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Wladimir I. Lenin 19210705 Referat über die Taktik der KPR

Wladimir I. Lenin: Referat über die Taktik der KPR

Dritter Weltkongress der Komintern, 17. Sitzung, 5. Juli 1921

[Erschienen 1922 in dem Buch: „III. Weltkongress der Kommunistischen Internationale. Stenografischer Bericht“. Petrograd. Staatsverlag. Nach Sämtliche Werke, Band 26, Moskau 1940, S. 555-574]

Genossen und Genossinnen! Ich hatte eigentlich keine Möglichkeit, dieses Referat richtig vorzubereiten. Die Übersetzung meiner Broschüre über die Naturalsteuer und die Thesen über die Taktik der Kommunistischen Partei Russlands sind alles, was ich systematisch vorbereiten konnte. Daran will ich nur einige Erläuterungen und Bemerkungen knüpfen.

Um die Taktik unserer Partei zu begründen, glaube ich mit der Beleuchtung der internationalen Lage beginnen zu müssen. Wir haben schon die ökonomische Lage des Kapitalismus im internationalen Maßstabe eingehend diskutiert, und der Kongress hat darüber bereits bestimmte Resolutionen angenommen. Ich behandle diese Frage in meinen Thesen ganz kurz, nur vom politischen Standpunkte aus. Die ökonomische Grundlage berühre ich nicht, ich glaube aber, dass in der außenpolitischen Lage unserer Republik politisch mit der Tatsache gerechnet werden muss, dass heute unstreitig ein gewisses Gleichgewicht der Kräfte, die offen, mit der Waffe in der Hand, gegeneinander den Kampf um die Herrschaft der einen oder anderen führenden Klassen führten, eingetreten ist, ein Gleichgewicht zwischen der bürgerlichen Gesellschaft, der internationalen Bourgeoisie in ihrer Gesamtheit einerseits und Sowjetrussland anderseits. Allerdings ein Gleichgewicht nur in beschränktem Sinne. Nur von diesem militärischen Kampfe behaupte ich, dass ein gewisses Gleichgewicht in der internationalen Lage eingetreten ist. Es muss natürlich betont werden, dass hier nur von einem relativen Gleichgewicht, von einem höchst unsicheren Gleichgewicht die Rede ist. In den kapitalistischen Staaten hat sich ebenso wie in jenen Ländern, die bisher nur als Objekte der Geschichte und nicht als Subjekte betrachtet wurden, d.h. in den Kolonialländern und Halbkolonialländern, viel Zündstoff angehäuft; daher ist es durchaus möglich, dass in diesen Ländern früher oder später ganz unerwartet Aufstände, große Kämpfe und Revolutionen ausbrechen werden. In den letzten Jahren haben wir den direkten Kampf der internationalen Bourgeoisie gegen die erste proletarische Republik gesehen. Dieser Kampf stand im Mittelpunkt der ganzen weltpolitischen Situation, und eben in dieser weltpolitischen Situation ist jetzt eine Änderung eingetreten. Da der Versuch der internationalen Bourgeoisie, unsere Republik zu erdrosseln, misslungen ist, ist auch ein Gleichgewicht, natürlich ein sehr unsicheres Gleichgewicht, eingetreten.

Natürlich verstehen wir ausgezeichnet, dass die internationale Bourgeoisie jetzt viel stärker ist als unsere Republik und dass nur eine eigenartige Kombination der Verhältnisse sie daran hindert, den Krieg gegen uns fortzusetzen. In den letzten Wochen konnten wir schon wieder einen Versuch im Fernen Osten sehen, die Invasion zu erneuern, und es unterliegt keinem Zweifel, dass man derartige Versuche auch weiter fortsetzen wird. Darüber herrscht in unserer Partei kein Zweifel. Wichtig ist für uns, festzustellen, dass ein labiles Gleichgewicht vorhanden ist, und dass wir diese Atempause ausnutzen müssen, indem wir die charakteristischen Merkmale der momentanen Lage in Erwägung ziehen und unsere Taktik den Eigentümlichkeiten der gegenwärtigen Situation anpassen, ohne auch nur einen Augenblick zu vergessen, dass für uns die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes über Nacht erneut eintreten kann. Die Organisierung der Roten Armee, ihre Stärkung, bleibt nach wie vor unsere Aufgabe. Und in der Lebensmittelfrage müssen wir nach wie vor und in erster Reihe an unsere Rote Armee denken. In der gegebenen internationalen Lage, wo wir immer noch neue Angriffsversuche, neue Invasionsversuche der internationalen Bourgeoisie erwarten müssen, können wir keinen anderen Weg einschlagen. In Bezug auf unsere praktische Politik aber hat die Tatsache, dass in der internationalen Lage ein gewisses Gleichgewicht eingetreten ist, eine gewisse Bedeutung, jedoch nur in dem Sinne, dass wir anerkennen müssen, dass die revolutionäre Bewegung zwar vorwärtsgeschritten, dass aber die Entwicklung der internationalen Revolution in diesem Jahre nicht so gradlinig verlaufen ist, wie wir es erwartet hatten.

Als wir seinerzeit die internationale Revolution begannen, taten wir es nicht in dem Glauben, dass wir der Entwicklung der Revolution vorgreifen könnten, sondern deshalb, weil eine ganze Reihe von Umständen uns veranlasste, diese Revolution zu beginnen. Wir dachten: entweder kommt uns die internationale Revolution zu Hilfe, dann ist unser Sieg ganz sicher, oder wir machen unsere bescheidene revolutionäre Arbeit in dem Bewusstsein, dass wir im Falle einer Niederlage immerhin der Sache der Revolution nützen, dass unsere Erfahrungen den anderen Revolutionen von Nutzen sein werden. Es war uns klar, dass ohne die Unterstützung der internationalen Weltrevolution der Sieg der proletarischen Revolution unmöglich ist. Vor der Revolution und auch nachher dachten wir: entweder gleich oder wenigstens sehr schnell kommt die Revolution in den übrigen Ländern, in den kapitalistisch entwickelteren Ländern, oder aber wir müssen zugrunde gehen. Trotz dieses Bewusstseins taten wir alles, um das Sowjetsystem unter allen Umständen unbedingt aufrechtzuerhalten, denn wir wussten, dass wir nicht nur für uns, sondern auch für die internationale Revolution arbeiten. Wir haben das gewusst, wir haben dieser unserer Auffassung wiederholt Ausdruck gegeben vor der Oktoberrevolution ebenso wie unmittelbar nach der Oktoberrevolution und während des Abschlusses des Brest-Litowsker Friedens. Und das war, allgemein gesprochen, richtig.

Indessen verlief die Bewegung in Wirklichkeit nicht so gradlinig, wie wir erwartet hatten. In den anderen großen, kapitalistisch am meisten entwickelten Ländern ist die Revolution bisher nicht eingetreten. Die Revolution entwickelt sich wohl – wir können das mit Befriedigung feststellen – in der ganzen Welt, und nur diesem Umstande haben wir es zu verdanken, dass die internationale Bourgeoisie, obwohl sie ökonomisch und militärisch hundertmal stärker ist als wir, nicht imstande ist, uns zu erdrosseln.

Wie diese Lage zustande gekommen ist und welche Folgerungen wir daraus ziehen müssen, behandle ich im zweiten Paragraf der Thesen1. Ich will noch hinzufügen, dass ich daraus folgende endgültige Schlussfolgerung ziehe: die Entwicklung der internationalen Revolution, die wir prophezeit haben, macht Fortschritte. Aber dieses Fortschreiten ist nicht so gradlinig, wie wir erwartet haben. Es ist auf den ersten Blick klar, dass es in den anderen kapitalistischen Ländern nach dem Friedensschluss, wie schlecht dieser Friede auch sein mag, nicht gelungen ist, die Revolution zu entfachen, obwohl die Ansätze dafür – wie wir wissen – sehr groß und sehr zahlreich waren, sogar viel größer und zahlreicher, als wir glaubten. Jetzt beginnen Broschüren zu erscheinen, die uns zu erzählen wissen, dass in den letzten Jahren und in den letzten Monaten in Europa diese revolutionären Ansätze viel größer waren als wir ahnten. Was sollen wir jetzt tun? Jetzt ist eine gründliche Vorbereitung der Revolution und ein tiefes Studium ihrer konkreten Entwicklung in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern notwendig. Das ist die erste Lehre, die wir aus der internationalen Lage ziehen müssen. Für unsere Russische Republik müssen wir diese, wenn auch noch so kurze Atempause dazu benutzen, unsere Taktik dieser Zickzacklinie der Geschichte anzupassen. Politisch ist dieses Gleichgewicht sehr wichtig, weil wir klar sehen, dass eben in vielen westeuropäischen Ländern, wo die große Masse der Arbeiterklasse und höchstwahrscheinlich auch die große Mehrheit der Bevölkerung organisiert ist, die Hauptstütze der Bourgeoisie gerade die der Arbeiterklasse feindlichen Organisationen bilden, die der II. und der II½. Internationale angeschlossen sind. Hierüber spreche ich im Paragraf 2 der Thesen, und ich glaube hier nur zwei Punkte berühren zu müssen, die in unserer Diskussion über die Taktik schon erörtert wurden. Erstens, die Eroberung der Mehrheit des Proletariats. Je organisierter das Proletariat in einem kapitalistisch entwickelten Lande ist, um so mehr Gründlichkeit verlangt von uns die Geschichte in der Vorbereitung der Revolution und mit um so größerer Gründlichkeit müssen wir die Mehrheit der Arbeiterklasse erobern. Zweitens ist die Hauptstütze des Kapitalismus in den industriell entwickelten kapitalistischen Ländern gerade der Teil der Arbeiterschaft, der in der II. und der II½. Internationale organisiert ist. Hätte sich die internationale Bourgeoisie nicht auf diesen Teil der Arbeiter, auf diese konterrevolutionären Elemente innerhalb der Arbeiterklasse gestützt, so wäre sie gar nicht imstande gewesen, sich länger zu halten.

Ich möchte hier noch die Bedeutung der Bewegung in den Kolonien betonen. In Bezug auf diese Frage sehen wir in allen alten Parteien, in allen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Arbeiterparteien der II. und II½. Internationale noch immer Reste der alten sentimentalen Auffassung: sie sind voller Sympathie für die unterdrückten Kolonial- und Halbkolonialvölker. Man betrachtet die Bewegung in den Kolonialländern noch immer als unbedeutende nationale und ganz friedliche Bewegung. Dem ist aber nicht so. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind in dieser Beziehung große Veränderungen eingetreten, nämlich: Millionen und hunderte Millionen – faktisch die übergroße Mehrheit der Bevölkerung der Erde – treten jetzt als selbständige, aktive, revolutionäre Faktoren auf. Und es ist absolut klar, dass in den kommenden entscheidenden Schlachten der Weltrevolution die ursprünglich auf die nationale Befreiung gerichtete Bewegung der Mehrheit der Bevölkerung der Erde sich gegen den Kapitalismus und Imperialismus kehren und vielleicht eine viel größere revolutionäre Rolle spielen wird, als wir erwarten. Es ist wichtig zu betonen, dass wir zum ersten Mal in unserer Internationale die Vorbereitungen für diesen Kampf in Angriff genommen haben. Gewiss sind auf diesem gewaltigen Gebiete die Schwierigkeiten viel größer, aber jedenfalls geht die Bewegung vorwärts, und die Massen der Werktätigen, die Bauern der Kolonialländer, werden, obwohl sie jetzt noch rückständig sind, in den folgenden Phasen der Weltrevolution eine sehr große revolutionäre Rolle spielen.

Was die innere politische Lage unserer Republik betrifft, so muss ich mit einer genauen Prüfung der Klassenverhältnisse beginnen. Es ist in den letzten Monaten insofern eine Änderung eingetreten, als wir die Bildung neuer, gegen uns gerichteter Organisationen der Ausbeuterklasse beobachten. Die Aufgabe des Sozialismus besteht darin, die Klassen abzuschaffen. In den vordersten Reihen der Ausbeuterklasse stehen die Großgrundbesitzer und die industriellen Kapitalisten. Hier ist die Arbeit der Zerstörung ziemlich leicht und kann in einigen Monaten, bisweilen sogar in einigen Wochen oder Tagen, zu Ende geführt werden. Wir in Russland haben unsere Ausbeuter, die Großgrundbesitzer ebenso wie die Kapitalisten, expropriiert. Während des Krieges hatten sie keine eigene Organisation und handelten nur als Anhängsel der militärischen Kräfte der internationalen Bourgeoisie. Jetzt, nachdem wir den Angriff der internationalen Konterrevolution zurückgeschlagen haben, hat sich eine Organisation der russischen Bourgeoisie und aller russischen konterrevolutionären Parteien im Ausland gebildet. Man kann die Zahl der russischen Emigranten, die in allen Ländern des Auslandes zerstreut leben, auf anderthalb oder zwei Millionen schätzen. Fast in jedem Lande geben sie Tageszeitungen heraus, und alle Parteien, die der Großgrundbesitzer und die kleinbürgerlichen Parteien, Sozialrevolutionäre und Menschewiki nicht ausgenommen, verfügen über zahlreiche Verbindungen mit ausländischen bürgerlichen Elementen, das heißt, sie bekommen Geld genug, um eine eigene Presse zu haben; wir können beobachten, wie im Auslande alle unsere früheren politischen Parteien ohne Ausnahme gemeinsam arbeiten, und wir sehen, wie die „freie“ russische Presse im Ausland, angefangen von den Sozialrevolutionären und Menschewiki bis zu den reaktionärsten Monarchisten, den Großgrundbesitz verteidigt. Das erleichtert uns bis zu einem gewissen Grade unsere Aufgabe, weil wir die Kräfte des Feindes, seine Organisation und die politischen Richtungen in seinem Lager leichter übersehen können. Auf der anderen Seite erschwert das natürlich unsere Arbeit, weil diese russischen konterrevolutionären Emigranten alle Mittel ausnutzen, um den Kampf gegen uns vorzubereiten. Dieser Kampf beweist von neuem, dass im Großen und Ganzen der Klasseninstinkt und das Klassenbewusstsein der herrschenden Klassen noch immer höher entwickelt sind als das Klassenbewusstsein der unterdrückten Klassen, obwohl die russische Revolution in dieser Hinsicht mehr geleistet hat als alle früheren Revolutionen. In Russland gibt es kein Dorf, in dem das Volk, in dem die Unterdrückten nicht aufgerüttelt worden wären.

Und dennoch, wenn wir kaltblütig die Organisation und die politische Klarheit der Ansichten der im Ausland lebenden russischen konterrevolutionären Emigranten prüfen, werden wir uns überzeugen, dass das Klassenbewusstsein der Bourgeoisie immer noch höher ist als das Klassenbewusstsein der Ausgebeuteten und Unterdrückten. Diese Leute machen alle möglichen Versuche, sie nutzen sehr geschickt jede Gelegenheit aus, um, wenn nicht in dieser, so in anderer Form, Sowjetrussland anzugreifen und zu zerschlagen. Es wäre höchst lehrreich – und ich glaube, die ausländischen Genossen werden das tun –, systematisch die wichtigsten Bestrebungen, die wichtigsten taktischen Methoden, die wichtigsten Strömungen dieser russischen Konterrevolution zu verfolgen. Sie arbeitet hauptsächlich im Auslande, und es wird den ausländischen Genossen nicht besonders schwerfallen, diese Bewegung zu beobachten. In gewisser Hinsicht müssen wir von diesem Feinde lernen. Diese konterrevolutionären Emigranten sind sehr unterrichtet, großartig organisiert, sie sind gute Strategen, und ich glaube, das systematische Vergleichen, das systematische Studium dessen, wie sie sich organisieren, wie sie diese oder jene Gelegenheit ausnutzen, könnte eine starke propagandistische Wirkung auf die Arbeiterklasse ausüben. Das ist keine allgemeine Theorie, das ist praktische Politik, und man sieht hier, was der Feind gelernt hat. Die russische Bourgeoisie hat in den letzten Jahren eine furchtbare Niederlage erlitten. Ein altes geflügeltes Wort sagt, dass eine geschlagene Armee viel lernt. Die geschlagene reaktionäre Armee hat viel gelernt, ausgezeichnet gelernt. Sie lernt mit größtem Heißhunger, und sie hat wirklich große Erfolge erzielt. Damals, als wir die Macht in einem einzigen Ansturm nahmen, war die russische Bourgeoisie unorganisiert, politisch unentwickelt. Jetzt, glaube ich, steht sie auf der Höhe der modernen westeuropäischen Entwicklung. Wir müssen dem Rechnung tragen, wir müssen unsere eigenen Organisationen und Methoden verbessern, und wir werden darauf mit allen Kräften hinarbeiten. Es war verhältnismäßig leicht für uns, und ich glaube, es wird auch für die anderen Revolutionen ebenso leicht sein, mit diesen zwei Ausbeuterklassen fertig zu werden.

Aber außer dieser Ausbeuterklasse gibt es fast in allen kapitalistischen Ländern, England vielleicht ausgenommen, die Klasse der Kleinproduzenten und der kleinen Ackerbautreibenden. Die große Frage der Revolution ist jetzt der Kampf gegen diese zwei letzten Klassen. Um sie loszuwerden, muss man andere Methoden anwenden als im Kampf gegen die Großgrundbesitzer und Kapitalisten. Diese beiden Klassen konnten wir einfach expropriieren, fortjagen, das haben wir auch getan. Aber mit den letzten kapitalistischen Klassen, mit den kleinen Produzenten und mit den Kleinbürgern, die in allen Ländern existieren, können wir es nicht so machen. In den meisten kapitalistischen Ländern stellen diese Klassen eine sehr starke Minderheit, etwa 30 bis 45 Prozent der Bevölkerung, dar. Wenn wir die kleinbürgerlichen Elemente der Arbeiterschaft hinzunehmen, werden es sogar mehr als 50 Prozent sein. Man kann sie nicht expropriieren oder fortjagen, hier muss der Kampf anders geführt werden. Die Bedeutung der Periode, die jetzt in Russland beginnt, besteht, vom internationalen Standpunkte aus – wenn wir die internationale Revolution als einheitlichen Prozess betrachten –, wesentlich darin, dass wir praktisch die Frage des Verhältnisses des Proletariats zur letzten kapitalistischen Klasse in Russland zu lösen haben. Theoretisch haben alle Marxisten diese Frage gut und leicht gelöst; aber Theorie und Praxis ist zweierlei, und diese Frage praktisch oder theoretisch zu lösen, ist durchaus nicht ein und dasselbe. Wir wissen bestimmt, dass wir große Fehler gemacht haben. Vom internationalen Standpunkt aus ist es ein enormer Fortschritt, dass wir bestrebt sind, das Verhältnis des Proletariats, das die Staatsmacht in seinen Händen hält, zu der letzten kapitalistischen Klasse, zur tiefsten Grundlage des Kapitalismus, zum kleinen Eigentum, zum Kleinproduzenten zu bestimmen. Diese Frage ist uns jetzt praktisch gestellt. Ich glaube, dass wir diese Aufgabe werden lösen können. Jedenfalls werden die Erfahrungen, die wir machen, für die kommenden proletarischen Revolutionen von Nutzen sein, und sie werden sich technisch besser auf die Lösung dieser Frage vorbereiten können.

Ich habe versucht, in meinen Thesen die Frage des Verhältnisses des Proletariats zur Bauernschaft zu analysieren. Zum ersten Mal in der Geschichte gibt es einen Staat, in dem nur diese zwei Klassen vorhanden sind: nur das Proletariat und die Bauernschaft. Die Bauernschaft bildet die übergroße Mehrheit der Bevölkerung. Sie ist natürlich sehr zurückgeblieben. Wie gestaltet sich nun praktisch, in der Entwicklung der Revolution, das Verhältnis des Proletariats, das die Macht in den Händen hält, zur Bauernschaft? Die erste Form ist die eines Bündnisses, eines engen Bündnisses. Das ist eine sehr schwierige, aber jedenfalls ökonomisch und politisch mögliche Aufgabe.

Wie gingen wir nun praktisch vor? Wir schlossen ein Bündnis mit der Bauernschaft. Wir verstehen dieses Bündnis so: das Proletariat befreit die Bauernschaft von der Ausbeutung durch die Bourgeoisie, befreit sie von der Führung und Beeinflussung durch die Bourgeoisie, es gewinnt sie für sich, um die Ausbeuter gemeinsam zu besiegen.

Die Menschewiki argumentieren folgendermaßen: die Bauernschaft bildet die Mehrheit, wir sind reine Demokraten, die Mehrheit soll also beschließen. Da aber die Bauernschaft nicht selbständig sein kann, so bedeutet das praktisch nichts anderes als die Restauration des Kapitalismus. Die Losung ist dieselbe: Bündnis mit den Bauern. Wenn wir davon sprechen, so verstehen wir darunter die Stärkung und Kräftigung des Proletariats. Wir haben dieses Bündnis zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft zu verwirklichen versucht, und die erste Etappe war ein Kriegsbündnis. Der dreijährige Bürgerkrieg schuf enorme Schwierigkeiten, aber er erleichterte in gewisser Hinsicht unsere Aufgabe. Das mag seltsam klingen, aber es ist so. Der Krieg war nichts Neues für die Bauern; der Krieg gegen die Ausbeuter, gegen die Großgrundbesitzer war ihnen durchaus verständlich. Die ungeheuren Massen der Bauern waren für uns. Trotz der riesigen Entfernungen, trotzdem die Mehrzahl unserer Bauern weder lesen noch schreiben kann, wurde unsere Propaganda sehr leicht aufgenommen. Das ist ein Beweis dafür, dass die großen Massen – ebenso wie in den fortgeschrittensten Ländern – aus ihren eigenen praktischen Erfahrungen viel eher lernen als aus Büchern. Und bei uns wurde die praktische Erfahrung für die Bauernschaft noch dadurch erleichtert, dass Russland so außerordentlich groß ist und verschiedene Teile Russlands nebeneinander verschiedene Stadien der Entwicklung durchmachen konnten.

In Sibirien und in der Ukraine konnte die Konterrevolution zeitweilig siegen, weil die Bourgeoisie dort die Bauernschaft hinter sich hatte, weil die Bauern gegen uns waren. Die Bauern erklärten sehr oft: „Wir sind Bolschewiki, aber keine Kommunisten. Wir sind für die Bolschewiki, weil sie die Gutsbesitzer fortgejagt haben; wir sind aber nicht für die Kommunisten, weil die Kommunisten gegen die individuelle Wirtschaft sind.“ Für eine gewisse Zeit konnte die Konterrevolution in Sibirien und in der Ukraine siegen, weil die Bourgeoisie im Kampfe um den Einfluss unter der Bauernschaft erfolgreich war. Allein, eine sehr kurze Zeit genügte, um den Bauern die Augen zu öffnen. In kurzer Zeit hatten sie praktische Erfahrungen gesammelt, und bald sagten sie: „Ja, die Bolschewiki sind recht unangenehme Leute, wir haben sie nicht gern, allein sie sind jedenfalls besser als die Weißgardisten und die Konstituante.“ Konstituante ist bei ihnen ein Schimpfwort, nicht nur bei den aufgeklärten Kommunisten, sondern auch bei den Bauern. Sie wissen aus dem praktischen Leben, dass Konstituante und Weiße Garde ein und dasselbe bedeuten, dass der Konstituante die Weiße Garde auf dem Fuße folgt. Auch die Menschewiki nutzen das Kriegsbündnis mit der Bauernschaft aus, ohne aber daran zu denken, dass dieses Bündnis allein nicht genügt. Ein Kriegsbündnis kann ohne ein ökonomisches Bündnis nicht existieren. Wir leben ja nicht von der Luft allein; unser Bündnis mit den Bauern hätte sich keineswegs lange halten können ohne ein wirtschaftliches Fundament, das die Grundlage unseres Sieges im Krieg gegen unsere Bourgeoisie war: denn unsere Bourgeoisie vereinigte sich ja mit der ganzen internationalen Bourgeoisie.

Die Grundlage dieses ökonomischen Bündnisses zwischen uns und der Bauernschaft war natürlich sehr einfach, sogar primitiv. Der Bauer bekam von uns das ganze Land und die Unterstützung gegen den Großgrundbesitz. Wir sollten dafür Lebensmittel erhalten. Dieses Bündnis war ganz neuartig und beruhte nicht auf dem gewöhnlichen Verhältnis zwischen Warenproduzenten und Konsumenten. Unsere Bauern verstanden das viel besser als die Helden der II. und der II½. Internationale. Sie sagten sich: „Diese Bolschewiki sind strenge Führer, aber sie sind doch unsere Leute.“ Wir schufen jedenfalls auf diese Weise die Grundlagen eines neuen wirtschaftlichen Bündnisses. Die Bauern gaben der Roten Armee ihre Produkte und bekamen von ihr Unterstützung bei der Verteidigung ihres Besitzes. Das vergessen immer wieder die Helden der II. Internationale, die, wie Otto Bauer, die jetzige Situation ganz und gar nicht begreifen. Wir gestehen, dass die ursprüngliche Form des Bündnisses sehr primitiv war und dass wir sehr viele Fehler gemacht haben. Allein, wir mussten so schnell wie möglich handeln, wir mussten, koste es, was es wolle, die Verpflegung der Armee organisieren. Während des Bürgerkrieges waren wir von allen Getreidegebieten Russlands abgeschnitten. Unsere Lage war furchtbar, und es ist schier ein Wunder, dass das russische Volk und die russische Arbeiterklasse so viele Leiden, Not und Entbehrungen ertragen konnten, stets nur von dem Willen getragen, den Sieg zu erringen.

Nach dem Bürgerkrieg war unsere Aufgabe jedenfalls eine andere geworden. Wäre das Land nicht derart ruiniert gewesen, wie es nach den sieben Jahren ununterbrochenen Krieges der Fall war, so wäre vielleicht der Übergang zu einer neuen Form des Bündnisses zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft leichter gewesen. Aber die ohnehin schwierigen Verhältnisse im Lande wurden noch durch die Missernte, den Mangel an Futtermitteln usw. kompliziert. Die Entbehrungen der Bauernschaft wurden dadurch unerträglich. Wir mussten sofort etwas unternehmen, um der großen Masse der Bauernschaft klar zu zeigen, dass wir bereit sind, auf revolutionärem Wege unsere Politik unbedingt so zu ändern, dass sich die Bauern sagen können: die Bolschewiki wollen unverzüglich unsere unerträgliche Lage verbessern, koste es, was es kosten mag.

Und so kam dann die Änderung unserer ökonomischen Politik, an Stelle der Requisition trat die Naturalsteuer. Das wurde nicht mit einem Mal ersonnen. In der bolschewistischen Presse könnt ihr Monate hindurch Vorschläge finden, allein ein wirklich erfolgversprechendes Projekt wurde nicht ersonnen. Das ist aber nicht wichtig. Wichtig ist die Tatsache, dass wir diese Änderung unserer ökonomischen Politik durchgeführt haben, nur der praktischen Lage, der Notwendigkeit der Lage gehorchend. Missernte, Futtermittelnot, Mangel an Brennmaterial, das alles hat natürlich entscheidenden Einfluss auf die ganze Wirtschaft, auch auf die Bauernwirtschaft. Streikt die Bauernschaft, dann bekommen wir kein Holz. Und bekommen wir kein Holz, dann müssen die Fabriken stillstehen. Die ökonomische Krise war daher infolge der großen Missernte und des Mangels an Futtermitteln im Frühjahr 1921 riesig groß. Das waren alles Folgen des dreijährigen Bürgerkrieges. Es galt nun, der Bauernschaft zu zeigen, dass wir unsere Politik schnell ändern können und wollen, um die Not der Bauernschaft unverzüglich zu lindem. Wir sagen immer, auch auf dem II. Kongress wurde es gesagt, die Revolution kostet Opfer. Es gibt Genossen, die in ihrer Propaganda so argumentieren: wir sind bereit, die Revolution zu machen, aber sie darf nicht allzu schwer sein. Wenn ich nicht irre, hat Genosse Šmeral diesen Satz in seiner Rede auf dem tschechoslowakischen Parteitage ausgesprochen. Ich habe das im Bericht des Reichenberger „Vorwärts“ gelesen. Dort gibt es wohl einen etwas linken Flügel. Also ganz unparteiisch ist diese Quelle nicht. Jedenfalls muss ich erklären, dass Šmeral, wenn er dies gesagt haben sollte, unrecht hat. Einige Redner, die nach Šmeral sprachen, sagten auf jenem Parteitag: „Ja, wir gehen mit Šmeral, weil wir dann keinen Bürgerkrieg haben werden.“ Ist das alles wahr, so muss ich erklären, dass eine solche Agitation nicht kommunistisch, nicht revolutionär ist. Natürlich bedeutet jede Revolution gewaltige Opfer für die Klasse, die die Revolution macht. Die Revolution unterscheidet sich von den gewöhnlichen Kämpfen dadurch, dass zehnmal, hundertmal mehr Menschen an der Bewegung teilnehmen, und in dieser Hinsicht bedeutet jede Revolution Opfer, nicht nur für einzelne Personen, sondern für die ganze Klasse. Die Diktatur des Proletariats in Russland hat so viel Opfer, so viel Not und Entbehrungen für die herrschende Klasse, für das Proletariat, zur Folge, wie sie nirgends in der Geschichte zu verzeichnen waren, und das wird höchstwahrscheinlich in jedem anderen Lande ebenso sein.

Die Frage ist die: wie verteilen wir diese Entbehrungen? Wir sind die Staatsmacht. Wir sind bis zu einem gewissen Grade imstande, die Entbehrungen zu verteilen, sie mehreren Klassen aufzubürden und dadurch die Lage einzelner Schichten der Bevölkerung verhältnismäßig zu erleichtern. Nach welchem Grundsatz müssen wir verfahren? Nach dem der Gerechtigkeit oder der Mehrheit? Nein. Wir müssen praktisch handeln, wir müssen die Verteilung so vornehmen, dass wir die Macht des Proletariats erhalten. Das ist unser einziger Grundsatz. Am Anfang der Revolution musste die Arbeiterklasse enorme Entbehrungen erdulden. Ich stelle jetzt fest, dass unsere Ernährungspolitik von Jahr zu Jahr immer größere Erfolge erzielt. Und die Lage hat sich im Allgemeinen zweifellos gebessert. Aber die Bauern haben in Russland von der Revolution unbedingt mehr gewonnen als die Arbeiterklasse. Darüber besteht kein Zweifel. Vom theoretischen Standpunkt aus beweist das natürlich, dass unsere Revolution bis zu einem gewissen Grade eine bürgerliche Revolution war. Als Kautsky dieses Argument gegen uns vorbrachte, lachten wir. Es ist natürlich, dass es ohne Expropriierung des Großgrundbesitzes, ohne Fortjagen der Gutsbesitzer und ohne Aufteilung des Grund und Bodens nur eine bürgerliche und keine sozialistische Revolution gibt. Allein wir waren die einzige Partei, die es vermochte, die bürgerliche Revolution zu Ende zu führen und den Kampf für die sozialistische Revolution zu erleichtern. Die Sowjetmacht und das Sowjetsystem sind Institutionen unseres Staates. Wir haben diese Institutionen schon geschaffen, aber das Problem des gegenseitigen ökonomischen Verhältnisses zwischen Bauernschaft und Proletariat ist noch nicht gelöst. Vieles ist noch zu tun, und das Resultat dieses Kampfes wird davon abhängen, ob wir diese Aufgabe werden lösen können oder nicht. Also, die praktische Verteilung der Entbehrungen ist eine der schwierigsten Fragen. Im Allgemeinen ist in der Lage der Bauernschaft eine Besserung eingetreten, während der Arbeiterklasse schwere Leiden zufielen, gerade weil die Arbeiterklasse ihre Diktatur ausübt.

Ich sagte schon, der Mangel an Futtermitteln und die Missernte brachten im Frühjahr 1921 der Bauernschaft die furchtbarste Not. Die Bauernschaft bildet bei uns die Mehrheit. Ohne mit den Bauernmassen in einem guten Verhältnis zu stehen, können wir nicht existieren. Es war daher unsere Aufgabe, ihnen sofort zu helfen. Für die Arbeiterklasse ist die Lage sehr schwierig. Sie leidet furchtbar. Doch die politisch entwickelteren Elemente begreifen, dass wir im Interesse der Diktatur der Arbeiterklasse die größten Anstrengungen machen müssen, um der Bauernschaft zu helfen, koste es, was es wolle. Die Avantgarde der Arbeiterklasse hat das begriffen. Es gibt aber in dieser Avantgarde noch Leute, die das nicht kapieren können, die zu ermattet sind, um das zu verstehen. Sie erblickten darin einen Fehler, sie fingen an, das Wort Opportunismus zu gebrauchen. Man sagte, jetzt helfen die Bolschewiki den Bauern. Der Bauer, der unser Ausbeuter sei, bekomme alles, was er will, der Arbeiter aber hungere … Aber ist das Opportunismus? Wir helfen den Bauern aus dem Grunde, weil ohne das Bündnis mit der Bauernschaft die politische Macht des Proletariats unmöglich und nicht zu halten ist. Eben diese Zweckmäßigkeitsgründe waren für uns entscheidend, und nicht das Motiv der gerechten Verteilung. Wir helfen den Bauern, weil das unerlässlich ist, damit wir uns die politische Macht erhalten. Das höchste Prinzip der Diktatur ist die Wahrung des Bündnisses des Proletariats mit der Bauernschaft, damit das Proletariat die leitende Rolle und die Staatsmacht behaupten könne.

Das einzige Mittel, das wir hierfür gefunden haben, war der Übergang zur Naturalsteuer, eine unvermeidliche Folge des Kampfes. Wir werden die Naturalsteuer im nächsten Jahre zum ersten Mal anwenden. Praktisch ist dies Prinzip noch nicht erprobt. Wir müssen vom Kriegsbündnis zum ökonomischen übergehen, und theoretisch ist die einzige Grundlage für dieses ökonomische Bündnis die Einführung der Naturalsteuer. Das ist theoretisch die einzige Möglichkeit. zu einer wirklich soliden ökonomischen Basis der sozialistischen Gesellschaft zu kommen. Die sozialisierte Fabrik gibt dem Bauern ihre Produkte, und der Bauer gibt dafür Getreide. Das ist die einzig mögliche Existenzform der sozialistischen Gesellschaft, die einzige Form des sozialistischen Aufbaus in einem Lande, in dem der Kleinbauer die Mehrheit oder zumindest eine sehr starke Minderheit bildet. Einen Teil wird der Bauer als Steuer, den andern Teil im Austausch gegen die Produkte der sozialistischen Fabrik oder im Warenaustausch hergeben.

Und hier kommen wir zu dem schwierigsten Punkte. Die Naturalsteuer bedeutet selbstverständlich Freiheit des Handels. Der Bauer hat das Recht, den Rest seines Getreides, der ihm nach der Naturalsteuer bleibt, frei auszutauschen. Diese Freiheit des Austausches bedeutet Freiheit des Kapitalismus. Wir sagen das offen und betonen das. Wir verhehlen das keineswegs. Es wäre sehr schlimm um uns bestellt, wenn wir das verheimlichen wollten. Freiheit des Handels bedeutet Freiheit des Kapitalismus, bedeutet aber gleichzeitig eine neue Form des Kapitalismus. Das bedeutet, dass wir den Kapitalismus bis zu einem gewissen Grad neu schaffen. Wir tun das ganz offen. Das ist Staatskapitalismus. Allein Staatskapitalismus in einer Gesellschaft, in der das Kapital die Macht hat, und Staatskapitalismus in einem proletarischen Staat sind zwei verschiedene Begriffe. In einem kapitalistischen Staate bedeutet der Staatskapitalismus, dass der Kapitalismus vom Staate anerkannt, vom Staate kontrolliert wird zum Nutzen der Bourgeoisie, gegen das Proletariat. Im proletarischen Staat geschieht dasselbe zum Nutzen der Arbeiterklasse, um gegen die noch immer starke Bourgeoisie bestehen und kämpfen zu können. Wir müssen selbstverständlich der fremden Bourgeoisie, dem ausländischen Kapital, Konzessionen gewähren. Wir geben ohne die geringste Entstaatlichung Bergwerke, Waldungen, Erdölquellen an auswärtige Kapitalisten, um von ihnen Industrieartikel, Maschinen usw. zu erhalten, um auf diese Weise unsere eigene Industrie wiederherzustellen.

In der Frage des Staatskapitalismus waren wir selbstverständlich nicht alle gleich einig. Wir konnten aber bei diesem Anlass mit großer Freude feststellen, dass unsere Bauernschaft sich entwickelt und dass sie die historische Bedeutung des Kampfes, den wir jetzt führen, vollständig begriffen hat. Ganz einfache Bauern aus den entlegensten Orten kamen zu uns und sagten: „Wie? Unsere Kapitalisten, die russisch sprechen, hat man verjagt, und jetzt sollen fremde Kapitalisten zu uns kommen?“ Zeugt das nicht für die Entwicklung unserer Bauern? Dem ökonomisch gebildeten Arbeiter brauchen wir nicht zu erklären, warum das notwendig ist. Durch den siebenjährigen Krieg sind wir so ruiniert, dass die Wiederherstellung unserer Industrie viele Jahre erfordert. Wir müssen für unsere Rückständigkeit, für unsere Schwäche, für das, was wir jetzt lernen und lernen müssen, zahlen. Wer lernen will, muss Lehrgeld zahlen. Wir müssen das allen und jedem vor Augen führen. Und wenn wir das praktisch beweisen, werden die riesigen Massen der Bauernschaft und der Arbeiterschaft mit uns einverstanden sein, weil dadurch ihre Lage sofort verbessert wird, weil dadurch der Wiederaufbau unserer Industrie ermöglicht wird. Was zwingt uns dazu? Wir sind nicht allein auf der Welt. Wir existieren als Glied der Weltwirtschaft in einer Kette der kapitalistischen Staaten. Auf der einen Seite Kolonialländer, aber die können uns noch nicht helfen; auf der anderen Seite kapitalistische Länder, die aber sind unsere Feinde. Es ist ein gewisses Gleichgewicht eingetreten, allerdings ein sehr schlechtes Gleichgewicht, aber wir müssen doch mit dieser Tatsache rechnen. Wir dürfen nicht vor dieser Tatsache die Augen verschließen, wenn wir existieren wollen. Entweder sofortiger Sieg über die gesamte Bourgeoisie oder Tribut zahlen.

Wir gestehen ganz offen, verheimlichen es nicht: Konzessionen im System des Staatskapitalismus bedeuten Tribut an den Kapitalismus. Aber wir gewinnen Zeit, und Zeit gewinnen, heißt alles gewinnen, insbesondere in der Epoche des Gleichgewichts, in der Epoche, in der unsere ausländischen Genossen ihre Revolution gründlich vorbereiten. Je gründlicher sie aber vorbereitet wird, desto sicherer wird der Sieg sein. Bis dahin aber werden wir Tribut zahlen müssen.

Einige Worte über unsere Politik der Lebensmittelversorgung. Diese Politik war zweifellos primitiv und schlecht, doch haben wir auch Erfolge aufzuweisen. Bei diesem Anlass muss ich abermals betonen, dass die einzig mögliche ökonomische Grundlage des Sozialismus die maschinelle Großindustrie ist. Wer das vergisst, ist kein Kommunist. Wir müssen das konkret ausarbeiten. Wir dürfen die Fragen nicht so stellen, wie die Theoretiker des alten Sozialismus es tun, wir müssen sie praktisch stellen. Was heißt moderne Großindustrie? Das heißt, ganz Russland elektrifizieren. Schweden, Deutschland und Amerika sind schon nahe daran, das zu verwirklichen, obwohl sie noch bürgerliche Länder sind. Ein Genosse aus Schweden erzählte mir, dass dort ein großer Teil der Industrie elektrifiziert ist und auch 30 Prozent der Landwirtschaft. In Deutschland und Amerika als noch entwickelteren kapitalistischen Ländern ist das in noch höherem Maße der Fall. Maschinelle Großindustrie ist gleichbedeutend mit Elektrifizierung des ganzen Landes. Wir haben schon eine spezielle Kommission ernannt, bestehend aus den besten Volkswirtschaftlern und technischen Kräften. Sie sind allerdings fast alle gegen die Sowjetmacht gestimmt. Alle diese Spezialisten werden zum Kommunismus kommen, aber nicht so wie wir durch zwanzigjährige illegale Arbeit, während der wir das ABC des Kommunismus fortgesetzt studiert, wiederholt und wiedergekäut haben.

Fast alle Organe der Sowjetmacht waren dafür, dass wir zu den Spezialisten gehen. Die Spezialisten, die Ingenieure werden zu uns kommen, wenn wir ihnen praktisch beweisen, dass auf diese Art die Produktivkräfte des Landes gehoben werden. Es genügt nicht, ihnen das theoretisch zu beweisen. Wir müssen ihnen das praktisch beweisen. Und wir werden diese Leute für uns gewinnen, wenn wir die Frage anders stellen, nicht so, dass wir den Kommunismus theoretisch propagieren. Wir sagen: die Großindustrie ist das einzige Mittel, um die Bauernschaft vor Not und Hunger zu retten. Damit sind alle einverstanden. Aber wie ist das zu machen? Die Industrie auf der alten Grundlage zu rekonstruieren, erfordert allzu viel Arbeit und Zeit. Wir müssen die Industrie moderner gestalten, und zwar dadurch, dass wir zur Elektrifizierung übergehen. Die Elektrifizierung nimmt viel weniger Zeit in Anspruch. Die Pläne der Elektrifizierung haben wir schon ausgearbeitet. Mehr als zweihundert Spezialisten – fast alle ohne Ausnahme Gegner der Sowjetmacht – haben daran mit Interesse gearbeitet, obwohl sie nicht Kommunisten sind; sie taten das, weil sie vom Standpunkt der. technischen Wissenschaft aus anerkennen müssten, dass das der einzig richtige Weg ist. Natürlich ist vom Plan bis zur Verwirklichung noch ein sehr weiter Weg. Die vorsichtigen Spezialisten sagen, die erste Reihe der Arbeiten erfordere nicht weniger als zehn Jahre. Für Deutschland hat Professor Ballod berechnet, dass drei bis vier Jahre genügen, um es zu elektrifizieren. Für uns sind zehn Jahre zu wenig. Ich gebe in meinen Thesen die faktischen Zahlen an, damit ihr seht, wie wenig wir bisher auf diesem Gebiet tun konnten. Die Ziffern, die ich anführe, sind so bescheiden, dass man sofort sieht, sie haben mehr propagandistische als wissenschaftliche Bedeutung. Wir müssen aber mit der Propaganda beginnen. Der russische Bauer, der am Weltkriege teilgenommen und mehrere Jahre in Deutschland gelebt hat, hat dort gesehen, wie man modern wirtschaften muss, um den Hunger zu besiegen. Wir müssen eine große Propaganda dafür machen. Diese Pläne haben an und für sich eine geringe praktische, dafür aber eine sehr große agitatorische Bedeutung.

Der Bauer sieht, dass etwas Neues gemacht werden muss, der Bauer versteht, dass nicht jeder für sich, sondern der ganze Staat als Ganzes daran arbeiten muss. Der Bauer hat in der Kriegsgefangenschaft in Deutschland gesehen und gelernt, was die wirkliche Grundlage des Lebens, des kultivierten Lebens ist. Zwölftausend Kilowatt ist ein sehr bescheidener Anfang. Vielleicht wird der Ausländer, der die amerikanische, deutsche oder schwedische Elektrifizierung kennt, darüber lachen. Aber ich sage, wer zuletzt lacht, lacht am besten. Das mag ein bescheidener Anfang sein. Die Massen der Bauernschaft beginnen zu verstehen, dass neue Arbeiten in riesigem Maßstab durchgeführt werden müssen, und sie werden schon in Angriff genommen. Es sind enorme Schwierigkeiten zu überwinden. Wir werden versuchen, mit den kapitalistischen Ländern in Beziehung zu treten. Man soll es nicht bedauern, wenn wir den Kapitalisten einige hundert Millionen Kilogramm Erdöl zur Verfügung stellen unter der Bedingung, dass sie uns helfen, unser Land zu elektrifizieren.

Und nun zum Schluss einige Worte über die „reine Demokratie“. Ich zitiere, was Engels in seinem Brief an Bebel am 11. Dezember 1884 schrieb:

Die reine Demokratie kann „im Moment der Revolution als äußerste bürgerliche Partei, als welche sie sich schon in Frankfurt aufgespielt, als letzter Rettungsanker der ganzen bürgerlichen und selbst feudaler Wirtschaft momentan Bedeutung bekommen … So verstärkte die gesamte feudal-bürokratische Masse 1848 März bis September die Liberalen, um die revolutionären Massen niederzuhalten … Jedenfalls ist unser einziger Gegner am Tag der Krise und am Tag nachher – die um die reine Demokratie sich gruppierende Gesamtreaktion und das, glaub ich, darf nicht aus den Augen verloren werden.“

Wir können unsere Fragen nicht so stellen, wie es die Theoretiker tun. Die gesamte Reaktion, nicht nur die bürgerliche, sondern auch die feudale, gruppiert sich um die „reine Demokratie“. Die deutschen Genossen wissen am besten, was die „reine Demokratie“ bedeutet, weil Kautsky und die anderen Führer der II. und der II½. Internationale diese „reine Demokratie“ gegen die bösen Bolschewiki verteidigen. Beurteilen wir die russischen Sozialrevolutionäre und die Menschewiki nicht nach ihren Worten, sondern nach ihren Taten, dann sind sie nichts anderes als Vertreter der kleinbürgerlichen „reinen Demokratie“. In unserer Revolution haben sie mit klassischer Reinheit gezeigt – während der letzten Krise ebenso wie während des Aufstandes in Kronstadt –, was die „reine Demokratie“ bedeutet. Die Gärung unter der Bauernschaft war sehr stark, auch unter den Arbeitern herrschte Unzufriedenheit. Sie waren müde und erschöpft. Es gibt ja auch Grenzen der menschlichen Kraft. Drei Jahre lang haben sie gehungert. Man kann aber nicht vier oder fünf Jahre lang hungern. Natürlich hat der Hunger einen gewaltigen Einfluss auf die politische Aktivität. Was taten die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki? Während der ganzen Zeit schwankten sie und stärkten dadurch die Bourgeoisie. Die Organisierung aller russischen Parteien im Auslande hat gezeigt, wie jetzt die Sache steht. Die klügsten Führer der russischen Großbourgeoisie sagten sich: „Wir können in Russland nicht sofort siegen, demnach muss unsere Losung sein: ,Sowjets ohne Bolschewiki'.“ Der Führer der Kadetten, Miljukow, verteidigte die Sowjetmacht gegen die Sozialrevolutionäre. Das klingt höchst seltsam. Das ist aber die praktische Dialektik, die wir in unserer Revolution auf eigenartige Weise studieren: aus der Praxis unseres Kampfes und des Kampfes unserer Gegner. Die Kadetten verteidigen die „Sowjets ohne Bolschewiki“, weil sie die Lage gut verstehen und weil sie hoffen, auf diese Weise einen Teil der Bevölkerung zu ködern. Das sagen die klugen Kadetten. Nicht alle Kadetten sind natürlich klug, aber ein Teil ist klug und hat gewisse Erfahrungen aus der französischen Revolution geschöpft. Die Parole ist jetzt: Kampf gegen die Bolschewiki um jeden Preis, koste es, was es wolle. Die gesamte Bourgeoisie hilft jetzt den Menschewiki und den Sozialrevolutionären. Die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki bilden jetzt die Avantgarde der gesamten Reaktion. Wir haben in diesem Frühjahr die Früchte dieser konterrevolutionären Verbrüderung gesehen.

Daher müssen wir den rücksichtslosen Kampf gegen diese Elemente fortsetzen. Die Diktatur ist der Zustand des verschärften Krieges. Wir befinden uns eben in einem Zustand des verschärften Krieges. Eine militärische Invasion ist jetzt nicht vorhanden. Allein, wir stehen isoliert da. Aber anderseits sind wir nicht ganz isoliert, insofern die gesamte internationale Bourgeoisie der Welt nicht imstande ist, den Krieg jetzt offen gegen uns zu führen, weil die gesamte Arbeiterklasse – obwohl die Mehrheit noch nicht kommunistisch ist – doch so weit ist, dass sie die Intervention nicht zulässt. Die Bourgeoisie muss mit dieser Stimmung der Massen rechnen, obwohl diese den Kommunismus noch nicht voll anerkannt haben. Deshalb ist die Bourgeoisie nicht imstande, sofort die Offensive gegen uns zu ergreifen, obwohl das nicht ausgeschlossen ist. Solange kein allgemeines, definitives Resultat da sein wird, wird der Zustand des furchtbaren Krieges fortdauern. Und wir sagen: „Im Kriege handeln wir nach Kriegsbrauch, wir versprechen keine Freiheiten und keine Demokratie.“ Wir erklären ganz offen den Bauern, dass sie wählen müssen: entweder die Macht der Bolschewiki – und dann werden wir ihnen Konzessionen machen bis zu den Grenzen, in denen es möglich ist, die Macht zu behalten, dann aber werden wir sie zum Sozialismus führen – oder aber die bürgerliche Macht. Alles andere ist Betrug, reinste Demagogie. Gegen diesen Betrug, gegen diese Demagogie müssen wir den Kampf bis aufs Messer führen. Unser Standpunkt ist: einstweilen große Konzessionen und größte Vorsicht, eben weil ein gewisses Gleichgewicht vorhanden ist, eben weil wir schwächer sind als unsere vereinigten Gegner, weil unsere ökonomische Basis zu schwach ist, weil wir eine stärkere wirtschaftliche Basis haben müssen.

Das ist das, was ich den Genossen über unsere Taktik, über die Taktik der Kommunistischen Partei Russlands, sagen wollte.

1Der Paragraph 2 der Thesen „Über die Taktik der KPR(B)“ („Das gegenseitige Verhältnis der Klassenkräfte im internationalen Maßstabe“) lautet:

Bei einem solchen Stand der Dinge hat sich das Verhältnis der Klassenkräfte im internationalen Maßstabe in folgender Weise gestaltet:

Die internationale Bourgeoisie, die keine Möglichkeit hat, den offenen Krieg gegen Sowjetrussland zu führen, wartet in Wachbereitschaft den Moment ab, wo die Umstände es ihr gestatten werden, diesen Krieg wieder von neuem zu beginnen.

Das Proletariat der entwickelten kapitalistischen Länder hat bereits überall seine Avantgarde herauskristallisiert, die kommunistischen Parteien, die wachsen und die unaufhaltsam an die Eroberung der Mehrheit des Proletariats in jedem Land herangehen, wobei sie den Einfluss der alten trade-unionistischen Bürokraten und der von imperialistischen Privilegien korrumpierten Aristokratie der Arbeiterklasse Europas und Amerikas zerstören.

Die kleinbürgerliche Demokratie der kapitalistischen Länder, deren entwickeltsten Teil die II. Internationale und die Internationale Zweieinhalb darstellen, ist gegenwärtig die Hauptstütze des Kapitalismus, soweit unter ihrem Einfluss die Mehrheit oder ein bedeutender Teil der in Industrie, und Handel beschäftigten Arbeiter und Angestellten steht, die im Falle einer Revolution ihre relativ spießbürgerliche Lebenshaltung, die eine Folge der Privilegien des Imperialismus ist, zu verlieren fürchten. Aber die anwachsende ökonomische Krise verschlechtert überall die Lage der breiten Massen, und dieser Umstand, wie die immer klarer werdende Unvermeidlichkeit neuer imperialistischer Kriege bei einer Aufrechterhaltung des Kapitalismus, erschüttert diese Stütze immer mehr.

Die werktätigen Massen der Kolonial- und Halbkolonialländer, die die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung der Erde bilden, sind bereits seit dem Beginn des XX. Jahrhunderts zum politischen Leben erwacht, insbesondere durch die Revolution in Russland, der Türkei, Persien und China. Der imperialistische Krieg von 1914–1918 und die Sowjetmacht in Russland verwandeln diese Massen in einen aktiven Faktor der Weltpolitik und der revolutionären Zertrümmerung des Imperialismus“ (Thesen und Resolutionen des III. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Verlag der Kommunistischen Internationale 1921, S. 94 f, vergl. auch Lenin, Sämtliche Werke, Bd. XXVI). [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 9, Anm. 71]

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