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Wladimir I. Lenin 19080715 Über gewisse Charakterzüge des heutigen Zerfalls

Wladimir I. Lenin: Über gewisse Charakterzüge des heutigen Zerfalls

[„Proletarij" Nr. 32 15. (2.) Juli 1908. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 368-378]

Wir haben bereits mehrfach auf den ideologischen und organisatorischen Zerfall rechts, im Lager der bürgerlichen Demokraten und sozialistischen Opportunisten, hingewiesen, einen Zerfall, der in einer Periode, wo die Konterrevolution wütet, unvermeidlich ist in Parteien und Richtungen, in denen die kleinbürgerlichen Intelligenzler vorherrschen. Doch das Bild des Zerfalls wäre unvollständig, wenn wir nicht auch auf den Zerfall „links", im Lager der kleinbürgerlichen „Sozialrevolutionäre", eingingen.

Der Ausdruck „links" kann hier freilich nur in ganz besonders bedingtem Sinne gebraucht werden, nämlich um diejenigen zu charakterisieren, die geneigt sind, sich als Linke aufzuspielen. Wir haben im „Proletarij" bereits mehrmals darauf hingewiesen, dass gerade in der Zeit des größten Aufschwungs der russischen Revolution die ganze Labilität und Unsicherheit, die ganze Prinzipienlosigkeit des sozialrevolutionären „Revolutionarismus" sich in der offenen Massenpolitik mit besonderer Deutlichkeit gezeigt hat. Wir brauchen nur an die bedeutendsten Ereignisse zu erinnern. Der Aufschwung im Herbst 1905: die Sozialrevolutionäre im Geheimblock mit den Volkssozialisten, die es zu einer legalen „volkssozialistischen Partei" hinzieht. Der sozialrevolutionäre Parteitag im Dezember 1905 lehnt zwar den „Plan" der Schaffung eines solchen Doppelgängers der sozialrevolutionären Partei ab, doch zeigt uns der Aufschwung im Frühjahr und Herbst 1906 die Sozialrevolutionäre in der Tagespresse, d. h. auf der Haupttribüne der Volksagitation, wieder im Block mit den Volkssozialisten. Diese sagen sich im Herbst 1906, nach der Niederlage des Sveaborger und des Kronstädter Aufstandes, offen von der Revolution los. treten offen als Opportunisten auf, trotzdem aber lebt bei den Petersburger Wahlen zur II. Duma (Frühjahr 1907) der „Narodniki-Block" von Sozialrevolutionären, Volkssozialisten und Trudowiki wieder auf Kurz, die Revolution hat mit voller Klarheit und endgültig gezeigt, dass es der Partei der Sozialrevolutionäre an jeder bestimmten Klassenstütze fehlt, die Revolution hat sie faktisch zu einem Anhängsel, einem Flügel der kleinbürgerlichen Bauerndemokratie gemacht, hat sie genötigt, zwischen begeisterten revolutionären Reden und volkssozialistisch-trudowikischer Diplomatie unaufhörlich hin- und herzuschwanken. Das Ausscheiden der Maximalisten– ein Prozess, der sich während des ganzen Verlaufs der Revolution hinzog und immer noch nicht endgültig zum Abschluss gelangen konnte – ist nur ein weiterer Beweis für die klassenmäßige Unbeständigkeit des narodnikischen Revolutionarismus. Bereits in Nr. 4 des „Proletarij" schrieben wir in dem Artikel „Sozialrevolutionäre Menschewiki", dem sozialrevolutionären Zentrum, den „reinen" Sozialrevolutionären, bliebe nichts anderes übrig, als sich gegen die beiden „neuen" Richtungen in ihrer Partei mit Argumenten zu verteidigen, die sie den Marxisten entlehnen. Während die Sozialdemokraten im Laufe der Revolution eine bestimmte Klasse, nämlich das Proletariat, um sich zusammengeschlossen und die beiden, der ganzen internationalen Sozialdemokratie eigentümlichen Richtungen, die opportunistische und die revolutionäre, deutlich herausgebildet haben, sind die Sozialrevolutionäre aus der Revolution ohne jedwede unmittelbare Basis, hervorgegangen, können keine bestimmte Grenzlinie aufweisen, die geeignet wäre, sie einerseits von den mit Kleinbesitzermassen zusammenhängenden Trudowiki und Volkssozialisten, andererseits von den Maximalisten als einer terroristischen Intellektuellengruppe zu scheiden.

Heute, nach dem – vielleicht vorübergehenden – Verschwinden des Maximalismus, sehen wir eine ihm verwandte Richtung in neuem Gewande aufleben. Das Blättchen „Rewoluzionnaja Mysl" (Nr. 1, April 1908, Nr. 2, Juni 1908)1, Organ einer „Gruppe von Sozialrevolutionären", rückt vom „offiziellen Organ" der Partei der Sozialrevolutionäre, d. h. vom Zentralorgan ..Snamja Truda", ab und verkündet die „Revision unserer (d. h. der sozialrevolutionären) theoretischen Weltanschauung, unserer sozialrevolutionären Kampf- und Organisationsmethoden". Natürlich ist diese ganze „Revision", die ganze „kritisch-schöpferische Arbeit", die die neue Zeitung verspricht, nichts als Phrase. In Wirklichkeit ist und kann von einer Revision der Theorie keine Rede sein, denn die neue Zeitung hat überhaupt keine theoretische Weltanschauung, sie wiederholt nur auf tausenderlei Art den Ruf nach dem Terror und macht ungeschickte, plumpe, naive Versuche, sich dieser angeblich neuen, in Wirklichkeit aber uralten Art der Betrachtung der Revolution, der Massenbewegung, der Bedeutung der Parteien überhaupt usw. anzupassen. Die ganze Dürftigkeit einer solchen „theoretischen" Ausrüstung springt in die Augen, wenn man sie mit den hochtrabenden Versprechungen von Revision, Kritik und schöpferischer Arbeit vergleicht. Die heillose theoretische Konfusion sowohl bei der „neuen" als auch bei der „alten" sozialrevolutionären Richtung tritt um so krasser in Erscheinung, als „Rewoluzionnaja Mysl" selber die „Evolution der Auffassungen der Leiter des offiziellen Organs der Partei der Sozialrevolutionäre" unterstreicht – eine Evolution, die in der nachdrücklichsten Betonung eines „systematischen zentralen politischen Terrors" zur „Beschleunigung der Ereignisse" besteht. Es ist dies ein Zitat aus Nr. 8 von „Snamja Truda".2 In Nr. 10/11 (Februar–März 1908) finden wir ganz das gleiche Gerede über „Anspannung aller Kräfte der Partei" für „zentralen politischen Terror" über die Notwendigkeit, zu diesem Zweck „große Geldmittel" aufzutreiben, nebst einer „zarten Anspielung" auf die möglichen Quellen dieser Mittel:

Alle Parteien, bis zu den Kadetten und der Partei der friedlichen Erneuerung, – so schreibt das „Snamja Truda", Seite 7–8 –, werden, die unmittelbaren Früchte dieser Tätigkeit genießen. Daher ist die Partei berechtigt, von der Öffentlichkeit breiteste Unterstützung in diesem ihrem Kampfe zu erhoffen."

Der Leser sieht, dass die neue Zeitung nichts Neues sagt. Sie ist nur insofern charakteristisch, als sie lehrreiches Material für die Beurteilung des durch „linke" und angeblich revolutionäre Phrasen verschleierten Zerfalls liefert. Im „Golos Sozialdemokrata" (Nr. 1) suchen die Menschewiki ihr Geldsammeln, bei Liberalen durch eine gewisse Übereinstimmung der politischen Ziele zu rechtfertigen.3 Die Sozialrevolutionäre sagen im „Snamja Truda" den Kadetten und der „Partei der Friedlichen Erneurung": „Ihr werdet ja die Früchte genießen". Die Extreme berühren sich. Der kleinbürgerliche Opportunismus und der kleinbürgerliche Revolutionarismus werfen den Kadetten und der friedlichen Erneuerung" – wenn auch von verschiedenen Seiten her – die gleichen begehrlichen Blicke zu.

Nicht darin allein berühren sich diese Extreme. Sowohl die Menschewiki als auch die „revolutionären Narodniki" sind von der Revolution enttäuscht. Die einen wie die andern sind bereit, Parteizugehörigkeit, alte Parteitraditionen, revolutionären Massenkampf über Bord zu werfen.

Der fast allen revolutionären Parteien gemeinsame Fehler – schreibt „Rewoluzionnoje Nedomyslije"4 –, ein Fehler, der in unserer heutigen Krise eine verhängnisvolle Rolle gespielt hat, besteht in dem übertriebenen Glauben an die Möglichkeit und Notwendigkeit eines Massen-Volksaufstandes" … „Das Leben hat die Erwartungen der Partei enttäuscht."

Ein Fehler der Sozialrevolutionäre sei es nämlich gewesen,

das sozialistische Programm nach marxistischer Schablone zu konstruieren", „die Vorstellung von der Revolution zu bilden durch Identifizierung mit Massenbewegung und Massenaufstand, hervorgerufen durch wirtschaftliche Bedürfnisse, obwohl sie dabei allerdings auch die mit Initiative begabte Minderheit berücksichtigt haben."

Statt das zu tun, solle man

die Theorie und Praxis des aktiven Handelns der mit Initiative begabten Minderheit" entwickeln (Nr. 1, S. 6–7).

Man müsse die Bedeutung des „unmittelbaren Gefühls, das den Revolutionär erfasst, die ihn begeisternden Ideale" preisen (Nr. 2, S. 1), theoretische Fragen aber, Philosophie, wissenschaftlicher Sozialismus – das sind nach Meinung der „neuen" sozial-revolutionären Obskuranten Bagatellen. „Ist für eine mehr oder weniger nahe (es heißt wirklich wörtlich „für eine mehr oder weniger nahe") Zukunft Hoffnung auf den bewaffneten Aufstand vorhanden?" fragt „Rewoluzionnoje Nedomyslije" und antwortet: „Darin sind sich alle einig: eine solche Hoffnung besteht nicht" (Nr. 2, S. 2). Der Schluss ist: In Russland

kann die politische Umwälzung nicht anders vollzogen werden als durch eine revolutionäre Minderheit" (S. 7). „Die Ursachen des Misserfolgs der revolutionären Parteien in den letzten drei Jahren waren nicht zufälliger Natur: sie liegen, unserer Auffassung nach, nicht allein in objektiven Verhältnissen und nicht allein in taktischen Fehlern, sondern sie sind auch in der organisatorischen Konzeption der revolutionären Parteien zu suchen" (S 10) – die Revolutionäre nämlich haben sich die „unlösbare Aufgabe" gestellt, die Massen wirklich zu führen; die Sozialdemokraten haben die Sozialrevolutionäre auf Abwege gelockt und sie, zum Schaden der einzig richtigen Arbeit – nämlich des terroristischen Kampfes – veranlasst, an die

Organisierung der Bauernschaft und an deren Vorbereitung zum allgemeinen bewaffneten Aufstand" (S. 11)

zu denken. Äußerste Zentralisierung der Parteien, „Bonzentum", „autoritärer Geist" (S. 12) – das ist das Übel!

Die Revolutionäre sahen in einer starken, geschlossenen Partei das einzige Mittel, die einzige Garantie für das Erreichen des gesteckten Zieles, ohne die unter unseren russischen Verhältnissen praktische Unmöglichkeit, eine solche Partei zu schaffen, sowie ohne alle ihre Schattenseiten zu bemerken" (S. 12).

Doch genug davon! – Was für ein Gedankenchaos in der „Rewoluzionnaja Mysl" herrscht, was für ein Obskurantentum sie predigt, auf welcher jämmerlich-spießerischen, sich gleich nach den ersten Schwierigkeiten einstellenden Niedergeschlagenheit, Verzweiflung und Enttäuschung das angeblich revolutionäre Programm aufgebaut ist – darüber noch mehr Worte zu verlieren, verlohnt sich wirklich nicht. Die angeführten Zitate sind Beweis genug.

Doch glaube man nicht, es handle sich einfach um ungereimtes Zeug, um das zufällige Geschwätz eines unbekannten, unbedeutenden Grüppchens. Nein, eine solche Ansicht wäre verkehrt. Hier ist eine eigene Logik, die Logik der Enttäuschung durch Partei und Volksrevolution, des verlorenen Glaubens an die Fähigkeit der Massen zu unmittelbarem revolutionären Kampf. Es ist die Logik der Intellektuellen-Überspanntheit, der Intellektuellen-Hysterie, der Unfähigkeit zu konsequenter, zäher Arbeit, des Unvermögens, theoretische und taktische Grundsätze auf die veränderte Situation anzuwenden, der Unfähigkeit zu propagandistischer, agitatorischer und Organisationsarbeit unter Bedingungen, die sich von denen der jüngsten Zeit krass unterscheiden. Statt ihre ganze Kraft auf den Kampf gegen die kleinbürgerliche Zersetzung zu richten, die nicht nur in die oberen, sondern auch in die unteren Klassen ihren Weg findet, statt die zersplitterten Parteikräfte fester zusammenzuschließen zur Verteidigung der erprobten revolutionären Prinzipien – statt alles dessen werfen diese überspannten, aus dem Gleichgewicht geratenen, jeder Klassenstütze in den Massen baren Menschen alles, was sie gelernt haben, über Bord und proklamieren „Revision", d. h. Rückkehr zum alten Kram, zur revolutionären Stümperei, zur zersplitterten Tätigkeit kleiner Grüppchen. Kein Heldenmut dieser Grüppchen und einzelner Personen im terroristischen Kampf vermag etwas daran zu ändern, dass ihre Tätigkeit, als die Tätigkeit von Parteimitgliedern, eine Zerfallserscheinung ist. Es ist äußerst wichtig, sich über den Satz klar zu werden, der von den Erfahrungen aller Länder, wo die Revolution Niederlagen erlitten hat, bestätigt wird, – nämlich, dass eine und dieselbe Psychologie, eine und dieselbe Klasseneigentümlichkeit, z. B. die des Kleinbürgertums, sowohl in der Niedergeschlagenheit des Opportunisten als auch in der Verzweiflung des Terroristen zum Ausdruck kommt.

Alle sind sich darin einig, dass für eine mehr oder weniger nahe Zukunft keine Hoffnung auf einen bewaffneten Aufstand bestellt." Man betrachte aufmerksam diesen flott hingeworfenen, schablonenhaften Satz. Die Leute, die ihn geschrieben, haben augenscheinlich niemals über die objektiven Verhältnisse nachgedacht, aus denen zunächst eine breite politische Krise und später, bei der Verschärfung dieser Krise, der Bürgerkrieg entsteht. Diese Leute haben die „Losung" des bewaffneten Aufstandes auswendig gelernt, ohne ihre Bedeutung und die Voraussetzungen ihrer Anwendbarkeit begriffen zu haben. Das ist der Grund, warum sie die nicht durchdachten, aufs Wort hingenommenen Losungen so leicht, bereits nach den ersten Misserfolgen der Revolution fallen lassen. Würden diese Leute im Marxismus die einzige revolutionäre Theorie des 20. Jahrhunderts sehen, würden sie die Geschichte der russischen revolutionären Bewegung studieren, so würde ihnen der Unterschied zwischen der Phrase und der Entwicklung wahrhaft revolutionärer Losungen klar werden. Die „Losung" des Aufstandes wurde von den Sozialdemokraten weder 1901 ausgegeben, als die Demonstrationen Kritschewski und Martynow zu ihrem Geschrei über den „Ansturm" veranlassten, noch 1902 und 1903. als der inzwischen verstorbene Nadjeschdin den Plan der alten „Iskra" als „Literatenmache" bezeichnete. Die Losung des Aufstandes wurde von ihnen erst nach dem 9. Januar 1905 aufgestellt, als keiner mehr daran zweifeln konnte, dass eine allgemein-nationale politische Krise ausgebrochen ist, die sich in unmittelbarer Massenbewegung von Stunde zu Stunde verschärft. Binnen weniger Monate hat diese Krise den Aufstand herbeigeführt.

Welche Lehre folgt daraus? Die Lehre, dass wir heute die heranreifende neue politische Krise aufmerksam verfolgen, den Massen die Lehren von 1905 einprägen, sie über die Unausbleiblichkeit des Übergangs jeder scharfen Krise in den Aufstand belehren und die Organisation festigen müssen, die diese Losung im Augenblick der Krise aufstellen wird. Doch die Frage so zu stellen: „Ist für die nächste Zukunft Hoffnung vorhanden?", ist zwecklos. Die Situation in Russland ist derart, dass kein einigermaßen denkender Sozialist eine Weissagung wagen wird. Alles, was wir wissen und was wir sagen können, ist: ohne Umgestaltung der Agrarverhältnisse, ohne völlige Umwälzung der alten Agrarordnung kann Russland nicht leben – es wird aber leben. Der Kampf geht darum, ob es Stolypin gelingen wird, diese Umwälzung im Interesse der Gutsherren durchzuführen, oder ob die Bauern sie unter der Führung der Arbeiter, aus eigener Kraft, in einer ihren Interessen entsprechenden Weise vollziehen werden! Sache der Sozialdemokraten ist es, den Massen diese ökonomische Grundlage der heranwachsenden Krise klarzumachen und eine starke Parteiorganisation heranzubilden, die dem Volke bei der Aneignung der inhaltsreichen Lehren der Revolution behilflich und die fähig sein könnte, es im Kampfe anzuleiten, wenn die für eine neue revolutionäre „Kampagne" heranwachsenden Kräfte reif geworden sind.

Leuten, die „Losungen" nicht als eine praktische Schlussfolgerung aus einer vom Klassenstandpunkt ausgehenden Analyse und Untersuchung einer bestimmten historischen Situation, sondern als einen, einer Partei oder Richtung ein für allemal gegebenen Talisman betrachten, wird diese Antwort sicherlich „unbestimmt" erscheinen. Solche Leute begreifen nicht, dass das Unvermögen, die Taktik den Verschiedenheiten schon klar zutage tretender oder noch unbestimmter Momente anzupassen, das Resultat mangelnder politischer Schulung und eines beschränkten Gesichtskreises ist. Festigung der Organisation! Unsere revolutionären „Quietschhelden" rümpfen verächtlich die Nase ob einer so bescheidenen, harmlosen Aufgabe, die keinen Lärm und kein Aufsehen für „sofort", auf der Stelle, morgen schon verspricht. „Das Leben hat die Erwartungen der Partei enttäuscht"– dergleichen sagt man nach drei Jahren einer Revolution, die eine noch nie gesehene Bestätigung der Rolle und Bedeutung starker Parteien ist! Gerade die russische Revolution hat schon in ihrer Anfangsperiode gezeigt, dass selbst unter einem Plehwe-Regime eine Partei geschaffen werden kann, die fähig ist, Klassen zu führen. Im Frühjahr 1905 war unsere Partei noch ein Verband illegaler Zirkel; im Herbst war sie bereits eine Partei von Millionen Proletariern. Kam das so „mit einem Schlage", ihr Herren, oder war es ein Jahrzehnt langsamer, zäher, unsichtbarer, bescheidener Arbeit, das ein solches Resultat vorbereitet und gesichert hat? Und wenn in einem solchen Augenblick, wie dem jetzigen, die Herren offiziellen und inoffiziellen Sozialrevolutionäre den Zarenmord in den Vordergrund stellen, nicht aber die Schaffung einer Parteiorganisation in den Bauernmassen, die fähig wäre, aus der gallertartigen revolutionären Stimmung der Trudowikiströmung etwas Festeres, ideologisch Stärkeres und Konsequenteres zu schmieden, so erklären wir, dass der Narodnikisozialismus in Russland in den letzten Zügen liegt, ja dass er schon längst tot ist, dass seine Führer ihren „Bankrott" als Narodniki schon in der ersten Kampagne der Volksrevolution unklar fühlen.

Die Fähigkeit zur führenden oder auch nur selbständigen Rolle in der Revolution haben wir von den Bauern nicht erwartet, und so werden wir angesichts des Misserfolges der ersten Kampagne, die die große Verbreitung revolutionär-demokratischer, wenn auch nur äußerst unklarer und formloser Ideen in der Bauernschaft gezeigt hat, nicht den Mut verlieren. Wir werden auch weiter ebenso zähe und konsequent arbeiten, wie vor der Revolution, damit der Faden der Parteitraditionen nicht reißt, damit die Partei erstarkt und in der zweiten Revolutionskampagne an der Spitze nicht von zwei bis drei Millionen Proletariern, sondern einer fünffachen, zehnfachen Zahl stehen kann. Euch fehlt der Glaube an diese Aufgabe? Sie ist euch nicht interessant genug? Dann geht nur eures Wegs, Verehrteste: Ihr seid keine Revolutionäre, ihr seid einfache Schreier!

Genau so hysterisch behandelt euer offizielles Organ die Frage der Beteiligung an der III. Duma.* In Nummer 10 des „Snamja Truda" höhnt so eine hysterische Person über die Fehler unserer sozialdemokratischen Abgeordneten in der III. Duma und macht sich über ihre Erklärung lustig.

Wer weiß etwas von diesen Erklärungen, diesen Abstimmungen und Stimmenthaltungen?" (S. 11.)

Wir erwidern darauf: Ja, unsere sozialdemokratischen Abgeordneten in der III. Duma haben viele Fehler begangen. Aber gerade das von den Sozialrevolutionären herangezogene Beispiel zeigt uns den Unterschied zwischen der Einstellung einer Arbeiterpartei und der Einstellung einer Intellektuellengruppe. Die Arbeiterpartei ist sich darüber klar, dass in einer Zeit politischen Stillstands und Zerfalls auch in der Dumafraktion, die in der III. Duma noch weniger als in der II. Duma bedeutende Parteikräfte in ihren Reihen konzentrieren konnte, Zerfallserscheinungen nicht zu vermeiden sind. Daher kritisiert und berichtigt die Arbeiterpartei die Fehler ihrer Abgeordneten; jede Organisation liefert nach der Erörterung jeder Rede und nach der Feststellung, dass diese oder jene Erklärung, diese oder jene Rede ein Fehler ist, Material für die politische Aktion der Massen. Nur ruhig Blut, ihr Herren Sozialrevolutionäre: im Augenblick einer Verschärfung der politischen Krise wird unsere Fraktion und werden jedenfalls die Mitglieder unserer Dumafraktion es verstehen, ihre Pflicht zu erfüllen. Wir kritisieren ihre Fehler offen vor den Massen. Aus dieser Kritik lernen die Abgeordneten, lernen die Klassen, lernt die Partei, die schwere Zeiten durchgemacht hat und weiß, dass nicht durch hysterische Anfälle, sondern nur durch zähe, hartnäckige Arbeit aller Organisationen ein ehrenvoller Ausweg aus der schweren Lage gefunden werden kann. Als im Auslande erscheinende Zeitung war sich der „Proletarij" über seine Pflicht klar, aus der Ferne nur mit großer Vorsicht Ratschläge zu erteilen, doch auch er machte offen Vorschläge für die Hebung der Arbeit der Fraktion. Unsere offene Parteikritik als Ergänzung der Arbeit der Fraktion bewirkt, dass die Massen sowohl die Erklärungen in der Duma kennen als auch sich über die Natur der von der Partei an ihnen vorgenommenen Korrekturen klar sind. Wer aber die Dumatätigkeit in einem Augenblick, wo Parteiorganisationen und Parteipresse einen schweren Zerfall durchmachen, nicht schätzt,, der legt einen grenzenlosen Intellektuellenleichtsinn an den Tag.

Die Herren Sozialrevolutionäre begreifen nicht die Bedeutung offener sozialistischer Reden, verbunden mit einer offenen Kritik und Richtigstellung derselben in den Parteiorganen. Was die Fehler ihrer Führer betrifft, so ziehen die Herren Sozialrevolutionäre es vor, sie zu verschweigen: das hat uns die Nummer 10/11 des „Snamja Truda" noch einmal bewiesen, indem es uns wegen unserer „vulgären" Auslassungen über die Kadettenliebe Gerschunis beschimpft. Wir haben unsere Meinung in dieser Frage schon längst gesagt und würden sie nicht unbedingt jetzt wiederholen, kurz nach dem Tode dieses von den Henkern des Zaren gemarterten Mannes, der sich durch seine Treue zur revolutionären Organisation größte Achtung verdient hat. Doch wenn es den Herren Sozialrevolutionären beliebt, die Frage aufs Tapet zu bringen, so wollen wir antworten. Eine andere Antwort als wüstes Geschimpfe könnt ihr uns nicht geben, ihr könnt uns nicht offen und ehrlich erklären, wer von euch den Standpunkt Gerschunis auf dem Februar-Parteitag der Partei der Sozialrevolutionäre (1907) billigt und wer nicht. Ihr könnt nicht auf den Kern der Frage eingehen, könnt nicht die Fehler eurer Führer aufdecken, die Zahl ihrer Anhänger nennen usw., denn ihr habt keine Partei, ihr versteht die Schulung der Massen durch offene Kritik an Personen, Erklärungen, Richtungen und Strömungen nicht zu schätzen.

Die Arbeiterklasse wird es verstehen, ihre Organisationen zu erziehen und zu stählen, indem sie an ihren Vertretern offen Kritik übt. Nicht mit einem Schlage, nicht reibungslos, nicht ohne Kampf und Mühe werden wir die schwere Aufgabe lösen, vor die wir durch die schwierige Wendung der Ereignisse gestellt worden sind – Verbindung offenen Auftretens in der Duma mit illegaler Parteitätigkeit. Aber lösen werden wir sie doch. In der Lösung dieser Aufgabe wird die Reife der Partei, die die erste Kampagne der Revolution durchgemacht hat, zum Ausdruck kommen, und sie wird eine Garantie dafür bieten, dass das Proletariat in der zweiten Kampagne es verstehen wird, unter der Leitung der Sozialdemokratie geschickter und geschlossener zu kämpfen und entscheidendere Siege zu erringen.

1 Lenin zitiert folgende Artikel: aus Nr. 1 Leitartikel „Von der Redaktion"; A. Wolin, „Fragen der Revolution"; aus Nr. 2 — Siwerski, „Philosophie und Terror" und Wolin, „ Politische Umwälzung und Initiative der Minderheit".

2 Hier und in seinen weiteren Ausführungen zitiert Lenin folgende Artikel aus „Snamja Truda": aus Nr. 8, Dezember 1907 „Zur gegenwärtigen Lage", Leitartikel; aus Nr. 10—11 (Februar—März 1908) „Neue Terroristen-Hinrichtungen und unsere legale Presse" und Ign. N., „Die Linken in der III. Duma".

3 In Nr. 1 des „Golos Sozialdemokrata" vertritt der Artikel „Ist es nicht Zeit zum Aufhören?" den Gedanken, die Partei habe in den ersten Zeiten der Revolution organisatorisch in voller Abhängigkeit von bürgerlich-demokratischen Kreisen gestanden, da ihre gesamten Mittel ihr aus diesen Kreisen zugeflossen sind. Die Methode der Expropriation — gewaltsame Aneignung der Mittel der Bourgeoisie — führe zu nichts und sei für die Revolution und die Arbeiterbewegung nur von Schaden. Dieser von Martow verfasste Artikel richtete sich gegen die Bolschewiki und das ZK. Zu jener Zeit entfalteten die Menschewiki gerade unter der Führung von Martow eine erbitterte Kampagne gegen die Bolschewiki und das ZK und versuchten, sie durch den Hinweis auf ihre Beteiligung an Expropriationen zu diskreditieren. Auf dem August-Plenum des ZK erhob Martow verleumderische Beschuldigungen in diesem Sinne gegen die Bolschewiki. In der gleichen Nummer schreibt Dan in den Artikeln „Im Lager der Sieger" und „Bilder aus der Duma", die kapitalistische Bourgeoisie werde unvermeidlich den Weg der politischen Opposition betreten müssen, und es sei gegenwärtig „eine faktisch gegenseitige Annäherung aller Kräfte der Opposition im Kampfe auf dem Boden des sich tagaus, tagein verschärfenden Gegensatzes zwischen den Entwicklungsinteressen der bürgerlichen Gesellschaft und den Interessen des absolutistischen Regimes" zu beobachten.

4 Ein Wortspiel: „Mysl" („Rewoluzionnaja Mysl") – Gedanke, Denken; Nedomyslije – beschränkte Denkfähigkeit, Schwachköpfigkeit. Die Red.

* Eine eingehende Würdigung des Boykottismus der Sozialrevolutionäre siehe in Nr. 18 des „Proletarij" in dem Aufsatz „Der umgekehrte parlamentarische Kretinismus". Bereits im Herbst 1907, während sie scheinbar an die wirkliche revolutionäre Boykottradition appellierten, vulgarisierten die Sozialrevolutionäre in Wirklichkeit diese Tradition, drückten sie dadurch auf Null herab, dass sie statt des revolutionären Boykotts, der zugleich Angriff ist, die jämmerliche und ohnmächtige ^Ablehnung der Beteiligung" unterschoben… Schon damals suchten sie dem vertrauensseligen Publikum einzureden, es werde eine „große moralische" Niederlage der Regierung und „der erste ernste Schritt zur Änderung des politischen Gesamtbildes" sein, wenn man der reaktionären Duma „den Rücken zukehrt."

Schon damals wurde von uns der wahre Charakter dieser „revolutionären Rhetorik" jener Herren aufgedeckt, „die sich nicht genieren, um naiver Parteireklame willen die Köpfe der Massen zu verwirren."

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