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Wladimir I. Lenin 19150501 Das Problem der Vereinigung der Internationalisten

Wladimir I. Lenin: Das Problem der Vereinigung der Internationalisten

[Sozialdemokrat Nr. 41, 1. Mai 1915. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 195-199]

Der Krieg hat den ganzen internationalen Sozialismus in eine tiefe Krise gestürzt. Wie dies jede Krise tut, hat auch die jetzige Krise des Sozialismus die in ihm bestehenden inneren Gegensätze tiefer und klarer enthüllt, viele falschen und konventionellen Hüllen abgerissen und in der schärfsten und krassesten Form gezeigt, was morsch und überlebt ist im Sozialismus und worin die Gewähr für seine weitere Entwicklung und für sein Fortschreiten zum Siege besteht.

Wohl alle Sozialdemokraten Russlands empfinden, dass die alten Einteilungen und Gruppierungen – wir wollen nicht sagen: veraltet sind, wohl aber, dass sie ihre Erscheinungsweise ändern. In den Vordergrund tritt die Gruppierung entsprechend der grundlegenden, durch den Krieg aufgeworfenen Frage, nämlich: die Teilung in „Internationalisten“ und „Sozialpatrioten“. Diese Bezeichnungen entnehmen wir dem Leitartikel der Nr. 42 von „Nasche Slowo1, ohne jetzt auf die Frage einzugehen, ob sie nicht durch Gegenüberstellung von revolutionären Sozialdemokraten und national-liberalen Arbeiterpolitikern zu ergänzen wären.

Es handelt sich natürlich nicht um die Benennung. Das Wesentliche der jetzigen grundlegenden Gruppierungen hat „Nasche Slowo“ richtig angedeutet.

Die Internationalisten“, schreibt das Blatt, „sind solidarisch in der ablehnenden Stellungnahme zum Sozialpatriotismus, wie er von Plechanow vertreten wird …“

Und die Redaktion fordert die „jetzt zersplitterten Gruppen“ auf,

sich zu verständigen und sich zu vereinigen, sei es auch nur für einen einzigen Akt, – für die ausdrückliche Stellungnahme der russischen Sozialdemokratie zum jetzigen Kriege und zum russischen Sozialpatriotismus“.

Die Redaktion von „Nasche Slowo“ beschränkte sich nicht auf eine literarische Kundgebung, sondern wandte sich in einem Schreiben an uns und an das Organisationskomitee mit dem Vorschlag, über dieses Thema eine Besprechung – unter ihrer Beteiligung – zu veranstalten. Wir antworteten mit einem Hinweis auf die Notwendigkeit, „noch einige Vorfragen zu klären, um zu erfahren, ob im Grundsätzlichen unter uns Solidarität besteht“. Wir gingen hauptsächlich auf zwei Vorfragen ein: 1. Zur Entlarvung derer, die (nach dem Ausdruck der Redaktion von „Nasche Slowo“) „den Willen der proletarischen Avantgarde Russlands verfälschen“, – dieser „Sozialpatrioten“ (die Redaktion nannte Plechanow, Alexinski und die bekannte Literatengruppe der Petersburger Liquidatoren, Anhänger der Zeitschrift XYZ), kann keine Deklaration hinreichen. Notwendig ist vielmehr ein langwieriger Kampf. 2. Wo gäbe es einen Grund, das Organisationskomitee zu den „Internationalisten“ zu zählen?

Anderseits übersandte uns das Auslandssekretariat des Organisationskomitees eine Abschrift seiner Antwort an „Nasche Slowo“. Diese Antwort lief darauf hinaus, dass „vorherige Auswahl bestimmter Gruppen und der Ausschluss anderer“ unzulässig sei und dass

zu einer Besprechung die Auslandsvertretungen aller derjenigen Parteizentren und Gruppen geladen werden müssen, die … an der Konferenz beim Internationalen Sozialistischen Büro in Brüssel vor dem Kriege teilgenommen haben“ (Brief vom 25. März 1912).

Das Organisationskomitee lehnt also eine Konferenz der Internationalisten prinzipiell ab, es wünscht auch mit den Sozialpatrioten zu konferieren (bekanntlich waren die Richtungen Plechanow und Alexinski in Brüssel vertreten). Ganz in demselben Sinne äußerte sich die Resolution der Sozialdemokraten in Nervi („Nasche Slowo“ Nr. 53), die nach dem Referat von Jonow angenommen wurde (und offensichtlich die Auffassungen dieses Vertreters der am weitesten links stehenden oder internationalistischen Elemente des „Bund“ zum Ausdruck brachte)2.

In dieser Resolution, die für die Kennzeichnung der im Auslande von vielen gesuchten „mittleren Linie“ überhaupt im höchsten Grade charakteristisch und wertvoll ist, wird den von „Nasche Slowo“ vertretenen Prinzipien die Sympathie ausgesprochen, zugleich aber ein von der Position dieses Blattes abweichender Standpunkt vertreten, „die auf organisatorische Abgrenzung, auf ausschließliche Vereinigung der internationalistischen Sozialisten und auf die Rechtfertigung der Notwendigkeit von Spaltungen in den historisch entstandenen sozialistischen proletarischen Parteien hinausläuft“. Die Versammlung betrachtet die – wie sie es nennt – „einseitige Behandlung“ (dieser Fragen) „durch die Zeitung ,Nasche Slowo'“ als „äußerst schädlich für die Klärung der Aufgaben, die mit der Wiederherstellung der Internationale verknüpft sind“.

Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass die Ansichten Axelrods, des offiziellen Vertreters des Organisationskomitees, sozialchauvinistisch sind. „Nasche Slowo“ hat weder in der Presse noch im Briefwechsel darauf geantwortet. Wir haben darauf hingewiesen, dass der Standpunkt des „Bund“ der gleiche ist, nur mit der Nuance, dass bei ihm der deutschfreundliche Chauvinismus überwiegt. Die Resolution aus Nervi hat eine, wenn auch indirekte, so doch äußerst wichtige faktische Bestätigung dafür gegeben: die Vereinigung der Internationalisten allein wird für schädlich und spalterisch erklärt; die Frage ist mit einer Klarheit gestellt, die alle Anerkennung verdient.

Noch klarer ist die Antwort des Organisationskomitees, das nicht indirekt, sondern ganz offen und in aller Form Stellung nimmt: man dürfe nicht ohne die Sozialpatrioten, man müsse mit ihnen zusammen konferieren.

Wir schulden dem Organisationskomitee Dank dafür, dass es „Nasche Slowo“ gegenüber die Richtigkeit unserer Meinung über das Organisationskomitee bestätigt hat.

Bedeutet das, dass die ganze Idee des Blattes „Nasche Slowo“ von der Vereinigung der Internationalisten Schiffbruch erlitten hat? Nein. Keinerlei Misserfolge irgendwelcher Konferenzen werden die Vereinigung der Internationalisten aufhalten, wofern ideelle Solidarität und das aufrichtige Verlangen nach Bekämpfung des Sozialpatriotismus da sind. Die Redaktion von „Nasche Slowo“ verfügt über das starke Werkzeug einer Tageszeitung. Sie kann etwas tun, was unvergleichlich sachlicher und ernster ist als Konferenzen und Deklarationen: das heißt, sie kann sämtliche Gruppen auffordern und selbst sofort damit anfangen, 1. vollständige, genaue, unzweideutige, absolut klare Antworten auf die Frage nach dem Inhalt des Internationalismus auszuarbeiten (denn auch die Vandervelde, Kautskys, Plechanow, Lensch und Haenisch nennen sich ja Internationalisten!), desgleichen zu den Themen Opportunismus, Zusammenbruch der II. Internationale, Aufgaben und Mittel des Kampfes gegen den Sozialpatriotismus usw.; 2. die Kräfte zum ernsthaften Kampfe für bestimmte Prinzipien zu sammeln, und zwar nicht nur im Auslande, sondern insbesondere in Russland.

In der Tat, wird irgend jemand zu leugnen wagen, dass es für den Sieg des Internationalismus über den Sozialpatriotismus einen anderen Weg nicht gibt und auch nicht geben kann? Hat nicht ein halbes Jahrhundert Geschichte des Emigrantentums in Russland (und dreißig Jahre Geschichte der sozialdemokratischen Emigration) gezeigt, wie machtlos, unernst und fiktiv alle Deklarationen, Konferenzen usw. im Auslande sind, wenn sie nicht von lang dauernder Bewegung dieser oder jener sozialen Schicht in Russland unterstützt werden? Lehrt uns nicht auch der jetzige Krieg, dass alles Unreife oder Angefaulte, alles Konventionelle oder Diplomatische beim ersten Stoß zu Staub zerfällt?

In acht Monaten des Krieges haben alle sozialdemokratischen Zentren, Gruppen, Richtungen und Nuancen von Richtungen genug konferiert, mit wem sie nur konnten und mochten, und genug „deklariert“, d. h. vor jedermanns Ohren ihre Meinung kundgetan. Jetzt ist die Aufgabe bereits eine andere, eine sachlichere. Mehr Misstrauen gegen Parade-Deklarationen und -Konferenzen! Mehr Energie für die Ausarbeitung von genauen Antworten und Ratschlägen an die Literaten, Propagandisten, Agitatoren und alle denkenden Arbeiter –, von so präzisen Ratschlägen, dass sie nicht unverstanden bleiben können! Mehr Klarheit und Bestimmtheit bei der Sammlung der Kräfte für die langwierige Arbeit, die für die praktische Ausführung dieser Ratschläge notwendig ist!

Wir wiederholen: der Redaktion des Blattes „Nasche Slowo“ ist viel gegeben – sie hat eine Tageszeitung! –, und von ihr wird viel gefordert werden, wenn sie nicht einmal dieses „Minimalprogramm“ erfüllen sollte.

Wir fügen noch eine Bemerkung hinzu: genau vor fünf Jahren, im Mai 1910, verwiesen wir in der ausländischen Presse auf eine höchst wichtige politische Tatsache, die „stärker“ war als die Konferenzen und Deklarationen von vielen dieser sehr „starken“ sozialdemokratischen Zentren: nämlich auf die Konzentration der literarischen Verfechter der Legalität in Russland, der Leute jener selben Zeitschrift XYZ. Was haben die Tatsachen gezeigt in diesen fünf Jahren mit ihrer genügenden Fülle von Ereignissen in der Geschichte der Arbeiterbewegung Russlands und der ganzen Welt? Haben die Tatsachen nicht gezeigt, dass wir es mit einem bestimmten sozialen Kern zu tun haben, um den sich die Elemente einer national-liberalen Arbeiterpartei (von „europäischem“ Schlage!) in Russland konzentrieren können? Welche Konsequenzen ergeben sich mit Notwendigkeit für alle Sozialdemokraten aus dem Umstande, dass wir jetzt in Russland, abgesehen von den „Woprosy Strachowanija“ nur diese eine, von „Nasche Djelo, „Strachowanije Rabotschich“, „Sewerny Golos, von Maslow und Plechanow vertretene Richtung offen hervortreten sehen?

Noch einmal: mehr Misstrauen gegen Paradekundgebungen, mehr Mut, ernsten politischen Realitäten offen ins Gesicht zu schauen!

1 Lenin meint den Leitartikel von „Nasche Slowo in Nr. 42 vom 18. März 1915: „Wo ist die Mehrheit?“, geschrieben im Zusammenhang mit dem in der italienischen sozialreformistischen Zeitung „Lavoro“ („Arbeit“) veröffentlichten Interview Plechanows.

2 Ende März 1915 hielt Jonow (Koigen) in Nervi in einer Versammlung der sozialdemokratischen Ortsgruppe einen Vortrag über „Organisationsmethoden zur Wiederherstellung der Internationale“. In der Resolution sprach sich die Versammlung gegen organisatorische Scheidung und selbständigen Zusammenschluss der Internationalisten aus.

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