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Rosa Luxemburg: Zimmerwald, Kienthal, Stockholm

Rosa Luxemburg: Zimmerwald, Kienthal, Stockholm?

11. Mai 1917

[Der Kampf (Duisburg) Nr. 49, 11. Mai 1917. Nach Franz Mehring, Gesammelte Schriften, Band 15, S. 726-728. Laut Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 7.2 stammt der Artikel in Wirklichkeit von Rosa Luxemburg]

Über die internationale Konferenz, die am 15. Mai in Stockholm zusammentreten soll, lässt sich immer noch nicht klar sehen. Nach einer Zeitungsnachricht soll ihr Zusammentritt sogar auf den 10. Juni verschoben worden sein. Bis diese Zeilen an die Öffentlichkeit gelangen, ist vermutlich Genaueres bekannt. Wir verzichten deshalb darauf, uns in Mutmaßungen über die allgemeine Lage der Dinge zu ergehen, und beschränken uns auf die Erörterung zweier Tatsachen, die einstweilen für die deutsche Partei feststehen.

Zunächst hat sich die deutsche Regierung entschlossen, auch der Unabhängigen Sozialdemokratie Pässe nach Stockholm zu erteilen, um ihnen die Teilnahme an der Konferenz zu ermöglichen. Ferner hat das Aktionskomitee, zusammen mit der deutschen Reichstagsfraktion und der preußischen Landtagsfraktion, wie die „Leipziger Volkszeitung" mitteilt, bereits fünf solcher Delegierten gewählt, nämlich die Genossen Haase, Hoffmann, Bernstein und Kautsky sowie die Genossin Zietz.

Was den Entschluss der Regierung anbetrifft, so ist er flehentlichen Bitten der Regierungssozialisten zu danken, die sich durch den Stempel reiner Regierungsagenten gebrandmarkt fühlten, der ihnen dadurch aufgedrückt worden war, dass ihnen zwar die Pässe nach Stockholm bewilligt, mehreren Mitgliedern der Unabhängigen Sozialdemokratie aber abgeschlagen worden waren. Die Regierungssozialisten wimmerten im Hauptausschuss des Reichstags so herzbrechend, dass die Regierung, um diese ihre getreue Gefolgschaft nicht allzu sehr zu kompromittieren, sich nach anfänglichem Sträuben bereit erklärte, auch den Delegierten der deutschen Opposition Pässe zu erteilen.

Nicht ganz so einfach liegt die zweite Tatsache: der Beschluss der Unabhängigen Sozialdemokratie, Delegierte nach Stockholm zu entsenden. Wäre damit gesagt, dass sich diese Partei bereit erklärte, gemeinsam mit den deutschen Regierungssozialisten an einem Tische zu sitzen und mit ihnen an irgendeiner Kundgebung, sei es für die künstliche Wiederbelebung der Internationale, sei es für die Herbeiführung des Weltfriedens, gemeinsam zu arbeiten, so würde es – aus den Gründen, die wir in der vorigen Nummer bereits entwickelt haben – aufs Härteste zu verurteilen sein und tatsächlich darauf hinauslaufen, dass sich die Unabhängige Sozialdemokratie von vornherein selbst den Hals abschnitte. So aber kann es nicht gemeint sein, und so ist es unseres Erachtens auch nicht gemeint.

Wir nehmen an, dass die fünf Delegierten das gebundene Mandat haben, sich unter keinen Umständen in irgendwelche Machenschaften mit den Scheidemännern und Konsorten einzulassen. Ihre wirkliche Aufgabe kann nur sein, mit den prinzipientreuen Parteien und Fraktionen der internationalen Sozialdemokratie, die sich in Stockholm vertreten lassen, sich zu verständigen, d. h., um die Sache möglichst klar und unzweideutig auszudrücken, einen tüchtigen Schritt weiter auf dem Wege zu tun, der in Zimmerwald und Kienthal beschritten worden ist. Unter dieser Voraussetzung ist die Entsendung einer Delegation nach Stockholm nicht nur zu rechtfertigen, sondern sie ist eine unbedingte Notwendigkeit.

Wenn wir gleichwohl nicht ganz ohne Bedenken sind, so werden diese Bedenken dadurch veranlasst, dass uns die persönliche Zusammensetzung der Delegation nicht sehr glücklich zu sein scheint. Verhältnismäßig stark ist an ihr jene Richtung beteiligt, die in Österreich durch Viktor Adler und in Deutschland durch Karl Kautsky vertreten wird, jene Richtung, die sich noch immer nicht von längst abgetakelten Illusionen frei machen kann und in der komischen Einbildung lebt, durch irgendeine schwammige Resolution, die nicht mehr bedeutet als eine Fliege an der Wand, die Welt umwälzen zu können. Kautsky gehört ja selbst zur Delegation, und man sollte doch neuen Wein nicht in alte Schläuche füllen, zumal nicht in einen so oft zerborstenen und zerrissenen Schlauch, wie „Die Neue Zeit" seit Beginn des Weltkrieges gewesen ist.

Indessen darf man zu der Mehrheit der Delegation ein besseres Zutrauen haben, und wir können uns auch auf unsere russischen Gesinnungsgenossen verlassen, die sich kein X für ein U vormachen lassen werden. Wie die engere Fühlung mit ihnen der Hauptgrund ist, der die Entsendung der deutschen Delegation nach Stockholm rechtfertigt oder notwendig macht, so ist dies Bündnis überhaupt die Schicksalsfrage der Unabhängigen Sozialdemokratie in Deutschland. Nach dem, was Tschcheïdse und andere russische Sozialdemokraten öffentlich erklärt haben, leiden die Forderungen, die sie an die deutsche Sozialdemokratie stellen, keineswegs an übermäßiger Bescheidenheit und Zurückhaltung, was wir natürlich nur von ganzem Herzen billigen können.

Sollte die Konferenz gar bis zum 10. Juni verschoben werden, so bliebe auch noch die Möglichkeit – die für den 15. Mai freilich wohl ausgeschlossen wäre –, dass die einzelnen Organisationen der Unabhängigen Sozialdemokratie Vertreter nach Stockholm schickten, und es versteht sich, dass es sehr wünschenswert wäre, wenn sich diese Möglichkeit verwirklichen ließe. Man braucht der internationalen Konferenz in Stockholm nicht mit übermäßigen Erwartungen entgegenzusehen, aber als dritte Etappe auf dem Wege Zimmerwald-Kienthal wäre sie lebhaft zu begrüßen.

gezeichnet

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