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Wladimir I. Lenin 19170305 Brief an A. M. Kollontai

Wladimir I. Lenin: Brief an A. M. Kollontai

[Erstmalig veröffentlicht 1924 in „Leninski Sbornik" II. Nach Sämtliche Werke, Band 19, 1930, S. 510-513]

    5. III. 1917

Teure A. M.! Zeitungsmeldungen zufolge ist zum 12. Mai ein Kongress der „Jungen“ in Schweden einberufen worden, auf dem eine neue Partei nach „Zimmerwalder Prinzipien“ gegründet werden soll.

Ich muss eingestehen, dass diese Nachricht mich sehr beunruhigt und empört. Denn „Zimmerwald“ hat offensichtlich bankrott gemacht, und ein guter Name dient jetzt wieder zur Verhüllung von Fäulnis! Die Zimmerwalder Mehrheit – als da sind Turati und Co., Kautsky mit Ledebour, Merrheim – ist geschlossen in das Lager des in Kienthal so feierlich (und so nutzlos!) verdammten Sozialpazifismus übergegangen. Das Manifest Kautskys und Co. vom 7. Januar 19171, eine Reihe von Resolutionen der italienischen sozialistischen Partei, die Resolutionen Merrheim-Jouhaux und Longuet-Bourderon (plus Raffin-Dugens in Übereinstimmung mit Renaudel) – ist das nicht der Bankrott Zimmerwalds? Und das Zimmerwalder „Zentrum“ – R. Grimm, der am 7. Januar 1917 ein Bündnis mit den Sozialpatrioten der Schweiz zum Kampf gegen die Linken eingegangen ist!! Grimm, der die Sozialpatrioten aller Länder beschimpft, außer denen der Schweiz, die er deckt! C’est degoutant2! Ich bin außer mir vor Wut über diese Schurken; zuwider, sie oder etwas über sie zu hören; noch mehr zuwider, an eine gemeinsame Arbeit mit ihnen zu denken. Eine Komödie!

Wir sind im Begriff, für Sie Material über diesen Bankrott R. Grimms zu sammeln. Schreiben Sie, ob Sie das Züricher „Volksrecht erhalten können. Dort in der Motivierung des Referendums und in der Tösser Resolution der Linken3 (11. Februar 1917) usw. finden Sie das wichtigste Material.

Aber die schwedischen Linken, die sind sicherlich in ihrer Mehrzahl aufrichtig. Das steht fest. Und es ist notwendig, ihnen bis zum 12. Mai unbedingt zu helfen, im Voraus die ganze Banalität des Sozialpazifismus und des Kautskyanertums zu begreifen, ihnen zu helfen, die ganze Niedertracht der Zimmerwalder Mehrheit zu erkennen, ihnen zu helfen, sich ein gutes Programm und eine gute Taktik für die neue Partei auszuarbeiten.

Wahrlich, wir (wir alle, die Linken in Schweden und die, die mit ihnen in Verbindung treten können) müssen uns zusammenschließen, alle Kräfte anspannen und helfen, denn der Augenblick im Leben der schwedischen Partei, der schwedischen und skandinavischen Arbeiterbewegung ist entscheidend.

Da Sie schwedisch lesen (und auch sprechen), liegt auf Ihnen eine große Dosis Verantwortung, wenn wir „Internationalismus“ nicht in dem Sinne verstehen: „Das geht mich nichts an.“

Ich bin überzeugt, dass Sie sehr viel machen. Es wäre gut, die Linken zusammenzuschließen und zu vereinigen, um den Schweden in diesem so schweren Augenblick ihres Lebens beizustehen. Kann man nicht dazu in Christiania, Kopenhagen und Stockholm eine Gruppe russischer Bolschewiki und Linker organisieren, die schwedisch beherrschen und helfen können? Die Arbeit teilen: die wichtigsten Dokumente und Artikel sammeln (mir hat man die Polemik Nermans mit Mauritz Västberg in „Politiken“ vom 28. November 19164 über das Thema „Zuerst ein Programm, dann eine neue Partei“ geschickt, aber ich habe nichts verstehen können); ihnen durch Ausarbeitung eigener Thesen helfen; zu ihrer Unterstützung eine Reihe von Artikeln veröffentlichen. Schweden, die deutsch, französisch oder englisch schreiben können, könnten ebenfalls dieser Gruppe angehören.

Ist das Ihrer Meinung nach möglich oder nicht? Lohnt es sich, sich damit abzugeben?

Meiner Meinung nach lohnt es sich, aber aus der Ferne, von abseits kann ich das natürlich nicht beurteilen. Ich sehe nur und weiß ganz bestimmt, dass die Frage des Programms und der Taktik des neuen Sozialismus, des wirklich revolutionären Marxismus und nicht des ekelhaften Kautskyanismus überall auf der Tagesordnung steht. Das sieht man sowohl an der Socialist Labour Party und aus „The Internationalistin Amerika als auch aus den Nachrichten über Deutschland (Resolution der Linken vom 7. Januar 1917) und Frankreich (Broschüre der Pariser Linken: „Les socialistes de Zimmerwald et la guerre“5 usw.).

In Dänemark würden wahrscheinlich Trier und andere an der Bildung einer linken, marxistischen Partei in Skandinavien mitarbeiten, ein Teil der norwegischen Linken ebenfalls. Der Kampf gegen Branting und Co. ist eine ernste Angelegenheit: die Not muss zwingen, sich ernster zu Fragen der Theorie und Taktik des revolutionären Marxismus zu verhalten.

Meiner Meinung nach müsste man die Arbeit zur Vorbereitung des 12. Mai sofort und von drei Seiten zugleich in Gang bringen: (1.) die Hilfsgruppe, über die ich oben sprach; (2.) Gruppen der skandinavischen Linken: schreiben Sie einen kleinen Artikel (in schwedischen Zeitungen) über die Notwendigkeit der sofortigen Schaffung solcher Gruppen zur Ausarbeitung des Programms und der Taktik zum 12. Mai. (3.) – das dritte interessiert mich besonders, nicht weil es das Wichtigste wäre (wichtiger ist die Initiative von innen heraus), sondern weil wir hier helfen können. Wenn z. B. Sie sofort, nach Durchsicht der wichtigsten Literatur der Rechten und Linken in Schweden, auf dieser Grundlage Thesen folgender Art entwerfen würden: theoretische (programmatische) und praktische (taktische) Differenzen: Vaterlandsverteidigung; Begriff des Imperialismus; Charakter des Krieges; Abrüstung; Sozialpazifismus; nationale Frage; Revolution; „Massenaktionen“; Diktatur des Proletariats; Bürgerkrieg; Stellung zu den Gewerkschaften; Opportunismus und Kampf gegen ihn usw.

Jede These sollte enthalten: (a) was darüber die Linken in Schweden gesagt haben (den „Kern“), (b) die Rechten dortselbst.

Auf dieser Grundlage könnten wir, mit Berücksichtigung der Stellung der Linken in Russland, Deutschland, Amerika (die wichtigsten Länder in dieser Hinsicht), eigene Thesen ausarbeiten und durch ihre Veröffentlichung in schwedischer Sprache den Schweden bei der Vorbereitung des 12. Mai behilflich sein.

Einige Hauptpunkte aus den wichtigsten Resolutionen und Artikeln des rechten und des linken Flügels in Schweden müsste man zu diesem Zweck ins Russische oder Deutsche oder Französische oder Englische übersetzen.

Im Grunde sind wir alle für die schwedischen „Jungen“ moralisch und politisch verantwortlich und müssen ihnen helfen.

Ihre Lage ist für eine solche Hilfe überaus günstig. Schreiben Sie sofort, was Sie darüber denken. Es wäre wohl nützlich, diesen Brief zusammen mit Ihren Bemerkungen auch an Ludmilla zu senden.

Was ist Lindhagen für eine Figur? „Sozialrevolutionär“? „Narodnik“? „Radikalsozialist? Hervé?

Ich drücke kräftig Ihre Hand und wünsche Ihnen den besten Erfolg.

Ihr Lenin

1 Lenin meint hier das von Kautsky verfasste, auf der Konferenz der Linken in Berlin am 7. Januar 1917 angenommene Manifest. In diesem Manifest sind verschiedene pazifistische Erklärungen enthalten, wie die, dass die Opposition „immer den Frieden angestrebt“ habe, dass „nur der Druck der Volksmassen auf die Regierungen das Herannahen des Friedens beschleunigen kann“; das Auftreten Wilsons und die Erklärung des Reichskanzlers Michaelis vom 12. Dezember 1916 betrachtet das Manifest als Symptome des Friedenswillens der Regierungen. Für die sozialistischen Parteien sei die Zeit gekommen, wo sie von ihren Regierungen die Darlegung ihrer Kriegsziele fordern müssten. Das Manifest schließt mit den Worten: „Die Kraft und die Selbständigkeit des Proletariats..die Offenheit und Klarheit der Politik … werden den Frieden, den ersehnten Frieden bringen.“ Lenin zitiert nach dem Züricher „Volksrecht“, in dem dieses Manifest unter dem Titel „Ein Friedensmanifest der deutschen Parteiopposition“ in der Ausgabe vom 11. Januar 1917 abgedruckt war.

2 Das ist widerlich. Die Red.

3 Gemeint ist die Konferenz der sozialdemokratischen Parteiorganisation des Kantons Zürich in Töss am 11. Februar 1917, auf dem die Militärfrage im Mittelpunkte stand. Es lag eine rechte, von Greulich, Pflüger, Lang unterstützte, und eine linke Resolution, die Platten und Nobs einbrachten, vor. Die letztere wurde mit 93 gegen 65 Stimmen angenommen.

4 Hier sind die in Nr. 92 vom 28. November 1916 enthaltenen Briefe von M. Västberg und Ture Nerman unter dem Titel „Mauritz Västberg will Klarheit" gemeint.

5Die Sozialisten von Zimmerwald und der Krieg“

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