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Wladimir I. Lenin 19050204 Kurze Darstellung der Spaltung in der SDAPR

Wladimir I. Lenin: Kurze Darstellung der Spaltung in der SDAPR1

[Geschrieben am 4. Februar 1905 Zum ersten Mal veröffentlicht 1926 im „Lenin-Sammelbuch" Nr. 5. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 129-137]

Der bekannte Führer der schweizerischen Sozialdemokraten Hermann Greulich hat in einem Briefe vom 1. Februar 1905 an die Redaktion der Zeitung „Wperjod" (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands) unter anderem das Bedauern über die neue Spaltung unter den russischen Sozialdemokraten ausgesprochen und bemerkt: „Wer an dieser Spaltung die größere Schuld trägt, will ich nicht entscheiden, ich habe dem Parteivorstand der deutschen Sozialdemokratie vorgeschlagen, diese Frage auf internationalem Wege zu lösen". Auf diesen Brief hat die Redaktion des „Wperjod" zusammen mit dem Auslandsbevollmächtigten des russischen „Büros der Komitees der Mehrheit", Genossen Stepanow, mit folgendem Schreiben geantwortet.

Da Genosse Greulich eine internationale Entscheidung herbeiführen will, teilen wir unseren Brief an Greulich allen im Auslande lebenden Freunden der Zeitung „Wperjod" mit und bitten sie, dieses Schreiben in die Sprache des Landes, wo sie sich aufhalten, zu übersetzen, und eine möglichst große Zahl ausländischer Sozialdemokraten mit diesem Schreiben bekannt zu machen. Wünschenswert wäre auch eine Übersetzung der Broschüre von Lenin „Erklärung und Dokumente über den Bruch der Zentralinstanzen mit der Partei" in die fremden Sprachen ebenso der Resolution der Konferenz des Nordens, der Resolution der Konferenz des Südens und der Resolution der Kaukasischen Konferenz.

Die Berner Gruppe zur Förderung der SDAPR „Wperjod" gibt diesen Brief heraus, weil sie es für äußerst wichtig hält, dass besonders die Genossen in Russland eine kurze Darstellung der Spaltung in Händen haben. Wir bitten die Auslandsgenossen, das Schreiben nach Russland zu übersenden.

Der Brief an Greulich

4. Februar 1905

Werter Genosse!

In Ihrem Briefe berühren Sie die Frage der Schuld der einen oder anderen Fraktion unserer Partei (SDAPR) an der Spaltung. Sie sagen, dass Sie die deutschen Sozialdemokraten und das Internationale Büro um ihre Meinung befragt hätten. Wir halten uns infolgedessen für verpflichtet, Ihnen darzulegen, wie es zur Spaltung gekommen ist. Wir wollen uns auf die Anführung genau erwiesener Tatsachen beschränken unter möglichster Weglassung jedes Werturteils.

Bis Ende 1903 war unsere Partei eine Vereinigung untereinander nicht zusammenhängender örtlicher sozialdemokratischer Organisationen, die sich Komitees nannten. Das Zentralkomitee und das Zentralorgan, die auf dem I. Parteitag (1898) gewählt wurden, bestanden nicht. Die Polizei hatte sie zerschlagen und sie wurden nicht erneuert. Im Auslande erfolgte eine Spaltung zwischen dem Bund russischer Sozialdemokraten (Organ – das „Rabotscheje Djelo", daher „Rabotschedjelzen") und Plechanow. Auf die Seite des letzteren trat die im Jahre 1900 gegründete Zeitung „Iskra". In den drei Jahren von 1900 bis 1903 gewann die „Iskra" einen überragenden Einfluss auf die russischen Komitees. Die „Iskra" verteidigte die Ideen der revolutionären Sozialdemokratie gegen den Ökonomismus („Rabotschedjelzentum" – eine russische Abart des Opportunismus). Das Fehlen der Parteieinheit empfanden alle schwer. Endlich im August 1903 war es gelungen, im Auslande den II. Parteitag zusammentreten zu lassen. Es beteiligten sich sämtliche russischen Komitees, der Bund (eine selbständige Organisation des jüdischen Proletariats) und die beiden Auslandsfraktionen: die der „Iskra" und des „Rabotscheje Djelo".

Alle Parteitagsteilnehmer erkannten den Parteitag als rechtmäßig an. Der Kampf auf dem Parteitag wurde geführt zwischen den Anhängern der „Iskra" und den Gegnern der „Iskra" (Rabotschedjelzen und Bund), in der Mitte stand der sogenannte „Sumpf". Die Anhänger der „Iskra" trugen den Sieg davon. Sie brachten ein Parteiprogramm zur Annahme (der Entwurf der „Iskra" wurde bestätigt). Die „Iskra" wurde als Zentralorgan und ihre Richtung als die Richtung der Partei anerkannt. Eine Reihe von Resolutionen über die Taktik hielt sich in ihrem Geiste; das angenommene Organisationsstatut (der Entwurf von Lenin) war das der „Iskra", nur in Details wurde es von den „Iskra"-Gegnern unter Mitwirkung der Minderheit der „Iskra"-Anhänger verschlechtert. Die Gruppierung bei der Abstimmung auf dem Parteitage war folgende: insgesamt 51 Stimmen, davon 33 der „Iskra"-Gruppe (24 „Iskra"-Anhänger der jetzigen Mehrheit, 9 „Iskra"-Anhänger der jetzigen Minderheit), 10 des „Sumpfes" und 8 der „Iskra"-Gegner (3 Rabotschedjelzen und 5 Bundisten). Gegen Ende des Parteitages, vor den Wahlen, verließen 7 Delegierte (2 Rabotschedjelzen und 5 Bundisten) den Parteitag (der Bund trat aus der Partei aus). Die Minderheit der „Iskra"-Gruppe, die infolge der von ihr begangenen Fehler von allen „Iskra"-Gegnern und dem Sumpf unterstützt wurde, erwies sich als Minderheit des Parteitages (24 gegen 9 + 10 + 1, d. h. 24 gegen 20). Bei den Wahlen zu den Zentralinstanzen wurde beschlossen, drei Personen in die Redaktion des ZO und drei in das ZK zu wählen. Von den sechs Personen der alten Redaktion der „Iskra", Plechanow, Axelrod, Sassulitsch, Starowjer, Lenin und Martow, wurden gewählt: Plechanow, Lenin und Martow. In das ZK sollten zwei von der Mehrheit und einer von der Minderheit gewählt werden. Martow lehnte es ab, ohne die drei ausgeschlossenen (nicht gewählten) Genossen in die Redaktion einzutreten, und die ganze Minderheit verzichtete auf die Wahl in das ZK Die Rechtmäßigkeit des Parteitages ist von niemand je bestritten worden und wird auch heute nicht bestritten, aber die Minderheit weigerte sich nach dem Parteitag, unter der Führung der vom Parteitag gewählten Zentralinstanzen zu arbeiten.

Dieser Boykott währte drei Monate: von Ende August 1903 bis Ende November 1903. Die „Iskra" (sechs Nummern, von 46 bis 51) wurde von Plechanow und Lenin zu zweit redigiert. Die Minderheit bildete eine geheime Organisation in der Partei (eine Tatsache, die jetzt in der Presse von den Anhängern der Minderheit selbst bestätigt worden ist und heute von niemand mehr bestritten wird). Die russischen Komitees haben sich mit erdrückender Mehrheit (12 von 14 Komitees, die schon Stellung genommen haben) gegen diesen desorganisierenden Boykott ausgesprochen. Plechanow jedoch hatte nach der stürmisch verlaufenen Tagung der Auslands-„Liga" (der Auslandsorganisation der Partei), die Ende Oktober 1903 stattfand, beschlossen, der Minderheit nachzugeben und vor der ganzen Partei in einem Artikel „Was man nicht tun soll" (Nr. 52 der „Iskra", November 1903) erklärt, dass man zur Vermeidung einer Spaltung mitunter selbst demjenigen nachgeben müsse, der irrtümlich zum Revisionismus neigt und sich wie ein anarchistischer Individualist benimmt (die unterstrichenen Ausdrücke gebrauchte Plechanow wörtlich in dem Artikel „Was man nicht tun soll"). Lenin trat aus der Redaktion aus, da er nicht gegen die Parteitagsbeschlüsse handeln wollte. Plechanow kooptierte darauf alle vier früheren Redakteure. Die russischen Komitees erklärten, dass sie erst sehen wollten, wie die Richtung der neuen „Iskra" sein werde und ob die Menschewiki um des Friedens willen in die Redaktion eingetreten seien.

Es kam, wie die Bolschewiki vorausgesagt hatten: weder ist die Richtung der alten „Iskra" beibehalten worden noch hat die neue menschewistische Redaktion der Partei den Frieden gebracht. Die „Iskra" vollzog eine solche Schwenkung zum alten, vom II. Parteitag abgelehnten Rabotschedjelzentum, dass Trotzki selber, ein angesehenes Mitglied der Minderheit, der eine programmatische Broschüre „Unsere politischen Aufgaben" herausgegeben hat, die unter der Redaktion der neuen „Iskra" erschienen ist, buchstäblich erklärte: „Zwischen der alten und der neuen ,Iskra' klafft ein Abgrund". Wir beschränken uns auf diese Erklärung unseres Gegners, um uns langatmige Auseinandersetzungen über die prinzipielle Unbeständigkeit der „Iskra" zu sparen. Anderseits wurde die „geheime Organisation der Minderheit" nicht aufgelöst, sondern setzte den Boykott des ZK fort. Diese heimliche Spaltung der Partei in eine offene und eine geheime Organisation hemmte in unerträglicher Weise die Arbeit. Die übergroße Mehrheit der russischen Komitees, die zur Krise Stellung genommen haben, verurteilte entschieden sowohl die Richtung der neuen „Iskra" als auch das desorganisatorische Treiben der Minderheit. Von allen Seiten wurde die Forderung der sofortigen Einberufung eines III. Parteitages erhoben, um einen Ausweg aus der unerträglich gewordenen Lage zu schaffen. Nach unserem Parteistatut ist für die Einberufung eines außerordentlichen Parteitages die Erklärung von Organisationen, die zusammen die Hälfte der Gesamtzahl der Stimmen haben, erforderlich (die ordentlichen Parteitage werden möglichst alle zwei Jahre einberufen). Die Hälfte war bereits da. Aber da verriet das ZK die Mehrheit. Unter dem Vorwand einer „Versöhnung" schlossen die nach der Verhaftung übriggebliebenen Mitglieder des ZK ein Übereinkommen mit der geheimen Organisation der Minderheit und erklärten, dass diese Organisation aufgelöst werde, wobei hinter dem Rücken der Partei und entgegen den schriftlichen Erklärungen des ZK drei Menschewiki in das ZK kooptiert wurden. Diese Kooptierung erfolgte im November oder Dezember 1904. Also um die Kooptierung von drei Leuten in das ZO und drei in das ZK kämpfte die Minderheit von August 1903 bis November 1904 und zerfleischte die ganze Partei. Die so gefälschten Zentralinstanzen antworteten auf die Forderung nach dem Parteitag mit einem Geschimpfe oder sie schwiegen sich aus.

Da riss den russischen Komitees alle Geduld. Sie begannen ihre eigenen privaten Konferenzen einzuberufen. Bisher haben drei Konferenzen stattgefunden: erstens von vier kaukasischen Komitees; zweitens von drei Komitees des Südens (Odessa, Nikolajew und Jekaterinoslaw) und drittens von sechs Komitees des Nordens (Petersburg, Moskau, Twer, Riga, „Norden" – d. h. Jaroslawl, Kostroma und Wladimir und schließlich Nischni-Nowgorod). Alle diese Konferenzen sprachen sich für die „Mehrheit" aus, sie beschlossen, die literarische Gruppe der Mehrheit (die Gruppe von Lenin, Rjadowoi, Orlowski, Galerka, Woinow und anderen) zu unterstützen, und wählten ein eigenes Büro; die dritte Konferenz, d. h. die des Nordens, beauftragte dieses Büro, sich in ein Organisationskomitee zu verwandeln und eine Tagung der russischen Komitees, d. h. den III. Parteitag, einzuberufen ohne Rücksicht auf die Zentralinstanzen im Auslande, die sich von der Partei abgespalten haben. So standen die Dinge am 1. Januar 1905 (neuen Stils). Das Büro der Komitees der Mehrheit nahm seine Tätigkeit auf (infolge unserer Polizeibedingungen wird sich die Einberufung des Parteitages natürlich um einige Monate verzögern: die Ankündigung des II. Parteitages erfolgte im Dezember 1902, er trat aber erst im August 1903 zusammen). Die literarische Gruppe der Mehrheit gründete ein Organ der Mehrheit, die Zeitung „Wperjod", die seit dem 4. Januar 1905 neuen Stils wöchentlich erscheint.

Bis heute (4. Februar 1905) sind bereits vier Nummern erschienen. Die Richtung der Zeitung „Wperjod" ist die Richtung der alten „Iskra". Im Namen der alten „Iskra" kämpft der „Wperjod" entschieden gegen die neue „Iskra".

Faktisch also gibt es nun zwei sozialdemokratische Arbeiterparteien Russlands. Die eine mit dem Organ „Iskra", das sich „offiziell" Zentralorgan der Partei nennt, mit einem Zentralkomitee, mit vier russischen Komitees von zwanzig (die übrigen Komitees in Russland, außer den zwanzig, die auf dem II. Parteitag vertreten waren, sind erst später entstanden, und die Frage, ob ihre Bestätigung zu Recht erfolgte, ist eine Streitfrage). Die andere Partei mit dem Organ „Wperjod", mit einem Büro der russischen Komitees der Mehrheit, mit vierzehn Komitees in Russland (die dreizehn obengenannten und das von Woronesch, wahrscheinlich auch die von Saratow, Ural, Tula und Sibirien; wenigstens haben sich die vier letztgenannten Komitees nach dem II. Parteitag sämtlich für die „Mehrheit" ausgesprochen).

Auf der Seite der Anhänger der neuen „Iskra" stehen alle Gegner der alten „Iskra": alle Rabotschedjelzen und ein großer Teil der Intellektuellen der Parteiperipherie. Auf der Seite der „Wperjod"-Anhänger stehen alle grundsatztreuen Anhänger der alten „Iskra" und ein großer Teil der klassenbewussten, vorgeschrittenen Arbeiter und der praktischen Parteiarbeiter in Russland. Plechanow, der auf dem II. Parteitag (August 1903) und auf der Tagung der Liga (Oktober 1903) Mehrheitler war und seit November 1903 verzweifelt gegen die Mehrheit kämpft, erklärte öffentlich (am 2. September 1904, die Äußerung ist abgedruckt), die Kräfte auf beiden Seiten seien ungefähr gleich2. Wir Bolschewiki behaupten, dass auf unserer Seite die Mehrheit der wirklichen russischen Parteiarbeiter ist. Der Hauptgrund der Spaltung und das Haupthindernis für eine Vereinigung ist nach unserem Dafürhalten das desorganisatorische Verhalten der Minderheit, die sich weigerte, sich den Beschlüssen des II. Parteitages unterzuordnen, und der Einberufung eines III. Parteitages die Spaltung vorzog.

Gegenwärtig betreiben die Menschewiki in Russland überall die Spaltung der Ortsorganisationen. So haben sie in Petersburg das Komitee daran gehindert, am 28. November eine Demonstration zu veranstalten (siehe „Wperjod" Nr. 1). Jetzt haben sie sich in Petersburg als eine besondere Gruppe abgespalten, die sich „Gruppe beim ZK" nennt und dem Ortskomitee der Partei entgegenwirkt. Eine ähnliche Ortsgruppe („beim ZK") zur Bekämpfung des Parteikomitees gründeten sie dieser Tage in Odessa. Die menschewistischen Zentralinstanzen der Partei mussten infolge ihrer unaufrichtigen Position die örtliche Arbeit der Partei desorganisieren, denn diese Zentralinstanzen wollten sich dem Beschluss der Parteikomitees, die sie gewählt haben, nicht unterordnen.

Die prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten zwischen dem „Wperjod" und der neuen „Iskra" sind im Grunde die gleichen, wie die zwischen der alten „Iskra" und dem „Rabotscheje Djelo". Wir halten diese Meinungsverschiedenheiten für erheblich, doch wären unseres Erachtens diese Meinungsverschiedenheiten an sich kein Hindernis für die gemeinsame Arbeit in einer Partei, unter der Bedingung, dass es möglich ist, unsere eigenen Auffassungen, die Auffassungen der alten „Iskra", durchaus zu vertreten.

1 Die Einleitung zu dem Brief an Greulich, die im Namen der Berner Gruppe abgefasst wurde, wie der Brief selbst, ist von Lenin geschrieben. Das kürzlich aufgefundene Original des Briefes an Greulich trägt das Datum 3. (nicht 4.) Februar 1905 und die Unterschriften: Redaktion der Zeitung „Wperjod": N. Lenin, P. Orlowski, A. Woinow, Rjadowoi. Der Auslandsbevollmächtigte des russischen Büros der Komitees der Mehrheit Stepаnоw. Über den Vermittlungsversuch Bebels und des Parteivorstandes der deutschen Sozialdemokratie siehe Lenins Brief an Bebel und die Anmerkung dazu.

2 Plechanow hatte diese Äußerung getan in einer Versammlung russischer Sozialdemokraten am 2. September 1904. Ein Bericht über diese Versammlung erschien dann als Broschüre.

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