittene, von der Ideologie des Narodnikitums berührte Bauer. So denkt der Narodnik. Aber es ist eine Illusion. In der Dorfgemeinde führt das als Gesetz anerkannte und durch das Herkommen geheiligte „Prinzip" des Ausgleichs in Wirklichkeit dazu, dass der Grundbesitz sich den Unterschieden in der Vermögenslage anpasst. Daher behaupten wir auf Grund dieser ökonomischen Tatsache, die von russischen wie von westeuropäischen Daten tausendfach bestätigt wird, dass die auf den Ausgleich gesetzten Hoffnungen wie eine Illusion verfliegen, die Neuaufteilung des Grundbesitzes aber als einziges sicheres Resultat bestehen bleiben würde. Ist die Bedeutung eines solchen Resultats groß? Außerordentlich groß, denn keine andere Maßnahme, keine andere Reform, keine andere Umgestaltung könnte so vollständige Garantien für den raschesten, breitesten und freiesten Fortschritt der landwirtschaftlichen Technik in Russland sowie für das Verschwinden aller Spuren der Fronherrschaft, ständischer Verfassung und Asiatentums aus unserem Leben geben.

Technischer Fortschritt? – wird man uns wohl entgegnen. Aber haben die oben angeführten genauen Zahlen nicht gezeigt, dass die gutsherrliche Wirtschaft sowohl im Futtermittelbau als auch in der Anwendung von Maschinen, sowohl in der Düngung als auch natürlich in der Qualität des Viehs usw. höher steht als die bäuerliche? Ja, das ist nachgewiesen, und diese Tatsache steht außer allem Zweifel. Doch man darf nicht vergessen, dass alle diese Unterschiede in der Wirtschaftsorganisation, Technik usw. im Ernteertrag ihren Niederschlag finden. Wir haben aber gesehen, dass der Ernteertrag des auf Halbpacht oder auf Abarbeit in ähnlicher Form von den Bauern bebauten gutsherrlichen Bodens niedriger ist als der Ernteertrag des Anteillandes. Dieser Umstand wird fast immer vergessen, wenn man vom agrikulturellen Niveau der gutsherrlichen und der bäuerlichen Wirtschaft in Russland spricht! Die gutsherrliche Wirtschaft steht höher, soweit sie kapitalistisch betrieben wird. Und das ist eben der Kern der Sache, dass dieses ..soweit" am Ende des 19. Jahrhunderts die Abarbeit als das in unsern zentralen Gebieten vorherrschende Wirtschaftssystem in Kraft gelassen hat. Soweit der gutsherrliche Boden auch heute noch von geknechteten Bauern mit Hilfe ihrer altväterlichen Geräte, Methoden usw. bebaut wird, soweit ist der gutsherrliche Besitz die Hauptquelle von Rückständigkeit und Stagnation. Die von uns erörterte Umgestaltung des Grundbesitzes würde den Ernteertrag der in Halb- und Ganzpacht befindlichen Ländereien heben (heute beträgt er – siehe die Ziffern oben 50 und 45 Pud, für Anteilland 54 Pud und für die vom Gutsbesitzer in eigener Regie bebauten Felder 66 Pud). Selbst wenn diese Erträge nur auf das Niveau des Ernteertrags des Anteillandes stiegen, so würde das einen gewaltigen Fortschritt bedeuten. Aber es ist selbstverständlich, dass auch der Ernteertrag des Anteillandes steigen würde, sowohl infolge der Befreiung des Bauern vom Druck der fronherrlichen Latifundien als auch deshalb, weil dann das Anteilland sowie aller andere dem Staate gehörende Boden frei und (nicht allen Bürgern, sondern nur solchen, die landwirtschaftliches Kapital besitzen, d. h.) den Farmern in gleicher Weise zugänglich würde.

Dieser Schluss folgt keineswegs aus den von uns angeführten Zahlen über die Ernteerträge. Im Gegenteil, diese Zahlen sind von uns nur als anschauliche Illustrationen des Schlusses angeführt, der aus der ganzen Gesamtheit des Materials über die Evolution der gutsherrlichen und bäuerlichen Wirtschaft folgt. Um diesen Schluss zu widerlegen, muss man die Tatsache widerlegen, dass die Geschichte des russischen Grundbesitzes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Geschichte der Ablösung der fronherrlichen Produktionsverhältnisse durch die bürgerlichen ist.

Wenn man sich an die Angaben über die gegenwärtige Zahl der Bauernwirtschaften hält, so kann der Eindruck entstehen, dass die von uns erörterte Agrarumwälzung zu einer außerordentlichen Zersplitterung der Landwirtschaft führen würde. Man bedenke: 13 Millionen Wirtschaften auf 280 Millionen Desjatinen – ist das nicht eine ungeheuerliche Zersplitterung? Wir antworten darauf: eine beispiellose Zersplitterung ist das, was wir heute sehen, denn heute zählen wir 13 Millionen Wirtschaften auf einer Fläche von weniger als 280 Millionen Desjatinen! Folglich würde die uns interessierende Änderung in dieser Hinsicht keinesfalls eine Verschlechterung bringen. Doch nicht genug damit. Wir stellen weiter die Frage, ob Grund zu der Annahme vorhanden ist, dass die Gesamtzahl der Wirtschaften bei dieser Umgestaltung unverändert bleiben wird. Das wird zumeist angenommen, und zwar unter dem Einfluss der Theorien des Narodnikitums und der Meinungen der Bauern selbst, deren ganzes Denken und Trachten dem Boden gilt und die imstande sind, selbst von der Verwandlung der Industriearbeiter in kleine Landwirte zu träumen.Zweifelsohne steht am Ende des 19. Jahrhunderts auch ein Teil der russischen Industriearbeiter auf diesem bäuerlichen Standpunkt. Aber es handelt sich darum, ob dieser Standpunkt richtig ist, ob er den objektiven wirtschaftlichen Verhältnissen und dem Gang der Wirtschaftsentwicklung Rechnung trägt. Es genügt, diese Frage mit aller Klarheit zu stellen, um zu sehen, dass die bäuerliche Auffassung sich auf die absterbende und unwiederbringlich versinkende Vergangenheit, nicht aber auf die heranwachsende Zukunft stützt. Der bäuerliche Standpunkt ist falsch. Er ist die Ideologie von gestern, die Wirtschaftsentwicklung aber führt in Wirklichkeit nicht zur Zunahme, sondern zum Rückgang der landwirtschaftlichen Bevölkerung.

Die von uns erörterte Wandlung der Grundbesitzverhältnisse wird und kann den Rückgang der landwirtschaftlichen Bevölkerung, der allen sich kapitalistisch entwickelnden Ländern eigentümlich ist, nicht beseitigen. Wie soll diese Umgestaltung – wird man sich wohl fragen – eine Verringerung der landwirtschaftlichen Bevölkerung zur Folge haben, wenn doch der Zutritt zum Boden für alle frei sein wird? Ich antworte darauf mit einem Zitat aus der Dumarede eines Bauernabgeordneten, des Herrn Tschischewski (Gouvernement Poltawa). Er führte in der Sitzung vom 24. Mai 1906 aus:

Unsere Bauern, die Wahlmänner, die uns hergeschickt haben, stellen z. B. die folgende Berechnung an: ,Wenn wir etwas reicher wären und jede unserer Familien die Möglichkeit hätte, jährlich fünf bis sechs Rubel für Zucker auszugeben, so würden in jedem Kreise, wo Zuckerrübenbau möglich ist, außer den bereits heute vorhandenen, mehrere neue Zuckerfabriken entstehen'. Es ist ganz klar, wie viel Arbeitskräfte die Wirtschaft, falls diese Zuckerfabriken entstehen würden, bei ihrer Intensivierung erfordern würde! Die Produktion der Zuckerfabriken würde steigen usw." (Stenogr. Bericht, S. 622)

Das ist eine außerordentlich bezeichnende Äußerung eines Lokalpolitikers. Fragte man ihn um seine Meinung über die Bedeutung der Umgestaltung der Agrarverhältnisse überhaupt, so würde er sicher Auffassungen im Sinne des Narodnikitums äußern. Doch da es nicht um „Auffassungen", sondern um konkrete Folgen der Umgestaltung ging, gewann die kapitalistische Wahrheit sofort die Oberhand über die Utopie des Narodnikitums. Denn was die Bauern ihrem Abgeordneten Herrn Tschischewski gesagt haben, ist eben kapitalistische Wahrheit, die Wahrheit kapitalistischer Wirklichkeit. Die Zunahme der Zahl der Zuckerfabriken und ihrer Produktion wäre bei jeder einigermaßen ernsten Hebung der Lage der Masse der kleinen Landwirte tatsächlich ungeheuer; und es ist ganz klar, dass dadurch nicht nur die Zuckerindustrie, sondern auch alle Zweige der verarbeitenden Industrie: Textil-, Eisenindustrie, Maschinenbau, Metallindustrie, Baugewerbe usw. einen mächtigen Antrieb erhalten und eine „Masse von Arbeitshänden" erfordern würden. Und diese wirtschaftliche Notwendigkeit würde sich viel stärker erweisen als alle noch so schönen Hoffnungen und Träume von Ausgleichung. Keinerlei Agrarumgestaltung, keinerlei Änderung der Grundbesitzverhältnisse, keinerlei „Bodenzuteilung" vermag Millionen pferdeloser Höfe zu wirklichen „Landwirten" zu machen. Diese Millionen pferdeloser Bauern (ja auch ein gut Teil der Bauern mit einem Pferd) plagen sich, wie wir gesehen, auf ihrem Stückchen Boden, verpachten ihre Landanteile. Eine amerikanische Entwicklung der Industrie würde unfehlbar die Mehrzahl dieser, in einer kapitalistischen Gesellschaft perspektivlosen „Wirte" von der Landwirtschaft abbringen, und kein „Recht auf Boden" würde imstande sein, dies zu verhindern. Dreizehn Millionen kleiner Wirtschaften, die mit ihrem in höchstem Grade dürftigen, kümmerlichen, veralteten Inventar auf ihrem eigenen Anteilland und auf den gutsherrlichen Feldern herumstochern – das ist die heutige Wirklichkeit; das ist eine künstliche agrarische Übervölkerung, künstlich im Sinne ererbter Erhaltung jener fronherrschaftlichen Überreste, die sich längst überlebt haben und sich ohne Exekutionen, Niederschießungen, Strafexpeditionen usw. nicht einen Tag lang halten könnten. Jede ernstliche Hebung der Lage der Massen, jeder ernste Schlag gegen die fronherrschaftlichen Überreste würde diese Übervölkerung des Dorfes unvermeidlich verringern, den (sich heute langsam vollziehenden) Prozess der Abwanderung der Bevölkerung von der Landwirtschaft zur Industrie ungeheuer beschleunigen, die Zahl der Wirtschaften von 13 Millionen auf eine erheblich niedrigere Ziffer herabdrücken, Russland im amerikanischen und nicht wie bisher im chinesischen Tempo vorwärts bringen.

Die Agrarfrage in Russland am Ende des 19. Jahrhunderts hat den Gesellschaftsklassen die Aufgabe gestellt: der fronherrschaftlichen Vergangenheit ein Ende zu bereiten und den Grundbesitz frei zu machen, dem Kapitalismus, dem Wachstum der Produktivkräfte, dem freien und offenen Klassenkampf die Bahn frei zu lachen. Und dieser Klassenkampf wird auch bestimmen, auf eiche Weise diese Aufgabe gelöst werden wird.

1. Juli (n. St.) 1908

1 „Diese Schrift wurde 1908 für das Konversationslexikon von Granat verfasst", heißt es im Nachwort zur Ausgabe von 1918. Von Lenin im März-April 1908 verfasst, konnte sie aus Zensurrücksichten nicht erscheinen und wurde erst 1919 im Verlag „Schisn i Snanije" veröffentlicht (Bibliothek für Gesellschaftskunde, Buch Nr. 51, Moskau 1918, 80 Seiten). Vom Manuskript sind nur einige Schlussseiten erhalten, und zwar von den Worten an „die ursprünglichen Zentren der Bewirtschaftung" (S. 335 vorliegenden Bandes). Das Manuskript ist in Maschinenschrift hergestellt.

Die „Agrarfrage" stützt sich, wie Lenin selbst mitteilt, auf seine zwei Arbeiten „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland" und „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution 1905-1907". Ihnen sind sämtliche Zahlen und eine Reihe von Schlussfolgerungen entnommen, worüber Lenin selbst auf Seite 264 vermerkt: „Um den Text durch Zitate nicht zu bunt zu gestalten, bemerken wir hier ein für allemal, dass die Angaben größtenteils der obenerwähnten Arbeit (d. h. dem Aufsatz: „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie". D. Red.) sowie der Arbeit ,Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland', 2. Auflage, St. Petersburg 1908, entnommen sind".

2 Der genaue Titel lautet: „Grundbesitz-Statistik für 1905, Statistische Übersicht für 50 Gouvernements des Europäischen Russland", herausgegeben vom Zentralen Statistischen Komitee des Innenministeriums, St. Petersburg 1907. Außer dieser allgemeinen Übersicht wurden 50 Teilübersichten, für jedes Gouvernement gesondert, herausgegeben.

A Um den Text durch Zitate nicht zu bunt zu gestalten, bemerken wir hier ein für allemal, dass die Angaben größtenteils der obenerwähnten Arbeit sowie der Arbeit „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland", 2. Auflage, St. Petersburg 1908, entnommen sind.

3 Eine genaue Aufstellung in dieser Frage wurde von N. A. Rubakin in der Zeitung „Syn Otjetschestwa" vom 3. Mai (20. April) 1905, Nr. 54, unter dem Titel „Unsere herrschende Bürokratie in Zahlen" veröffentlicht, später nachgedruckt in seinem Buch „Russland in Zahlen", Verlag „Wjestnik Snanija" von Bitner, St. Petersburg 1912, Seite 67.

4 Es handelt sich hier um einige Überreste fronwirtschaftlicher und halb fronwirtschaftlicher Beziehungen.

5 Lenin beruft sich hier auf folgendes Werk: „Sammlung Statistischer Daten für das Gouvernement Saratow", Bd. 1, Kreis Saratow, herausgegeben vom Saratower Semstwo 1883.

B So sind z. B. zu den Latifundien außer den 62 Millionen Desjatinen Gutsland noch 5,1 Millionen Desjatinen Apanageland und 3,6 Millionen Desjatinen der 272 Handels- und Industriegesellschaften gezählt, von denen jede über 1000 Desjatinen besitzt.

6 Lenin zitiert hier folgendes Buch: A. Mertwago, „Wie viel Boden gibt es in Russland und wie wird er benutzt?", veröffentlicht zusammen mit der Arbeit von S. N. Prokopowitsch, „Wie viel Boden gibt es in Russland und wie wird er bewirtschaftet?", 1907, S. 19–28.

7 In dem von Lenin zitierten Buch von A. Mertwago ist folgendes Werk gemeint: „Beiträge zur Kenntnis des Russischen Reiches und der angrenzenden Länder Asiens. Auf Kosten der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von K. E. Baer und Gr. Helmersen". Insgesamt erschienen 11 Bände, 1841–1845.

8 Der vollständige Titel des Buches lautet: S. A. Korolenko, „Freie Lohnarbeit in den Wirtschaften der Grundbesitzer und die Wanderbewegung der Arbeiter in Verbindung mit einer statistischen Übersicht über das Europäische Russland in landwirtschaftlicher und industrieller Hinsicht".

C „Die Agrarfrage", herausgegeben von Dolgorukow und Petrunkewitsch, 2. Rand, Moskau 1907, S. 442–628: „Zur Frage der kulturellen und wirtschaftlichen Bedeutung des privaten Grundbesitzes."

D Bei diesen beiden Ziffern liegt im Buch Kaufmanns (S. 521) offenbar ein Druckfehler vor.

E „Abstract of the Twelfth Census", 1900. Third Edition, Washington 1904 pages 217 and 302 – Agricultural implements.(Übersicht der 12 Zählung, 1900, Washington 1904, S. 217 und 302 – Landwirtschaftliche Geräte. Die Red.)

9 Es sind folgende Bücher gemeint: Orlow, W. I., „Formen des bäuerlichen Grundbesitzes im Gouvernement Moskau", Sammlung statistischer Daten für das Gouvernement Moskau, Bd. IV, Lief. 1, herausgegeben vom Moskauer Semstwo, 1879.

Trirogow, W., „Gemeinde und Steuer", Sammlung von Untersuchungen, St. Petersburg 1882.

Keußler, J„ „Zur Geschichte und Kritik des bäuerlichen Gemeindebesitzes in Russland", St. Petersburg 1883.

W. W„ „Die Bauerngemeinde", Ergebnisse der Ökonomischen Erforschung Russlands auf Grund des Semstwostatistik, Bd. 1, Moskau 1892.

10 Der vollständige Titel der Arbeit von N. A. Karyschew lautet: „Die bäuerliche Pacht von Nichtanteilland", Bd. II der „Ergebnisse der ökonomischen Erforschung Russlands auf Grund der Semstwostatistik', Dorpat 1892.

11 In Irland überwiegt die Verpachtung kleiner Parzellen zu sehr hohen Preisen. Die Red.

12 Die Untersuchung der Bauernhaushalte ist in folgendem Werk enthalten: „Taxationsstatistik der bäuerlichen Landwirtschaft im Gouvernement Woronesch in den Kreisen Semljansk, Sadonsk, Korotojak und Nischni-Dewizk" Beilage zu Bd. 3. 4, 5 und 6 der „Sammlung statistischer Daten für das Gouvernement Woronesch", herausgegeben vom Woronescher Semstwo, 1889.

13 Der Bauern. Die Red.

14 Die erwähnte Skizze von Schbankow „Weiberland" ist im Buch „Statistisches Material für das Gouvernement Kostroma" veröffentlicht Lieferung 8, Kostroma, Verlag des Gouvernements-Komitees für Statistik, 1891.

15 Der volle Titel der von Lenin erwähnten Arbeit lautet: H. Drechsler, Schriften des Vereins für Sozialpolitik, XXIV, 1883, „Bäuerliche Zustande In Deutschland", Berichte, veröffentlicht vom Verein für Sozialpolitik, III. Bd.

16 Der Aufsatz von W. W. trägt den Titel: „Landwirtschaftliche und industrielle Arbeitsteilung in Russland“

17 Diese Zahlen befinden sich in dem Buch „Zusammenfassung statistischer Daten für das Gouvernement Samara", Bd. VIII, Lief. 1, herausgegeben vom Samaraer Semstwo, Samara 1892.

18 Die Arbeit von M. S. Uwarow trägt den Titel „Über den Einfluss des Wandergewerbes auf die sanitären Verhältnisse Russlands", veröffentlicht in der „Zeitschrift für öffentliche Hygiene, praktische und Gerichtsmedizin". Bd. XXXI, Juli 1896.

19 Gemeint ist das bekannte Buch von Nikolai-on: „Skizzen unserer Volkswirtschaft nach der Reform", St. Petersburg, 1893.

20 Lenin meint folgende Arbeit: Rudnew, N. F., „Bauerngewerbe im Europäischen Russland", Sammlung des Saratower Semstwos, 1894, Nr. 6 und 11.

21 Gemeint ist die Arbeit von N. I. Tesjakow „Die Landarbeiter und die Organisation ihrer sanitären Beaufsichtigung im Gouvernement Cherson", Cherson 1896.

22 Lenin meint hier das Buch von N. A. Blagoweschtschenski: „Die Bauernwirtschaft", Wirtschaftsstatistische Übersicht auf Grund der Semstwo-Hofzählungen, Bd. 1, Moskau 1893.

23 Seit 1847, mit dem „Elend der Philosophie" beginnend (siehe „Das Elend der Philosophie", Kap. II, Abschnitt 4: „Eigentum oder Rente"), zeigte Marx, warum die Ökonomen, Mill u. a., die Aneignung der Rente durch den Staat verlangten. Davon spricht er auch in den „Theorien über den Mehrwert", 2. Buch, Teil 1, und im III. Bd. des „Kapital", Schluss des siebenundvierzigsten Kapitels.

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