Wladimir I. Lenin 19030804 Rede zur Frage des Parteiprogramms

Wladimir I. Lenin: Rede zur Frage des Parteiprogramms

(22. Juli/4. August 1903)1

[Zum ersten Mal veröffentlicht 1904 in der Genfer Ausgabe der Protokolle" des 2. Parteitages der SDAPR. Nach Sämtliche Werke, Wien-Berlin 1930, Band 6, S. 22-24]

Vor allem muss ich feststellen, dass Genosse Liber in außerordentlich kennzeichnender Weise den Adelsmarschall mit der Schicht der Werktätigen und Ausgebeuteten verwechselt.2 Diese Verwechslung ist für die gesamte Diskussion bezeichnend. Überall werden einzelne Episoden unserer Polemik und die Festlegung der prinzipiellen Grundlagen in einen Topf geworfen. Man kann nicht, wie es Genosse Liber tut, leugnen, dass auch der Übergang der einen oder anderen Schicht der werktätigen und ausgebeuteten Bevölkerung auf die Seite des Proletariats möglich ist. Man erinnere sich, dass Marx, der die französischen Bauernaufstände im Auge hatte, im Jahre 1852 (im „18. Brumaire") schrieb, dass die Bauernschaft bald als Vertreter der Vergangenheit, bald als Vertreter der Zukunft auftritt: man kann an die Bauernschaft appellieren, und zwar nicht nur an ihr Vorurteil, sondern auch an ihr Urteil. Man denke weiter daran, dass Marx die Erklärung der Kommunekämpfer, die Sache der Kommune sei auch die Sache der Bauernschaft, als vollkommen richtig anerkannte.3 Ich wiederhole, man darf nicht daran zweifeln, dass unter bestimmten Bedingungen der Übergang der einen oder anderen Schicht der Werktätigen auf die Seite des Proletariats keineswegs unmöglich ist. Es handelt sich nur darum, diese Bedingungen genau zu bestimmen. Und in den Worten „sie stellen sich auf den Standpunkt des Proletariats" ist die Bedingung, von der die Rede ist, mit aller Genauigkeit zum Ausdruck gebracht. Gerade diese Worte grenzen uns Sozialdemokraten von allerhand pseudosozialistischen Strömungen überhaupt und von den sogenannten Sozialrevolutionären insbesondere in entschiedenster Weise ab.

Ich gehe zu jener umstrittenen Stelle in meiner Broschüre „Was tun?" über, die hier so viele Auseinandersetzungen hervorgerufen hat.4 Ich denke, dass nach all diesen Reden die Frage so weit geklärt ist, dass ich nur noch wenig hinzuzufügen habe. Offenbar wurde hier die grundsätzliche Stellung einer wichtigen theoretischen Frage (die Ausarbeitung der Ideologie) mit einer Episode des Kampfes gegen den Ökonomismus verwechselt. Und dabei ist diese Episode ganz falsch wiedergegeben worden.

Um diesen letzten Satz zu beweisen, kann ich mich vor allem auf die Genossen Akimow und Martynow berufen, die hier gesprochen haben. Sie haben anschaulich gezeigt, dass hier gerade von einer Episode des Kampfes gegen den Ökonomismus die Rede ist. Sie sind mit Anschauungen aufgetreten, die bereits (und zu Recht) als Opportunismus bezeichnet worden sind. Sie sind auch schon bei der „Widerlegung" der Verelendungstheorie, bei der „Anfechtung" der Diktatur des Proletariats und sogar bei der „Erfüllungstheorie"5 angelangt, wie Genosse Akimow sich ausdrückte6. Ich weiß allerdings nicht, was das bedeutet. Wollte nicht vielleicht Genosse Akimow von der „Aushöhlungstheorie"7, von der Theorie der Aushöhlung des Kapitalismus sprechen, d. h. von einer der populärsten, landläufigsten Ideen der Bernsteinschen Theorie? Genosse Akimow ist sogar – in der Verteidigung der alten Grundlagen des Ökonomismus – mit dem unglaublich originellen Argument aufgetreten, dass bei uns im Programm das Wort Proletariat kein einziges Mal im Nominativ stände. Höchstens – rief Genosse Akimow aus – steht bei ihnen das Proletariat im Genitiv. Es stellt sich also heraus, dass der Nominativ der ehrenvollste Fall ist, während der Genitiv hinsichtlich des Ansehens an zweiter Stelle steht. Dieses Argument müsste man – vielleicht durch eine besondere Kommission – an Genossen Rjasanow weitergeben, damit er sein erstes wissenschaftliches Werk über die Buchstaben8 durch eine zweite wissenschaftliche Abhandlung über die Fälle ergänze …

Was jedoch die unmittelbaren Hinweise auf meine Broschüre „Was tun?" anbelangt, so fällt es mir gar nicht schwer, nachzuweisen, dass sie aus dem Zusammenhang herausgerissen sind.

Man sagt: Lenin erwähnt keine widerstreitenden Tendenzen, er behauptet ohne Einschränkung, die Arbeiterbewegung „führe" immer zur Unterordnung unter die bürgerliche Ideologie. Tatsächlich? Habe ich nicht vielleicht gesagt, die Arbeiterbewegung werde unter gütiger Mitwirkung der Schulze-Delitzsch und ihnen ähnlicher zur Bürgerlichkeit hingezogen? Und wer sind hier die „ähnlichen"? Niemand anders als die Ökonomisten, niemand anders als die Leute, die damals zum Beispiel sagten, die bürgerliche Demokratie in Russland sei ein Phantom. Es ist leicht, vom bürgerlichen Radikalismus und Liberalismus zu sprechen jetzt, wo alle ihr Musterbild vor sich sehen. Aber war es früher ebenso?

Lenin ziehe gar nicht in Betracht, dass auch die Arbeiter an der Ausarbeitung der Ideologie teilnehmen. Tatsächlich? Heißt es nicht bei mir immer und immer wieder, dass gerade das Fehlen vollkommen klassenbewusster Arbeiter, das Fehlen von Führern aus der Reihe der Arbeiterschaft, von Revolutionären aus der Reihe der Arbeiterschaft der größte Mangel unserer Bewegung ist? Heißt es dort nicht, dass die Erziehung der Arbeiter zu solchen Revolutionären unsere nächste Aufgabe sein muss? Wird dort nicht auf die Wichtigkeit der Entfaltung der Gewerkschaftsbewegung und der Schaffung einer besonderen Gewerkschaftsliteratur hingewiesen? Wird dort nicht ein verzweifelter Kampf geführt gegen alle Versuche, das Niveau der vorgeschrittenen Arbeiter auf das Niveau der Masse oder auf das Niveau der Durchschnittsarbeiter herabzudrücken?

Ich komme zum Schluss. Wir alle wissen jetzt, dass die Ökonomisten den Stab nach der einen Seite verbogen haben. Um ihn wieder auszurichten, musste man ihn nach der andern Seite biegen, und das habe ich getan. Ich bin überzeugt, dass die russische Sozialdemokratie stets den durch allen möglichen Opportunismus verbogenen Stab mit Energie wieder geradebiegen wird, und dass unser Stab darum immer der geradeste und für die Aktion tauglichste sein wird.

1 Dem Parteitag wurde ein Programmentwurf zur Erörterung vorgelegt, der von der Redaktion der „Iskra" und der „Sarja" ausgearbeitet war (siehe Band V der Werke, S. 517–522). Nach der allgemeinen Debatte wurde der Entwurf einer Kommission (Plechanow, Lenin, Axelrod, Potressow, Aisenstadt-Judin, Martynow und Lewin-Jegorow). zur weiteren Bearbeitung übergeben. Nach seiner Rückkehr aus der Kommission wurde der Entwurf Punkt für Punkt eingehend erörtert und nach einer Reihe von Verbesserungen, durch die der Grundtext des Programms nicht geändert wurde, vom Parteitag angenommen (siehe Band V der Werke, S. 523–529). Folgende von der Kommission vorgeschlagene Änderung muss vermerkt werden: Der Anfang des 8. Absatzes des Entwurfes lautet so (siehe Band V, S. 518): „Aber in dem Maße, wie alle diese, der bürgerlichen Gesellschaft eigenen Widersprüche wachsen und sich entwickeln, wächst auch die Unzufriedenheit der werktätigen und ausgebeuteten Masse mit der bestehenden Ordnung der Dinge, wächst die Zahl und Geschlossenheit der Proletarier und verschärft sich ihr Kampf gegen die Ausbeuter". Die Kommission machte den Vorschlag, nach den Worten „die Zahl und Geschlossenheit" das Wort „Bewusstsein" zu setzen. Lenin trat dagegen auf. Er sagte: „Diese Korrektur würde eine Verschlechterung bedeuten. Sie würde die Vorstellung wecken, als sei die Entwicklung des Bewusstseins eine spontane. In der internationalen Sozialdemokratie gibt es aber außerhalb des Einflusses der Sozialdemokratie keine bewusste Tätigkeit der Arbeiter" (Protokolle des 2. Parteitags der SDAPR).

2 In den Parteitagsprotokollen ist die Stelle aus der Rede Libers, die Lenin als eine „Verwechslung des Adelsmarschalls mit der Schicht der Werktätigen und Ausgebeuteten" durch Genossen Liber charakterisiert, nicht vermerkt. Es handelt sich aber anscheinend um folgendes: Lenin, der die Idee der Hegemonie der Arbeiterklasse in der revolutionären Bewegung vertrat und darum auf der Notwendigkeit bestand, „die agitatorische und organisatorische Tätigkeit in alle Klassen der Bevölkerung zu tragen", schließt einen Artikel aus dem Jahre 1901, in dem er die oppositionelle Rede eines Adelsmarschalls anführt („Innerpolitische Rundschau") mit folgenden Worten: „Den Adelsmarschällen aber sagen wir zum Abschied: auf Wiedersehen, ihr Herren Bundesgenossen von morgen!" Auf Grund dieses Satzes wurde Lenin seinerzeit von den Anti-Iskristen beschuldigt, nicht genügend „orthodox" zu sein. Als auf dem 2. Parteitag der Programmentwurf erörtert wurde, insbesondere die Stelle, an der es heißt, „die Partei der Arbeiterklasse, die Sozialdemokratie, ruft in ihre Reihen alle Schichten der werktätigen und ausgebeuteten Bevölkerung, soweit diese sich auf den Standpunkt des Proletariats stellen", da erinnerte wohl Liber, der gegen die Annahme dieses Punktes polemisierte, in seiner Rede an den Satz Lenins über die Adelsmarschälle und versuchte, ihn polemisch auszunutzen, um nachzuweisen, dass der von ihm kritisierte Punkt des Programms unhaltbar sei, was die im Text angeführte Bemerkung Lenins gegen Liber veranlasst hat.

3 In seiner Arbeit „Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" (1852) in der Marx die Geschichte der Klassenkämpfe zur Zeit der französischen Revolution 1848–1851 schildert, gelangt er bekanntlich zu dem Schluss, dass der Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 (die Auflösung des Parlaments durch den Präsidenten der Republik Louis Bonaparte, den späteren Kaiser Napoleon III.), der zur Wiederherstellung der Monarchie in Frankreich führte, nur möglich wurde, weil Napoleon III. sich auf die Bauernschaft stützte, die in der Dynastie Bonaparte die Vertreterin ihrer Interessen sah. „Aber, wird man mir einwenden", schrieb Marx, „die Bauernaufstände in halb Frankreich, die Treibjagden der Armee auf die Bauern, die massenhafte Einkerkerung und Transportation der Bauern?" Auf diese Frage antwortete Marx folgendermaßen: „Aber man verstehe wohl. Die Dynastie Bonaparte repräsentiert nicht den revolutionären, sondern den konservativen Bauer, nicht den Bauer, der über seine soziale Existenzbedingung, die Parzelle, hinausdrängt, sondern der sie vielmehr befestigen will, nicht das Landvolk, das durch eigene Energie im Anschluss an die Städte die alte Ordnung umstürzen, sondern umgekehrt dumpf verschlossen in dieser alten Ordnung sich mitsamt seiner Parzelle von dem Gespenst des Kaisertums gerettet und bevorzugt sehen will. Sie repräsentiert nicht die Aufklärung, sondern den Aberglauben des Bauern, nicht sein Urteil, sondern sein Vorurteil, nicht seine Zukunft, sondern seine Vergangenheit …". An diese Stelle aus dem „Achtzehnten Brumaire" erinnert auch Lenin in seiner Rede über die Agrarfrage.

Der folgende Hinweis Lenins auf Marx bezieht sich auf die Worte von Marx im „Bürgerkrieg in Frankreich" (1871): „Die Kommune hatte vollständig recht, als sie den Bauern zurief: ,Unser Sieg ist eure Hoffnung'".

4 Die umstrittene Stelle in der Broschüre „Was tun?" ist die Formulierung, die Lenin der Frage der Wechselbeziehung zwischen Bewusstsein und Spontaneität gibt und die auf dem Parteitag eine ganze Reihe von Einwänden der Vertreter des rechten Flügels der russischen Sozialdemokratie hervorgerufen hat (A. Martynow und W. Akimow-Machnowez). Es muss bemerkt werden, dass Martow und besonders Plechanow in dieser Frage vollkommen mit Lenin übereinstimmten. Angesichts der Wichtigkeit dieser Tatsache ist es notwendig, die entsprechenden Stellen aus der Rede Plechanows auf dem Parteitag anzuführen, da Plechanow nach der Spaltung, als er zu den Menschewiki abschwenkte, auch in der Beurteilung der Spontaneität und des Zielbewusstseins mit den Bolschewiki nicht mehr einverstanden war: „Genosse Martynow führt hier die Worte von Engels an, dass der moderne Sozialismus der theoretische Ausdruck der modernen Arbeiterbewegung ist. Genosse Lenin ist ebenfalls mit Engels einverstanden, wäre er das nicht, so müsste man ihn tatsächlich aufhängen. Aber die Worte von Engels sind doch ein allgemeiner Grundsatz. Die Frage ist die, wer denn zuerst diesen theoretischen Ausdruck formuliert. Lenin hat kein Traktat über die Philosophie der Geschichte geschrieben, sondern einen polemischen Artikel gegen die Ökonomisten, die sagten: wir müssen abwarten, wozu die Arbeiterklasse von allein kommen wird, ohne die Hilfe des „revolutionären Bazillus". Diesem war es verboten, den Arbeitern irgend etwas zu sagen, eben weil er ein „revolutionärer Bazillus" ist, d. h. ein theoretisches Bewusstsein hat. Wenn man aber den „Bazillus" beseitigt, so bleibt nur die unbewusste Masse, in die das Bewusstsein von außen hineingetragen werden muss. Wenn ihr gegen Lenin gerecht sein wolltet und sein Buch von Anfang bis zu Ende aufmerksam gelesen hättet, so würdet ihr gesehen haben, dass er gerade das sagt. So zum Beispiel entwickelt er, indem er vom Gewerkschaftskampf spricht, denselben Gedanken, dass das breite sozialistische Bewusstsein nur aus dem unmittelbaren Kampf für die Verbesserung der Bedingungen des Verkaufs der Arbeitskraft hineingetragen werden kann" („Protokolle des 2. Parteitags", 1904).

5 „Erfüllungstheorie" bei Lenin deutsch. Die Red.

6 „Erfüllungstheorie" – eine Theorie, auf Grund deren das Proletariat im Prozess der Entwicklung des Sozialismus, im Maße des Anwachsens der spontanen Arbeiterbewegung, automatisch von sozialistischem Bewusstsein durchdrungen, vom „Sozialismus erfüllt" wird. In den Parteitagsprotokollen ist dieser von Akimow gebrauchte Ausdruck (Erfüllungstheorie) nicht vorhanden. Seine Ansicht über die Wechselbeziehung zwischen Spontaneität und Bewusstsein hat Akimow in seiner in Genf im Jahre 1904 erschienenen Broschüre „Die Arbeiten des 2. Parteitags der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Busslands" niedergelegt.

7 „Aushöhlungstheorie" bei Lenin deutsch. Die Red.

8 D. Rjasanow (N. Rjasanow) hat in einem umfangreichen (300 Seiten starken) Buch, das 1903 erschienen ist, am iskristischen Programmentwurf Kritik geübt („Materialien zur Ausarbeitung eines Parteiprogramms. Der Programmentwurf der ,Iskra' und die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten"). Dieses Buch kennzeichnete Plechanow als ein „krasses Beispiel der Buchstabenfresserei" (siehe Plechanow, „Die .orthodoxe' Buchstabenfresserei", in Nr. 41, 42 u. 43 der „Iskra" [Beilage] vom 1. Juni, 15. Juni und 1. Juli 1903, ferner auch im XII. Band seiner von Rjasanow herausgegebenen Werke), In diesem Buch analysierte Rjasanow unter anderem das Bindewort „und" in folgenden Worten des Programmentwurfes „Die Krisen und die Perioden industriellen Stillstands". Welche Bedeutung hat hier das Bindewort „und"? – fragte Rjasanow – stellt es entgegen oder verbindet es? Und weiter folgt eine ziemlich lange Erörterung, ob vom Standpunkte des „orthodoxen Marxismus" in diesem Falle das Bindewort „und" am Platze sei oder nicht. Darum nannte Lenin in seiner Rede das Buch Rjasanows zum Scherz ein „wissenschaftliches Werk über die Buchstaben".

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