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ISB und Vereinigung der SDAPR

Der Gedanke einer Vereinigungsberatung der verschiedenen Strömungen der Sozialdemokratie Russlands entstand ursprünglich im Zusammenhang mit der Wahlkampagne für die IV, Reichsduma. Unterstützt wurde dieser Gedanke vom Parteivorstand der deutschen Sozialdemokratie. Die vorgeschlagene Beratung konnte nicht stattfinden, weil die Bolschewiki, Plechanow und der Parteivorstand der polnischen Sozialdemokratie die Teilnahme ablehnten. Von neuem wurde die Frage der Einberufung einer Vereinigungsberatung auf Grund einer Anregung Rosa Luxemburgs aufgeworfen, die als Vertreterin der Sozialdemokratie Polens und Litauens dem Internationalen Sozialistischen Büro angehörte. In einer schriftlichen Erklärung an das ISB vom 14. November 1913 ersuchte Rosa Luxemburg, die Frage der Wiederherstellung der Einheit in den Reihen der SDAPR für die Dezembertagung des ISB auf die Tagesordnung zu setzen. Ihre Erklärung begründete sie damit, dass die Spaltung in den Reihen der SDAPR die letzte Organisation, die bisher noch ihre Einheit bewahrt hatte, die Dumafraktion, ergriffen habe. Rosa Luxemburg beschuldigte Lenin, dass er die Spaltung in die Reihen der Sozialdemokratie Polens und Litauens trage. Am Schluss ihrer Erklärung schlug sie vor, die Frage der Einheit der SDAPR auf die Tagesordnung des bevorstehenden Internationalen Sozialistenkongresses in Wien zu stellen (siehe „Vorwärts" Nr. 306 vom 21. November 1913: „Zur Spaltung in der sozialdemokratischen Dumafraktion").

Die russische Frage wurde mit Unterstützung der deutschen Sozialdemokratie in der Dezembertagung des Internationalen Sozialistischen Büros aufgeworfen, die am 13. Dezember 1913 unter dem Vorsitze Vanderveldes in London begann. Die Tagesordnung enthielt die folgenden Punkte: die Vereinigung der englischen sozialistischen und Arbeiterparteien, der Wiener Kongress, die russische Frage u. a.

In der Sitzung vom 14. Dezember wurde im Namen der deutschen Sozialdemokratie eine von Kautsky, Ebert und Molkenbuhr unterschriebene Resolution eingebracht, die allen Fraktionen der Sozialdemokratie vorschlug, Maßnahmen zur Wiederherstellung der Einheit zu ergreifen, wobei das ISB als Vermittler zur Organisation des Meinungsaustausches zwischen allen Fraktionen der russischen Arbeiterbewegung tätig sein sollte, die sich als sozialdemokratisch bezeichnen. Bei der Begründung des Resolutionsantrages erklärte Kautsky, die alte Sozialdemokratische Partei in Russland sei tot; es sei notwendig, sie wiederherzustellen und sich dabei auf das Streben der russischen Arbeiter nach Einheit zu stützen.

Rosa Luxemburg erklärte in ihrer Rede, sie könne sich dem Vorschlage Kautskys auf Einberufung einer Beratung aller, die sich Sozialdemokraten nennen, nicht anschließen, und sie schlug vor, nur jene Fraktionen einzuladen, die im ISB vertreten sind. Sie legte die folgende Resolution vor; „Das Büro beauftragt sein Exekutivkomitee, sich mit den Vertretern der Sozialdemokratie Russlands und Polens ins Einvernehmen zu setzen, in der Hoffnung, dass es gelingen wird, sie zu einer gemeinsamen Konferenz zum Zwecke der Festlegung der notwendigen Vorbedingungen der Wiederherstellung der Einheit der SDAPR einzuberufen". Der Sinn dieses Abänderungsantrages bestand darin, dass die polnische sozialdemokratische sogenannte „Spalter"-Organisation nicht zur Konferenz eingeladen werde. In ihren Erklärungen schrieb Rosa Luxemburg Lenin die Schuld an der Spaltung der SDAPR und der Sozialdemokratie Polens und Litauens zu.

Kautsky, der Rosa Luxemburg entgegentrat, machte den Vorschlag, die Worte der Resolution über die Organisierung von Unterhandlungen „jener, die sich als Sozialdemokraten bezeichnen", durch die Formel „jener, die das Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands anerkennen" zu ersetzen. Der Vertreter des linken Flügels der PPS, Lapinski, schlug die folgende Formulierung vor: „…jener, die das Programm der Sozialdemokratie Russlands anerkennen, oder deren Programm mit dem der Sozialdemokratie Russlands übereinstimmt." Kautsky war mit dieser Formulierung einverstanden. Rosa Luxemburg bestand auf ihrer Resolution und stellte den Fehler Kautskys fest, der erklärt hatte, die alte Partei sei tot. Rosa Luxemburg verwies darauf, dass es sich ihrer Meinung nach um die Wiederherstellung der alten Partei und nicht um die Gründung einer neuen handle. Kautsky legte in seiner Antwort an Rosa Luxemburg seine Worte in der Weise aus, dass die alte Sozialdemokratische Partei verschwunden, die alte Form zerschlagen sei und eine neue geschaffen werden müsse.

Im Namen der sozialdemokratischen Dumafraktion, des menschewistischen „Organisationskomitees", des Bund und der lettischen Sozialdemokratie wurde die Erklärung abgegeben, dass sie sich der Resolution Kautskys anschließen; sie schlugen vor, die Kompetenz des ISB in der Angelegenheit der Vereinigung der Sozialdemokratie Russlands nicht zu begrenzen. Der Vertreter des bolschewistischen Zentralkomitees, Litwinow, verwies in seiner Rede darauf, dass von einer Vereinbarung mit den sozialdemokratischen Grüppchen im Auslande nicht die Rede sein könne, denn ernsthaft könne man nur von zwei sozialdemokratischen Strömungen in Russland sprechen: von den Bolschewiki und den Liquidatoren. Er riet dem ISB, sich mit einer Vermittlung vor allem an die beiden sozialdemokratischen Dumafraktionen zu wenden. Er wollte auch eine Entgegnung gegen den Vorschlag Rosa Luxemburgs auf Einberufung einer Vereinigungskonferenz nach Unterhandlungen mit dem ZK und dem Hauptvorstand der polnischen Sozialdemokratie vorbringen, aber seine Redezeit war abgelaufen. Der Resolution Kautskys schloss sich der Vertreter der Bolschewiki an; sie wurde einstimmig angenommen. Auch Rosa Luxemburg stimmte für die Resolution, nachdem der Vorsitzende, Vandervelde, erklärt hatte, es sei selbstverständlich, dass die Exekutive des ISB sich vor allem mit den Vertretern der SDAPR und der polnischen Sozialdemokratie in Verbindung setzen wird, ohne sich anderseits in ihrem Verkehr mit den anderen sozialdemokratischen Gruppen die Hände binden zu lassen.

In derselben Sitzung vom 14. Dezember wurde ein Brief Plechanows vorgelegt, in welchem dieser darauf verwies, dass die Spaltung der Dumafraktion durch die Schuld der Liquidatoren erfolgt und dass diese Tatsache ein Schlag gegen die Einheit sei, weshalb er, Plechanow, als Vertreter der Gesamtpartei im ISB demissioniere. An Stelle Plechanows wurde der Vertreter des menschewistischen Organisationskomitees, P. B. Axelrod, in das ISB aufgenommen. Die Beratung sämtlicher sozialdemokratischen Strömungen und der nationalen sozialdemokratischen Organisationen in Russland wurde vom ISB auf den 16. und 17. Juli 1914 nach Brüssel einberufen, wo denn auch jene antibolschewistische Vereinigung geschaffen worden ist, die unter dem Namen „Brüsseler Block" bekannt wurde. [Band 17]

Die liquidatorischen Gruppen (darunter auch die Trotzkisten) und die Gruppe Rosa Luxemburgs und Tyszkas wandten sich an das ISB mit der Bitte, sich in die „russischen Angelegenheiten“ einzumischen und an der Einigung der Strömungen und Fraktionen in der Arbeiterbewegung Russlands mitzuwirken. Diese Aufforderung war darauf zurückzuführen, dass die Liquidatoren und die Versöhnler infolge des Zerfall des Augustblocks und der Unmöglichkeit, in der Arbeiterbewegung Russlands und in den illegalen Arbeiterorganisationen, die mit der bolschewistischen Partei gingen, irgendwelche Kräfte aufzutreiben, nicht die Kraft fanden, in der Partei gegen die Bolschewiki zu kämpfen. Das alles veranlasste die Liquidatoren und die Trotzkisten, bei den zentristischen Führern der II. Internationale Unterstützung gegen die Bolschewiki zu suchen und auf jede mögliche Weise eine Einmischung des ISB zu erreichen. Die unablässigen Klagen der Liquidatoren und der Trotzkisten gegen die bolschewistischen „Spalter“ und „Fraktionsmacher“ führten im Zusammenhang mit der opportunistischen Haltung des ISB selbst dazu, dass es den Beschluss fasste, in seiner Sitzung im Dezember 1913 in London die Frage der „Einigung der Russen“ zu behandeln. Das war bereits der zweite derartige Versuch des ISB. Über den ersten siehe den Brief Lenins „An das Sekretariat des ISB in Brüssel“.

Als Referent zu dieser Frage trat in der Sitzung des ISB der Zentrist Kautsky auf, der sich damals schon dem Opportunismus vollständig anpasste Der Vertreter der Bolschewiki im ISB, Genosse Litwinow, verteilte an alle Mitglieder des Büros das offizielle Parteimaterial, aus dem hervorging, dass es in der russischen Arbeiterbewegung tatsächlich nur die eine bolschewistische Partei gibt, die einigen Intellektuellengruppen und -grüppchen gegenübersteht, die in den Arbeitermassen absolut keinen Einfluss haben, ferner, dass die Arbeiter in ihrer Masse mit den Bolschewiki gehen. Kautsky überging in seinem Referat dieses Material mit Schweigen. Sein Referat war nur die Wiederholung der Anklagen der Liquidatoren gegen die Bolschewiki. Er begann damit, dass man jetzt das zehnjährige Jubiläum der Parteispaltung in Russland begehen könne. Nirgends in der Welt kämpfen die verschiedenen Parteien und Fraktionen der Arbeiterbewegung schärfer gegeneinander als in Russland, obwohl die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen weniger bedeutend seien als die in der deutschen und französischen Partei. Einzelne Personen können in einem solchen Kampfe eine große Rolle spielen, und das Proletariat kann im Recht sein, wenn es über ihr Verhalten empört sei. Viele alte und verdiente Funktionäre der Partei seien ausgeschlossen. Die „Leninsche Gruppe“ verneine den sozialdemokratischen Charakter der sogenannten „Liquidatoren“, einige Gruppen in Polen rechnen die linke PPS nicht zur Sozialdemokratie. Das könne die Internationale selbstverständlich nicht zugeben. Sie gehe davon aus, dass sie alle Sozialdemokraten sind, und da die alte Sozialdemokratie in Russland tot sei, so brauche man nicht in der Vergangenheit zu wühlen, nicht die alten Fehler zu verurteilen, sondern man müsse den besten Ausweg aus der jetzigen Lage suchen. Am Schluss dieser seiner „schlechten Rede“, die den Artikeln glich, die er über die „russischen“ Angelegenheiten und Differenzen im Jahre 1903 schrieb, legte Kautsky die „gute Resolution“ vor, die Lenin am Beginn seines Artikels bespricht. Dem Bericht Kautskys trat Rosa Luxemburg entgegen. Nachdem sie gegen die Worte Kautskys, die alte Sozialdemokratie in Russland sei tot, protestiert hatte, verwies sie darauf, dass man den Vorschlag Kautskys auf verschiedene Weise auslegen könne. Es sei notwendig, sagte sie. das Recht der Teilnahme der Konferenz durch strengere Anforderungen einzuschränken. Man dürfe auf die Konferenz nur jene zulassen, die nicht nur das Programm, sondern auch das Parteistatut „anerkennen" und wirklich Parteimitglieder sind. Ihre Vorschläge fasste Rosa Luxemburg in einer Resolution zusammen, in welcher das ISB beauftragt ist, durch seine Exekutive mit den Vertretern der russischen und der polnischen Sozialdemokratie im ISB zwecks Einberufung einer allgemeinen Konferenz zu verhandeln, die den Zweck haben solle, die für die Wiederherstellung einer einheitlichen SDAPR notwendigen Vorbedingungen klarzustellen. Der Vertreter der Bolschewiki Genosse Litwinow lehnte den Vorschlag Rosa Luxemburgs ab und schloss sich der Resolution Kautskys an, was er in der Weise begründete, wie Lenin hier schreibt, da eben die Resolution Kautskys „ein vorsichtigerer, systematischerer Plan sei, der an die Frage der Einheit auf dem Wege über einen vorhergehenden Meinungsaustausch herantrete“. Nach Litwinow sprach Tschcheïdse, der die gewöhnlichen liquidatorischen Ausfälle gegen die Bolschewiki vorbrachte. Als Antwort darauf brachte Litwinow den Antrag ein, dem liquidatorischen Organisationskomitee, das auf der Augustkonferenz der Liquidatoren im Jahre 1912 gewählt worden war, keine Vertretung im ISB zu geben, da dieses OK keinerlei Partei und auch schon nicht mehr den trotzkistisch-liquidatorischen Augustblock vertrete, von dem es eingesetzt wurde, denn dieser Block sei schon zerfallen. Das ISB lehnte den Vorschlag ab und nahm einen Vertreter des OK auf. Außerdem beschloss es die von Kautsky vorgelegte Resolution. Die Resolution beginnt mit einem Hinweis auf den Beschluss des Amsterdamer Kongresses der II. Internationale über die Einheit der Parteien, verwies ferner auf den schädlichen und traurigen Zustand der Partei in Russland, und zum Schluss bot das ISB in der Resolution seine Dienste an zur Überwindung der Spaltung in der russischen Partei. Zu diesem Zwecke empfahl das ISB in seiner Resolution der Exekutive, mit allen Fraktionen der Arbeiterbewegung in Russland, die das Programm der SDAPR anerkennen und deren Programm mit dem sozialdemokratischen übereinstimmt, in Verbindung zu treten. Dabei erklärte das ISB, dass es die früheren Fehler der einzelnen Richtungen nicht beurteilen und sich nur mit der Gegenwart und der Zukunft der SDAPR beschäftigen wolle.

Im Juli 1914 berief das ISB auf Grund dieses Beschlusses nach Brüssel eine Vereinigungskonferenz aller sozialistischen Richtungen und der sozialdemokratischen Organisationen der Nationalitäten in Russland ein. An dieser Konferenz nahm auch ein Vertreter des ZK der bolschewistischen Partei teil. In ihrer Resolution lehnte die Konferenz eine Kritik der „Vergangenheit“ der einzelnen Gruppen als „schädlich und unfruchtbar“ ab und verneinte das Vorhandensein solcher Meinungsverschiedenheiten, die eine weitere Spaltung rechtfertigen würden. In unbestimmten Phrasen war in der Resolution von der Notwendigkeit der Einheit und eines allgemeinen Parteitages zur Lösung der strittigen Programmfragen die Rede. Auch diese Resolution hatte Kautsky verfasst. Die Vertreter des bolschewistischen ZK und der lettischen Sozialdemokratie beteiligten sich nicht an der Abstimmung. Praktische Bedeutung erlangte diese Resolution keine; der Krieg machte allen diesen Versuchen, den Bolschewismus auf dem Wege der „Vereinigung“ zu bekämpfen, ein Ende. Das sollte eine Vereinigung mit den Opportunisten sein und zum Aufgehen der revolutionären Partei des Proletariats und der kleinbürgerlichen opportunistischen Partei in einer unter zentristischer Führung stehenden Partei von der Art der damaligen deutschen Sozialdemokratie führen. Die Rolle Rosa Luxemburgs bei diesem Versuche beweist, wie sehr die Linken in der II. Internationale noch am Vorabend des Weltkrieges und des Zusammenbruchs dieser Internationale von der „verfluchten Tradition der ,Einheit' mit den Opportunisten angesteckt waren und wie fern sie einer wirklich revolutionären Auffassung der Einheit der proletarischen Partei als Einheit auf dem Boden des unversöhnlichen Kampfes gegen den Opportunismus standen. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 4, Anm. 98]

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