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Wladimir I. Lenin 19160210 Über die Aufgaben der Opposition in Frankreich

Wladimir I. Lenin: Über die Aufgaben der Opposition in Frankreich

Brief an den Genossen Safarow

[Als Flugblatt in französischer Sprache veröffentlicht im Jahre 1916. Russisch erstmalig abgedruckt im Jahre 1924 in der Zeitschrift „Proletarskaja Rewoluzija“, Nr. 4 (27). Nach Sämtliche Werke, Band 19, 1930, S. 21-25]

10. II. 1916

Werter Genosse! Ihre Ausweisung aus Frankreich, die übrigens sogar in der chauvinistischen Zeitung „La Bataille1 mit Protest vermerkt wurde, die aber dennoch nicht die Wahrheit sagen wollte, nämlich, dass Sie aus Frankreich ausgewiesen wurden wegen Ihres Sympathisierens mit der Opposition, – diese Ausweisung hat mich aufs Neue an die wunde Frage der Lage und der Aufgaben der Opposition in Frankreich erinnert.

Ich habe in Zimmerwald Bourderon und Merrheim gesehen. Ich habe ihre Berichte gehört und in den Zeitungen von ihrer Arbeit gelesen. Für mich besteht nicht der leiseste Zweifel an ihrer Ehrlichkeit und ihrer Hingabe an die Sache des Proletariats. Aber trotzdem steht es fest, dass ihre Taktik fehlerhaft ist. Sie beide fürchten vor allem die Spaltung. Keinen Schritt, kein Wort, das zur Spaltung der Sozialistischen Partei oder der Gewerkschaften in Frankreich oder zur Spaltung der II. Internationale und zur Schaffung der III. Internationale führen könnte – das ist sowohl Bourderons als auch Merrheims Losung.

Dabei ist die Spaltung der Arbeiterbewegung und des Sozialismus in der ganzen Welt eine Tatsache. Wir haben zwei unversöhnliche Richtungen der Taktik und der Politik der Arbeiterklasse in ihrer Stellung zum Kriege vor uns. Die Augen davor zu verschließen, wäre lächerlich. Unversöhnliches versöhnen zu wollen, hieße unsere ganze Arbeit zur Ohnmacht verurteilen. In Deutschland hat sogar der Abgeordnete Otto Rühle, der Gefährte Liebknechts, offen die Unvermeidlichkeit der Spaltung der Partei anerkannt, da die gegenwärtige Mehrheit, die offiziellen „Spitzen“ der deutschen Partei auf die Seite der Bourgeoisie getreten seien.

Die Einwände, mit denen die Vertreter des sogenannten „Zentrums“ oder „Sumpfes“ (le marais), Kautsky und der „Vorwärts, gegen Rühle und gegen die Spaltung kamen, sind eitel Lüge und Heuchelei, so „wohlgemeint“ diese Heuchelei auch sein mag. Kautsky und der „Vorwärts“ können ja nicht die Tatsache widerlegen – sie versuchen es auch gar nicht –, dass die Mehrheit der deutschen Partei faktisch die Politik der Bourgeoisie betreibt. Die Einheit mit einer solchen Mehrheit ist für die Arbeiterklasse schädlich. Eine derartige Einheit bedeutet die Unterwerfung der Arbeiterklasse unter die Bourgeoisie „ihrer“ Nation, bedeutet die Spaltung der internationalen Arbeiterklasse. Und Rühle hat in der Tat damit Recht, dass es in Deutschland zwei Parteien gibt. Die eine, die offizielle, macht die Politik der Bourgeoisie. Die andere, die Minderheit, gibt illegale Aufrufe heraus, veranstaltet Demonstrationen usw. In der ganzen Welt sehen wir dasselbe Bild, und ohnmächtige Diplomaten oder der „Sumpf“, wie Kautsky in Deutschland, Longuet in Frankreich, Martow und Trotzki in Russland, stiften in der Arbeiterbewegung den größten Schaden, weil sie die Fiktion der Einheit aufrechterhalten und damit die herangereifte, dringend notwendig gewordene Vereinigung der Opposition aller Länder, die Schaffung der III. Internationale, stören. In England veröffentlicht sogar eine so gemäßigte Zeitung wie der „Labour Leader Briefe von Russell Williams über die Notwendigkeit des Bruches mit den „Führern“ der Gewerkschaften und der „Arbeiterpartei“ (Labour Party), die die Interessen der Arbeiterklasse „verkauft“ habe.2 Und eine Reihe von Mitgliedern der „Unabhängigen Arbeiterpartei (Independent Labour Party) erklärt in der Presse ihre Sympathie für Rüssel Williams. In Russland ist jetzt sogar der „Versöhnler“ Trotzki gezwungen, die Notwendigkeit des Bruches mit den „Patrioten“, d. h. mit der Partei des „Organisationskomitees“, des OK, anzuerkennen, des Bruches mit Leuten, die die Teilnahme der Arbeiter an den Kriegsindustriekomitees rechtfertigen. Und nur aus falscher Eigenliebe fährt Trotzki fort, die „Einheit“ mit der Dumafraktion Tschcheïdses zu verteidigen, die der treueste Freund, Schützer und Verteidiger der „Patrioten“ und des „OK“ ist.

Sogar in den Vereinigten Staaten von Amerika ist die Spaltung faktisch vollkommen. Denn die einen Sozialisten treten dort für die Armee, für das „Gerüstetsein“ (preparedness), für den Krieg ein. Die anderen, darunter der populärste Arbeiterführer Eugen Debs, der Kandidat der Sozialistischen Partei auf den Posten des Präsidenten der Republik, propagieren Bürgerkrieg gegen Völkerkrieg!

Und man sehe sich die Taten von Bourderon und Merrheim selbst an! In Worten sind sie gegen die Spaltung. Aber man lese die Resolution, die Bourderon auf dem Kongress der Französischen Sozialistischen Partei vorlegte.3 In dieser Resolution wird der Austritt der Sozialisten aus der Regierung gefordert!! Die Resolution „desapprouve“ direkt sowohl die CAP als auch die GP (CAP – Com. Adm. Perm., GP = Groupe Parlem.)!!!4 Es ist klar wie der Tag, dass die Annahme einer derartigen Resolution die Spaltung sowohl der Partei als auch der Gewerkschaften bedeuten würde, denn die Herren Renaudel, Sembat, Jouhaux et Co.5 können sich damit niemals abfinden.

Bourderon und Merrheim teilen den Fehler, die Schwäche, die Zaghaftigkeit der Mehrheit der Zimmerwalder Konferenz. Einerseits ruft diese Mehrheit indirekt in ihrem Manifest zum revolutionären Kampfe auf, fürchtet sich aber, es direkt zu sagen. Einerseits schreibt sie: die Kapitalisten aller Länder lügen, wenn sie von der „Vaterlandsverteidigung“ in diesem Kriege reden. Aber andererseits hat sich die Mehrheit gefürchtet, die offenbare Wahrheit hinzuzufügen, die ohnedies jeder denkende Arbeiter hinzufügt, nämlich, dass nicht nur die Kapitalisten lügen, sondern auch die Renaudel, Sembat, Longuet, Hyndman, Kautsky, Plechanow et Co.6!! Die Mehrheit der Zimmerwalder Konferenz möchte sich von neuem mit Vandervelde, Huysmans, Renaudel und Co. versöhnen. Das ist schädlich für die Arbeiterklasse, und die „Zimmerwalder Linke“ hat richtig gehandelt, als sie den Arbeitern offen die Wahrheit sagte.

Sehen Sie, wie die socialistes-chauvins7 heucheln: in Frankreich loben sie die deutsche „minorité“8, in Deutschland die französische!!

Welch große Bedeutung hätte doch das Auftreten der französischen Opposition, wenn sie direkt, furchtlos, offen vor der ganzen Welt erklärte: wir sind solidarisch nur mit der deutschen Opposition, nur mit Rühle und seinen Gesinnungsgenossen!! Nur mit denen, die furchtlos brechen sowohl mit dem offenen als auch mit dem verkappten socialisme chauvin9, d. h. mit allen „Vaterlandsverteidigern“ in diesem Kriege!! Wir selbst fürchten nicht den Bruch mit den französischen „Patrioten“, die die Verteidigung der Kolonien „Vaterlandsverteidigung“ nennen, und wir rufen die Sozialisten und Gewerkschaftsmitglieder aller Länder zu demselben Bruch auf! Wir strecken Otto Rühle und Liebknecht die Hand entgegen, ihnen und nur ihren Gesinnungsgenossen, wir brandmarken die französische wie die deutsche „majorité“10, den französischen wie den deutschen „marais“11 Wir verkünden die große internationale Vereinigung jener Sozialisten aller Länder, die in diesem Kriege mit der verlogenen Phrase von der „Vaterlandsverteidigung“ gebrochen haben und wirken an der Propaganda und der Vorbereitung der proletarischen Weltrevolution!

Ein solcher Aufruf hätte gewaltige Bedeutung. Er würde die Heuchler auseinanderjagen, den internationalen Betrug aufdecken und entlarven, den stärksten Anstoß zur Annäherung der dem Internationalismus wirklich treu gebliebenen Arbeiter in der ganzen Welt geben.

In Frankreich hat die anarchistische Phrase immer sehr geschadet. Aber jetzt werden die Anarchisten-Patrioten, die Anarchisten-Chauvins vom Schlage Kropotkins, Graves, Cornelissens und der anderen Ritter de la „Bataille Chauviniste12 helfen, viele, viele Arbeiter vom Banne der anarchistischen Phrase zu befreien. Nieder mit den Sozialpatrioten und den Sozialisten-Chauvins – wie auch „Nieder mit den Anarchisten-Patrioten“ und den Anarchisten-Chauvins! Dieser Ruf wird in den Herzen der Arbeiter Frankreichs Widerhall finden. Nicht die anarchistische Phrase von der Revolution, sondern dauernde, ernste, angestrengte, beharrliche, systematische Arbeit, um allerorts illegale Organisationen unter den Arbeitern zu schaffen, um freie, d. h. illegale Literatur zu verbreiten, um eine Bewegung der Massen gegen die eigenen Regierungen vorzubereiten. Das ist es, was der Arbeiterklasse aller Länder nottut!

Es ist nicht wahr, dass die „Franzosen unfähig sind“ zu systematischer illegaler Arbeit. Das stimmt nicht! Die Franzosen haben schnell gelernt, in Schützengräben Deckung zu suchen. Sie werden schnell auch die neuen Bedingungen der illegalen Arbeit und der systematischen Vorbereitung einer revolutionären Massenbewegung erlernen. Ich glaube an das revolutionäre französische Proletariat. Es wird auch die französische Opposition vorwärts treiben.

Beste Wünsche

Ihr Lenin

PS. Ich schlage den französischen Genossen vor, die Übersetzung (den vollen Wortlaut) dieses meines Briefes als besonderes Flugblatt herauszugeben13.

1 Die Mitteilung von der Ausweisung Safarows aus Frankreich unter der Anschuldigung der Spionage wurde in Nr. 87 vom 28. Januar 1916 in einer von Ch. Marek gezeichneten Notiz gebracht, die gewisse Sympathien zum Ausdruck brachte. Die Ausweisung erfolgte am 25. Januar 1916.

2 Die hier gemeinten Briefe von Russell Williams („Labour Leader“ Nr. 49 vom 9. Dezember 1915 und Nr. 51 vom 23. Dezember 1915) sind dessen Antwort an Clifford Allen, der die Unzweckmäßigkeit des Austritts der ILP aus der LP zu beweisen suchte, da diese bekanntlich eine Vereinigung einer ganzen Reihe politischer, gewerkschaftlicher und genossenschaftlicher Organisationen sei. Das Hauptargument Clifford Allens gegen den Austritt war der drohende Verlust des Parteiapparats. Darauf antwortete Williams: „Ein weiteres Verbleiben der ILP in der chauvinistischen LP ist unmöglich“. Auf Einwände in Nr. 50 des „Labour Leader“ schrieb Russell Williams in seinem zweiten Brief in Nr. 51 noch schärfer: „Wir müssen mit den nichtsnutzigen Leuten brechen, die uns verkauft haben“. In Nr. 52 wurden dann zwei Briefe veröffentlicht, in denen sich andere Mitglieder der ILP mit Williams’ Standpunkt solidarisierten.

3 Die von Bourderon auf dem Kongress der Französischen Sozialistischen Partei vom 26. bis 29. Dezember 1915 vorgeschlagene Resolution wurde mit einer Mehrheit von 2736 gegen 76 Stimmen abgelehnt. In dieser Resolution beschuldigte Bourderon die Leitung der Partei und die Parlamentsfraktion des Opportunismus und beantragte, das Verhalten der Parteileitung und der Parlamentsfraktion zu verurteilen.

4 – spricht der Ständigen Administrativen Kommission (Parteileitung) und der Parlamentsgruppe (Fraktion) das Misstrauen aus. Die Red.

5 Jouhaux und Co. Die Red.

6 Plechanow und Co. Die Red.

7 Sozialchauvinisten. Die Red.

8 Minderheit. Die Red.

9 Sozialchauvinismus. Die Red.

10 Mehrheit. Die Red.

11 Sumpf. Die Red.

12 des „Chauvinistischen Kampfes“ (Spottname für das Organ der Gewerkschaften). Die Red.

13 Der Brief an Safarow wurde französisch als Flugblatt unter dem Titel: „N. Lénine. Sur la tâche de l’opposition en France (Lettre au camarade Safaroff) Genève, Bibliotheque russe“ („Über die Aufgaben der Opposition in Frankreich“), wahrscheinlich 1916 als Publikation des ZK der SDAPR veröffentlicht.

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