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Wladimir I. Lenin 19151000 Die Niederlage Russlands und die revolutionäre Krise

Wladimir I. Lenin: Die Niederlage Russlands und die revolutionäre Krise

Oktober 1915

[„Prawda No. 260, 7. November 1928. Nach Ausgewählte Werke, Band 5, Wien 1933, S. 141-147]

Das „Auseinanderjagen“ der vierten Duma als Antwort auf die Bildung eines oppositionellen Blocks in ihr aus den Liberalen, Oktobristen und Nationalisten ist eine der am deutlichsten hervortretenden Erscheinungen der revolutionären Krise in Russland. Niederlage der Armeen der zaristischen Monarchie – Anwachsen der Streikbewegung und der revolutionären Bewegung im Proletariat – Gärung in den breiten Massen – Block der Liberalen und der Oktobristen zwecks eines Abkommens mit dem Zaren auf Grund eines Programms von Reformen und dei Mobilisierung der Industrie, um Deutschland zu besiegen. Das ist die Aufeinanderfolge und der Zusammenhang der Ereignisse am Ende des ersten Kriegsjahres.

Alle sehen nun, dass die revolutionäre Krise in Russland da ist, aber nicht alle verstehen richtig ihre Bedeutung und die sich aus ihr ergebenden Aufgaben des Proletariats.

Die Geschichte scheint sich zu wiederholen: wieder ein Krieg, so wie 1905, dabei ein Krieg, in den der Zarismus das Land um bestimmter und offenkundiger Eroberungsziele, um räuberischer und reaktionärer Ziele willen hineingezogen hat. Wieder eine Niederlage im Kriege und eine durch sie beschleunigte revolutionäre Krise. Wieder stellt die liberale Bourgeoisie – diesmal sogar gemeinsam mit den breitesten Schichten der konservativen Bourgeoisie und der Gutsbesitzer – ein Programm der Reformen und der Abmachung mit dem Zaren auf. Genau so wie im Sommer 1905 vor der Bulyginschen Duma oder wie im Sommer 1906 nach dem Auseinanderjagen der ersten Duma.

In Wirklichkeit besteht hier jedoch der gewaltige Unterschied, dass diesmal ganz Europa, alle fortgeschrittenen Länder mit mächtiger sozialistischer Massenbewegung vom Kriege erfasst sind. Der imperialistische Krieg hat die revolutionäre Krise in Russland, die Krise auf dem Boden der bürgerlich-demokratischen Revolution, mit der wachsenden proletarischen, sozialistischen Revolution im Westen verbunden. Diese Verbindung ist derart unmittelbar, dass keinerlei Einzellösung der revolutionären Aufgaben in diesem oder jenem Lande möglich ist: die bürgerliche demokratische Revolution in Russland ist heute schon nicht mehr nur der Prolog, sondern ein unzertrennlicher Bestandteil der sozialistischen Revolution im Westen.

Die bürgerliche Revolution in Russland zu Ende zu führen, um die proletarische Revolution im Westen zu entzünden – das war die Aufgabe, die dem Proletariat im Jahre 1905 gestellt war. Im Jahre 1915 ist die zweite Hälfte dieser Aufgabe derart aktuell geworden, dass sie gleichzeitig mit der ersten auf die Tagesordnung gestellt wird. In Russland ist auf der Grundlage neuer, höherer, entwickelterer und verwickelterer internationaler Beziehungen eine neue politische Differenzierung entstanden. Das ist die neue Differenzierung zwischen den chauvinistischen Revolutionären, die die Revolution zum Zwecke des Sieges über Deutschland wollen, und den proletarischen internationalistischen Revolutionären, die die Revolution in Russland im Interesse der proletarischen Revolution im Westen und zugleich mit ihr wollen. Diese neue Differenzierung ist in Russland im Wesen der Sache die Differenzierung zwischen dem städtischen und dem ländlichen Kleinbürgertum einerseits und dem sozialistischen Proletariat anderseits. Diese neue Differenzierung muss man genau kennen, denn die erste Aufgabe des Marxisten, d. h. jedes bewussten Sozialdemokraten angesichts der herannahenden Revolution besteht im Begreifen der Stellung der verschiedenen Klassen, in der Zurückführung der taktischen und prinzipiellen Fragen überhaupt auf die Unterschiede in der Stellung der verschiedenen Klassen.

Es gibt nichts Abgeschmackteres, Verächtlicheres und Schädlicheres als die landläufige Idee der revolutionären Philister: die Differenzen „mit Rücksicht“ auf die nächstliegenden gemeinsamen Aufgaben in der beginnenden Revolution zu „vergessen“. Wen die Erfahrung des Jahrzehnts von 1905 bis 1914 von der Dummheit dieser Idee noch nicht überzeugt hat, der ist vom Gesichtspunkt der Revolution hoffnungslos verloren. Wer sich jetzt auf das Hinausschreien revolutionärer Worte beschränkt, ohne zu analysieren, welche Klassen bewiesen haben, dass sie imstande sind, dieses oder jenes revolutionäre Programm zu verfechten und es auch verfechten, der unterscheidet sich im wesentlichen nicht von den „Revolutionären“ Chrustaljow, Aladjin, Alexinski.

Klar zeigt sich uns die Stellung der Monarchie und der fronherrlichen Gutsbesitzer: Russland nicht der liberalen Bourgeoisie „auszuliefern“; eher ein Kompromiss mit der deutschen Bourgeoisie. Ebenso klar ist auch die Stellung der liberalen Bourgeoisie: die Niederlage und die heranwachsende Revolution auszunutzen, um von der erschreckten Monarchie Zugeständnisse und eine Teilung der Macht mit der Bourgeoisie zu erreichen. Ebenso klar ist die Stellung des revolutionären Proletariats, das danach strebt, die Revolution zu Ende zu führen und die Schwankungen und Schwierigkeiten der Regierung und der Bourgeoisie auszunützen. Das Kleinbürgertum, d. h. die gigantische Masse der kaum erwachenden Bevölkerung Russlands tappt umher, „blind“, im Schlepptau der Bourgeoisie und im Banne der nationalistischen Vorurteile. Einerseits wird sie durch die nie dagewesenen, unerhörten Schrecken und Nöte des Krieges, durch Teuerung, Ruin, Elend und Hunger zur Revolution hin gestoßen, anderseits wendet sie auf Schritt und Tritt den Blick zurück zur Idee der Verteidigung der Heimat oder zur Idee der staatlichen Integrität Russlands oder zur Idee eines kleinbäuerlichen Wohlstandes dank dem Siege über den Zarismus und über Deutschland ohne Besiegung des Kapitalismus.

Diese Schwankungen des Kleinbürgers, des Kleinbauers sind keine Zufälligkeit, sondern das unvermeidliche Resultat seiner ökonomischen Lage. Es ist töricht, vor dieser „bitteren“ aber klar zutage liegenden Wahrheit die Augen zu schließen; man muss sie verstehen und in den vorhandenen politischen Strömungen und Gruppierungen verfolgen, um nicht sich selbst und das Volk zu betrügen, um die revolutionäre Partei des sozialdemokratischen Proletariats nicht zu schwächen und ohnmächtig zu machen. Das Proletariat verurteilt sich zur Ohnmacht, wenn es seiner Partei erlaubt, so zu schwanken, wie das Kleinbürgertum schwankt. Das Proletariat wird seine Aufgabe nur dann erfüllen, wenn es imstande ist, auf sein großes Ziel ohne Schwanken loszugehen und das Kleinbürgertum dadurch vorwärts zu treiben, dass es ihm die Möglichkeit gibt, aus seinen Fehlern zu lernen, sobald es nach rechts schwankt, und alle Kräfte des Kleinbürgertums zum Vorstoß auszunützen, wenn das Leben es zwingt, nach links zu gehen.

Die Trudowiki, die Sozialrevolutionäre, die Liquidatoren – die „Okisten“ – das sind die politischen Strömungen in Russland, die sich in den letzten Jahrzehnten vollkommen herauskristallisiert haben, die ihren Zusammenhang mit den verschiedenen Gruppen, Elementen und Schichten des Kleinbürgertums bewiesen und ihre Schwankungen vom äußersten Revolutionarismus in Worten bis zum Bündnis mit den chauvinistischen Volkssozialisten oder mit der „Nascha Sarja“ in der Tat offenbart haben. So gaben z. B. am 3. September 1915 die fünf im Auslande befindlichen Sekretäre des OK einen Aufruf über die Aufgaben des Proletariats heraus, in welchem über den Opportunismus und den Sozialchauvinismus kein Wort gesagt, dafür aber (nach einem Jahre des Kampfes gegen die Losung des Bürgerkrieges!) vom „Aufstand“ im Rücken der deutschen Armee gesprochen und die von den Kadetten im Jahre 1905 so überaus gepriesene Losung ausgegeben wird: „Konstituierende Versammlung zur Beendigung des Kriegs“ und zur Abschaffung des absolutistischen Systems (des Systems vom 3. Juni)!! Wer nicht begriffen hat, dass im Interesse des Erfolges der Revolution die vollständige Trennung der Partei des Proletariats von diesen kleinbürgerlichen Strömungen notwendig ist, der trägt ganz vergebens den Namen eines Sozialdemokraten.

Nein, angesichts der revolutionären Krise in Russland, namentlich durch die Niederlage beschleunigt – das zuzugeben fürchten sich die bunt zusammengewürfelten Gegner des „Defätismus“ – wird die Aufgabe des Proletariats nach wie vor im Kampfe gegen die Opportunisten und Chauvinisten bestehen, ohne den die Entwicklung des revolutionären Bewusstseins der Massen unmöglich ist. Aufgabe des Proletariats wird es auch sein, der Bewegung der Massen mit den unzweideutigen Losungen der Revolution zu Hilfe zu kommen. Nicht Konstituierende Versammlung sondern Sturz der Monarchie, Errichtung der Republik, Konfiskation des Großgrundbesitzes und Achtstundentag – das werden nach wie vor die Losungen des sozialdemokratischen Proletariats, die Losungen unserer Partei sein. Und im untrennbaren Zusammenhang damit wird unserer Partei – um in der Tat, in ihrer ganzen Propaganda und Agitation, in allen Kundgebungen der Arbeiterklasse den Trennungsstrich zu ziehen und die Aufgaben des Sozialismus den Aufgaben des bürgerlichen (einschließlich des Plechanowschen und des Kautskyschen) Chauvinismus entgegenzustellen – nach wie vor die Losung der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg, d. h. die Losung der sozialistischen Revolution im Westen aufstellen.

Die Lehren des Krieges zwingen selbst unsere Gegner, sowohl den Standpunkt des „Defätismus“ als auch die Notwendigkeit der Aufstellung der Losung des „Aufstandes im Rücken“ der deutschen Militaristen, d. h. der Losung des Bürgerkrieges anzuerkennen. Sie taten es anfangs in der Form einer prahlerischen Phrase, in einem Aufruf, dann aber in ernsthafterer, mehr durchdachter Weise. Die Lehre des Krieges hämmert, wie sich zeigt, gerade das in die Köpfe ein, was wir von Beginn des Krieges an verkündet haben. Die Niederlage Russlands hat sich als das kleinere Übel gezeigt, denn sie hat die revolutionäre Krise in größtem Umfange weiter getrieben und hat Millionen, zehn Millionen und hundert Millionen in Bewegung gebracht. Und die revolutionäre Krise in Russland musste unter den Verhältnissen des imperialistischen Krieges die Gedanken auf die Idee der einzigen Rettung für die Völker lenken: die Idee des „Aufstandes im Rücken“ der deutschen Armee, d. h. die Idee des Bürgerkrieges in allen kriegführenden Ländern.

Das Leben erteilt seine Lehren. Das Leben geht durch die Niederlage Russlands hindurch zur Revolution in Russland und durch diese Revolution hindurch, im Zusammenhang mit ihr zum Bürgerkrieg in Europa. Das Leben hat diesen Weg eingeschlagen, und die Partei des revolutionären Proletariats in Russland, das aus diesem vom Leben erteilten und der Partei recht gebenden Lehren neue Kraft schöpft, wird mit noch größerer Energie auf dem von ihr vorgezeichneten Wege weiter schreiten

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