13. (Schluss) Dürfen wir siegen?

13. (Schluss) Dürfen wir siegen?

Leute, die die Lage der Dinge in der russischen Sozialdemokratie nur oberflächlich kennen oder sich von außen her ihr Urteil bilden, ohne die Geschichte unseres ganzen innerparteilichen Kampfes seit den Zeiten des Ökonomismus zu kennen, pflegen die taktischen Differenzen, die sich jetzt, besonders nach dem 3. Parteitag, herausgebildet haben, mit dem Hinweis abzutun, dass es sich um die beiden naturnotwendigen, unausweichlichen und durchaus zu vereinbarenden Tendenzen handle, die in jeder sozialdemokratischen Bewegung anzutreffen sind. Da habe man, sozusagen, auf der einen Seite die Betonung der üblichen, laufenden, alltäglichen Arbeit, der Unerlässlichkeit der Entfaltung der Propaganda und Agitation, der Vorbereitung der Kräfte, der Vertiefung der Bewegung usw. Auf der anderen Seite die Betonung der allgemein-politischen, revolutionären Kampfaufgaben der Bewegung, den Hinweis auf die Unerlässlichkeit des bewaffneten Aufstandes, die Hervorhebung der Losungen: revolutionär-demokratische Diktatur und provisorische revolutionäre Regierung. Keine der beiden Meinungen solle übertrieben werden, weder hier noch dort (so wie überhaupt nirgends in der Welt) seien Extreme von Nutzen usw. u.a.m.

Hinter den in solchen Beurteilungen unzweifelhaft enthaltenen Binsenwahrheiten der Lebens- (und auch der „politischen", aber in Gänsefüßchen) Weisheit verbirgt sich jedoch nur allzu oft das Unverständnis für die dringendsten, brennendsten Nöte der Partei. Nehmen wir die jetzigen taktischen Differenzen unter den russischen Sozialdemokraten. Es versteht sich von selbst, dass an und für sich auch die stärkste Betonung der laufenden Tagesarbeit, die wir in den taktischen Betrachtungen der Neu-Iskristen finden, noch keinerlei Gefahr zu bedeuten und auch keinerlei Differenzen in den taktischen Losungen hervorzurufen brauchte. Dagegen genügt es, die Resolutionen des 3. Parteitages der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands mit denen der Konferenz zu vergleichen, und die Differenz springt sofort ins Auge.

Woran liegt das nun? Erstens daran, dass es nicht genügt, nur allgemein, abstrakt auf die beiden Strömungen in einer Bewegung und auf die Schädlichkeit der Extreme hinzuweisen. Man muss konkret wissen, woran die in Frage stehende Bewegung im gegebenen Moment leidet und worin jetzt die tatsächliche politische Gefahr für die Partei besteht. Zweitens muss man wissen, welchen realen politischen Kräften diese oder jene taktischen Losungen – oder das Fehlen dieser oder jener Losung – das Wasser auf die Mühlen treibt. Wenn man die Neu-Iskristen hört, kommt man zu dem Schluss, der sozialdemokratischen Partei drohe die Gefahr, dass die Propaganda und die Agitation, die Wirtschaftskämpfe und die Kritik an der bürgerlichen Demokratie über Bord geworfen werden, und dass die Partei allzu sehr in militärischen Vorbereitungen, bewaffneten Überfällen, in Machtergreifung usw. aufgeht. In Wirklichkeit aber droht der Partei die reale Gefahr von einer ganz anderen Seite. Wer den Stand der Bewegung auch nur einigermaßen näher kennt und sie aufmerksam und mit Überlegung verfolgt, dem kann das Lächerliche an den Befürchtungen der Neu-Iskristen nicht entgehen. Die ganze Arbeit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands ist schon ganz und gar in einen festen, unverrückbaren Rahmen gefügt worden, der die Verlegung des Schwerpunktes der Tätigkeit auf die Agitation und Propaganda, auf improvisierte Versammlungen und Massenmeetings, auf die Verbreitung von Flugblättern und Broschüren, auf die Förderung der Wirtschaftskämpfe und die Aufgreifung ihrer Losungen gewährleistet. Es gibt kein einziges Parteikomitee, kein einziges Rayonkomitee, keine einzige zentrale Zusammenkunft und kein einziges Fabrikkomitee, das nicht neunundneunzig Prozent seiner Aufmerksamkeit, seiner Kräfte und seiner Zeit stets und ständig allen diesen Funktionen widmete, die schon seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre in der Partei fest gewurzelt sind. Das wissen nur solche Leute nicht, die die Bewegung überhaupt nicht kennen. Nur sehr naive oder schlecht unterrichtete Leute können die mit wichtiger Miene vorgetragenen neu-iskristischen Wiederholungen der alten Geschichten noch für bare Münze nehmen.

Tatsache ist, dass man bei uns nicht nur keineswegs in den Aufgaben des Aufstandes, in den allgemeinen politischen Losungen und in der Sache der Führung der gesamten Volksrevolution ganz und gar aufgeht, sondern dass im Gegenteil die Rückständigkeit gerade in diesen Punkten in die Augen springt, dass diese Rückständigkeit der wundeste Punkt und eine reale Gefahr für die Bewegung ist, die leicht aus einer Bewegung der revolutionären Tat in eine solche der revolutionären Phrase ausarten kann und stellenweise auch schon ausartet. Unter den vielen Hunderten von Organisationen, Gruppen und Zirkeln, die Parteiarbeit leisten, findet ihr keine einzige Organisation, in der nicht von ihrem Entstehen an jene Tagesarbeit geleistet würde, die von den Neunmalweisen der neuen „Iskra" mit der Miene von Leuten verkündet wird, die eine neue Wahrheit entdeckt haben. Dagegen wird nur ein verschwindend geringer Prozentsatz von Gruppen und Zirkeln zu finden sein, die sich der Aufgaben des bewaffneten Aufstandes bewusst geworden, an ihre Erfüllung gegangen und sich darüber im Klaren sind, dass es notwendig ist, in der Revolution des gesamten Volkes gegen den Zarismus die Führung zu übernehmen, und dass zu diesem Zwecke gerade diese und nicht andere, fortgeschrittenere Losungen aufgestellt werden müssen.

Wir sind hinter den vornehmsten und wirklich revolutionären Aufgaben unglaublich zurückgeblieben, wir haben sie in einer Unzahl von Fällen noch nicht erkannt und haben die da und dort erfolgte Erstarkung der revolutionären bürgerlichen Demokratie auf Kosten dieser unserer Zurückgebliebenheit übersehen. Die Schriftsteller von der neuen „Iskra" jedoch kehren dem Gang der Ereignisse und den Erfordernissen der Zeit den Rücken zu und behaupten hartnäckig: Vergesst nicht das Alte! Geht nicht im Neuen auf! Das ist der unveränderliche Grundgedanke aller wesentlichen Resolutionen der Konferenz, während man in den Resolutionen des Parteitags immer wieder lesen kann: indem wir das Frühere anerkennen (ohne es lange breitzutreten, denn es ist eben das Alte, das in der Literatur, in Resolutionen und durch die Erfahrung schon entschieden und festgehalten worden ist), heben wir die neue Aufgabe hervor, lenken wir die Aufmerksamkeit auf sie, stellen wir eine neue Losung auf und fordern von wirklich revolutionären Sozialdemokraten, dass sie unverzüglich an ihrer Durchführung arbeiten.

So steht in Wirklichkeit die Frage der zwei Tendenzen in der Taktik der Sozialdemokratie. Die revolutionäre Epoche hat neue Aufgaben gestellt, die nur gänzlich Blinde nicht sehen können. Die einen Sozialdemokraten bekennen sich entschieden zu diesen Aufgaben und stellen sie auf die Tagesordnung, indem sie sagen: Der bewaffnete Aufstand ist unaufschiebbar, bereitet euch unverzüglich und energisch auf ihn vor; seid dessen eingedenk, dass er für einen entscheidenden Sieg unerlässlich ist; stellt die Losung der Republik, der provisorischen Regierung und der revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft auf! Andere Sozialdemokraten aber weichen zurück und treten auf der Stelle; anstatt Losungen zu geben, schreiben sie Vorreden, und anstatt, neben der Bekräftigung des Alten, das Neue zu zeigen, kauen sie das Alte weitläufig und langweilig wieder und erdenken Ausflüchte, um sich vor dem Neuen zu drücken, weil sie unfähig sind, die Bedingungen des entscheidenden Sieges festzulegen und jene Losungen aufzustellen, die einzig und allein dem Streben nach dem vollen Siege entsprechen.

Das politische Ergebnis dieses Chwostismus liegt für uns auf der Hand. Die Fabel von der Annäherung der „Mehrheit" der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands an die revolutionäre bürgerliche Demokratie bleibt eine Fabel, die weder durch irgendeine politische Tatsache noch durch irgendeine maßgebende Resolution der „Bolschewiki", noch durch irgendeine Handlung des 3. Parteitages der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands bestätigt wird. Dagegen begrüßt aber die opportunistische, monarchistische Bourgeoisie in der Gestalt des „Oswoboschdjenije" schon von jeher die „prinzipiellen" Tendenzen des Neu-Iskrismus, deren Wasser jetzt schon direkt die Mühlen des „Oswoboschdjenije" treibt. Sie übernimmt alle Wörtlein und „Ideelein" der neuen „Iskra" gegen die „Konspiration" und den „Aufruhr", gegen die Übertreibung der „technischen" Seiten der Revolution, gegen die direkte Aufstellung der Losung des bewaffneten Aufstandes, gegen den „Revolutionarismus" der extremen Forderungen usw. u.a.m. Die Resolution der ganzen Konferenz der „Menschewiki"-Sozialdemokraten des Kaukasus und die Billigung dieser Resolution durch die Redaktion der neuen „Iskra" fassen alles das in den Satz zusammen: Die Bourgeoisie könnte abschwenken, wenn das Proletariat an der revolutionär-demokratischen Diktatur teilnimmt! Damit ist alles gesagt. Damit ist die Verwandlung des Proletariats in ein Anhängsel der monarchistischen Bourgeoisie besiegelt. Damit ist die politische Bedeutung des neu-iskristischen Chwostismus faktisch, nicht durch die zufällige Erklärung einer einzelnen Person, sondern durch eine von der ganzen Richtung besonders gebilligte Resolution bewiesen.

Wer über diese Tatsachen nachdenkt, der wird die wirkliche Bedeutung der landläufigen Unterscheidung von zwei Flügeln und zwei Tendenzen in der sozialdemokratischen Bewegung verstehen. Um diese Tendenzen in größerem Maßstabe zu studieren, braucht man nur die Bernsteiniade zu nehmen. Haben doch die Bernsteinianer genau ebenso behauptet und behaupten sie doch immer noch, dass gerade sie die wahrhaften Nöte des Proletariats und die Aufgabe, seine Kräfte zu steigern, die Arbeit zu vertiefen, die Elemente der neuen Gesellschaft vorzubereiten, sowie die Aufgaben der Propaganda und Agitation am besten verstehen. Wir verlangen die offene Anerkennung dessen, was ist! – sagt Bernstein; damit sanktioniert er die „Bewegung" ohne „Endziel", sanktioniert er die Taktik der bloßen Abwehr und predigt er die Taktik der Angst, „die Bourgeoisie könnte abschwenken". Auch die Bernsteinianer schrien über das „Jakobinertum" der revolutionären Sozialdemokraten, über die „Literaten", die für die „Selbsttätigkeit" der Arbeiter kein Verständnis haben usw. In Wirklichkeit dachten, wie allgemein bekannt, die revolutionären Sozialdemokraten gar nicht daran, die tägliche Kleinarbeit, die Vorbereitung der Kräfte usw. fahren zu lassen. Sie forderten nur die klare Erkenntnis des Endziels, die klare Stellung der revolutionären Aufgaben; sie wollten die halb proletarischen und halb kleinbürgerlichen Schichten zur revolutionären Gesinnung des Proletariats emporheben und nicht zulassen, dass anstelle dieser revolutionären Gesinnung die opportunistische Erwägung trete, dass „die Bourgeoisie abschwenken könnte". Den ausgeprägten Ausdruck fand dieser Zwist zwischen dem intellektuell-opportunistischen und dem proletarisch-revolutionären Flügel der Partei wohl in der Frage: „Dürfen wir siegen?"1 Ist es uns erlaubt zu siegen? Ist es nicht gefährlich, zu siegen? Sollen wir siegen?2 Diese auf dem ersten Blick sonderbare Frage wurde wirklich gestellt und musste gestellt werden, denn die Opportunisten fürchteten den Sieg, schreckten das Proletariat mit ihm, sagten von ihm Unheil voraus und verhöhnten die Losungen, die offen zum Siege riefen.

Dieselbe grundlegende Teilung in eine intellektuell-opportunistische und eine proletarisch-revolutionäre Tendenz ist auch bei uns vorhanden, nur mit dem sehr wesentlichen Unterschied, dass es sich hier nicht um die sozialistische, sondern um die demokratische Umwälzung handelt. Auch bei uns wurde die auf den ersten Blick unsinnige Frage gestellt: „Dürfen wir siegen?" Sie wurde von Martynow in seinen „Zwei Diktaturen" gestellt, wo er für den Fall, dass wir den Aufstand sehr gut vorbereiten und siegreich durchführen, Unheil prophezeite. Sie wurde in der gesamten Literatur der Neu-Iskristen über die Frage der provisorischen revolutionären Regierung gestellt, wobei sie stets eifrig aber erfolglos versuchten, die Beteiligung Millerands an der bürgerlich-opportunistischen Regierung mit der Beteiligung Varlins an der kleinbürgerlichen Revolutionsregierung in einen Topf zu werfen. Jene Frage ist in der Resolution „dass nicht etwa die Bourgeoisie abschwenke" festgehalten. Und wenn Kautsky z.B. jetzt zu ironisieren versucht, dass unser Streit über die provisorische revolutionäre Regierung an die Teilung des Felles des noch nicht erlegten Bären erinnere, so beweist diese Ironie nur, dass sogar kluge und revolutionäre Sozialdemokraten in eine Sackgasse geraten, wenn sie über etwas reden, das sie nur vom Hörensagen kennen. Die deutsche Sozialdemokratie ist noch nicht allzu nahe daran, den Bären zu erlegen (die sozialistische Umwälzung zu vollziehen), allein die Polemik darüber, ob wir ihn erlegen „dürfen", hatte eine große prinzipielle und praktische politische Bedeutung. Die russischen Sozialdemokraten sind noch nicht allzu nahe daran, „ihren Bären erlegen" zu können (die demokratische Umwälzung zu vollziehen), aber die Frage, ob wir ihn erlegen „dürfen", hat für die ganze Zukunft Russlands und für die Zukunft der russischen Sozialdemokratie eine äußerst ernste Bedeutung. Ohne die Überzeugung, dass wir siegen „dürfen", kann von der energischen, erfolgreichen Sammlung einer Armee und von ihrer Führung keine Rede sein.

Nehmt unsere alten Ökonomisten! Die schrien auch, dass ihre Gegner Verschwörer, Jakobiner seien (siehe „Rabotscheje Djelo", besonders Nr. 10, und die Rede Martynows in den Debatten auf dem 2. Parteitag über das Programm3), dass sie sich von den Massen trennen, indem sie sich auf die Politik stürzen, dass sie die Grundlagen der Arbeiterbewegung vergessen, nicht mit der Selbsttätigkeit der Arbeiter rechnen usw. usf. In Wirklichkeit aber waren diese Anhänger der „Selbsttätigkeit der Arbeiter" opportunistische Intellektuelle, die den Arbeitern ihre enge, philisterhafte Auffassung von den Aufgaben des Proletariats aufnötigten. In Wirklichkeit haben die Gegner des Ökonomismus, wie man aus der alten „Iskra" ersehen kann, keine einzige Seite der sozialdemokratischen Arbeit vernachlässigt oder in den Hintergrund geschoben und den ökonomischen Kampf nicht im Geringsten vergessen. Zugleich aber haben sie es verstanden, die dringenden, auf der Tagesordnung stehenden politischen Fragen in ihrem ganzen Umfange aufzurollen und der Verwandlung der Arbeiterpartei in ein „ökonomisches" Anhängsel der liberalen Bourgeoisie entgegenzuwirken.

Die Ökonomisten hatten auswendig gelernt, dass die Ökonomie die Grundlage der Politik bildet, und sie „verstanden" es so, dass man den politischen Kampf zum ökonomischen degradieren müsse. Die Neu-Iskristen haben auswendig gelernt, dass die demokratische Umwälzung in ihrer ökonomischen Grundlage die bürgerliche Revolution enthält, und sie haben das so „verstanden", dass man die demokratischen Aufgaben des Proletariats auf das Niveau der bürgerlichen Mäßigung herabdrücken und innerhalb jener Grenzen halten müsse, bei deren Überschreitung „die Bourgeoisie abschwenken würde". Die Ökonomisten haben die Arbeiterklasse unter dem Vorwand der Vertiefung der Arbeit, unter dem Vorwand der Selbsttätigkeit der Arbeiter und der reinen Klassenpolitik in Wirklichkeit den liberal-bürgerlichen Politikern ausgeliefert, bzw. die Partei auf einen Weg geführt, dessen objektive Bedeutung darauf hinauslief. Die Neu-Iskristen verraten unter denselben Vorwänden in Wirklichkeit die Interessen des Proletariats in der demokratischen Revolution an die Bourgeoisie, bzw. sie führen die Partei auf einen Weg, dessen objektive Bedeutung darauf hinausläuft.

Den Ökonomisten dünkte die Hegemonie im politischen Kampf nicht Sache der Sozialdemokraten, sondern eigentlich Sache der Liberalen zu sein. Den Neu-Iskristen dünkt die aktive Durchführung der demokratischen Revolution nicht Sache der Sozialdemokraten, sondern eigentlich Sache der demokratischen Bourgeoisie zu sein, weil die Führung und die überragende Beteiligung des Proletariats den „Schwung" der Revolution „vermindern" würde.

Mit einem Wort, die Neu-Iskristen erweisen sich als Epigonen des Ökonomismus, nicht nur infolge der Entstehung dieser Richtung auf dem 2. Parteitage, sondern auch auf Grund der Art, wie sie die Fragen der taktischen Aufgaben des Proletariats in der demokratischen Umwälzung stellen. Auch sie sind der opportunistisch-intellektuelle Flügel der Partei. In der Organisation führte sich dieser Flügel mit dem anarchistischen Individualismus der Intellektuellen ein, und er endete mit der „Desorganisation als Prozess", indem er im „Statut", das von der Konferenz angenommen wurde, die Trennung der Literatur von der Parteiorganisation, die indirekten, wenn nicht gar vierstufigen Wahlen und das System der bonapartistischen Urabstimmungen an Stelle des demokratischen Vertretungssystems sowie das Prinzip der „Vereinbarung" zwischen dem Teil und dem Ganzen festlegte. In der Parteitaktik gerieten sie auf eine ebenso schiefe Ebene. Im „Plan der Semstwo-Kampagne" stellten sie das Auftreten vor den Semstwo-Leuten als den „höchsten Typus der Demonstration" hin, weil sie (am Vorabend des 9. Januar!) auf der politischen Bühne nur zwei aktive Kräfte sahen: die Regierung und die bürgerliche Demokratie. Die dringende Aufgabe der Bewaffnung „vertieften" sie, indem sie die direkte, praktische Losung durch die Aufforderung ersetzten, sich mit dem brennenden Verlangen nach Selbstbewaffnung auszurüsten. Die Aufgaben des bewaffneten Aufstandes, der provisorischen Regierung und der revolutionär-demokratischen Diktatur haben sie jetzt in ihren offiziellen Resolutionen verdreht und gestutzt. „Damit die Bourgeoisie nicht abschwenke" – dieser Schlussakkord ihrer letzten Resolution verbreitet volles Licht darüber, wohin ihr Weg die Partei führt.

Die demokratische Umwälzung in Russland ist eine ihrem sozial-ökonomischen Wesen nach bürgerliche Revolution. Es genügt nicht, diesen richtigen marxistischen Satz einfach zu wiederholen. Man muss ihn verstehen und bei der Aufstellung politischer Losungen anwenden können. Auf dem Boden der heutigen, d.h. der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, ist alle politische Freiheit überhaupt bürgerliche Freiheit. Die Forderung nach Freiheit drückt vor allem die Interessen der Bourgeoisie aus. Ihre Vertreter haben als erste diese Forderung aufgestellt. Ihre Anhänger haben in ihrer Rolle als Herrscher die erhaltene Freiheit überall ausgenützt, auf ein mäßiges, genaues bürgerliches Maß reduziert und in friedlichen Zeiten mit einer äußerst verfeinerten, in stürmischen Zeiten mit einer tierisch grausamen Unterdrückung des revolutionären Proletariats in Übereinstimmung gebracht.

Allein, daraus eine Ablehnung oder Geringschätzung des Kampfes für die Freiheit folgern, das konnten nur putschistische Narodniki, Anarchisten und „Ökonomisten". Dem Proletariat diese intellektuell-philisterhafte Lehre aufzuzwingen, gelang immer nur vorübergehend, nur gegen seinen Widerstand. Das Proletariat empfand instinktiv, dass es die politische Freiheit nötig hat, dass es sie am allermeisten nötig hat, trotzdem sie unmittelbar die Bourgeoisie festigen und organisieren wird. Nicht vom Aufgeben des Klassenkampfes erwartet das Proletariat sein Heil, sondern von seiner Entwicklung, von der Steigerung seines Umfanges, seiner bewussten Führung, seiner Organisiertheit und Entschiedenheit. Wer die Aufgaben des politischen Kampfes herabsetzt, der macht den Sozialdemokraten aus einem Volkstribun zu einem trade-unionistischen Sekretär. Wer die proletarischen Aufgaben der demokratischen Revolution herabsetzt, der verwandelt den Sozialdemokraten aus einem Führer der Volksrevolution in den Führer eines freien Arbeiterverbandes.

Ja, der Volksrevolution. Die Sozialdemokratie kämpfte und kämpft mit vollem Recht gegen den bürgerlich-demokratischen Missbrauch des Wortes „Volk". Sie verlangt, dass man hinter diesem Wort nicht das mangelhafte Verständnis für die Klassengegensätze innerhalb des Volkes verberge. Sie beharrt auf der unbedingten Notwendigkeit der vollen Selbständigkeit der Partei des Proletariats. Sie teilt aber das „Volk" nicht deshalb in „Klassen", damit sich die Klasse, die die Avantgarde bildet, von den anderen abschließe, auf ein enges Maß begrenze und ihre Aktivität durch die Erwägung lähme, dass die ökonomischen Beherrscher der Welt sich etwa abkehren könnten – sondern deshalb, damit die zur Rolle der Avantgarde berufene Klasse unbehindert von der Halbheit, Unbeständigkeit und Unentschiedenheit der Zwischenklassen und darum mit um so größerer Energie, mit um so größerem Enthusiasmus an der Spitze des ganzen Volkes für die Sache des ganzen Volkes kämpfe!

Das eben verstehen die heutigen Neu-Iskristen oft nicht, die die Aufstellung von aktiven politischen Losungen in der demokratischen Revolution durch die bloße räsonierende Wiederholung des Wortes „Klassen" in allen seinen grammatikalischen Formen ersetzen.

Die demokratische Umwälzung ist bürgerlich. Die Losung der schwarzen Umteilung oder „Land und Freiheit" – diese am meisten verbreitete Losung der eingeschüchterten, unaufgeklärten, aber leidenschaftlich nach Licht und Luft verlangenden Bauernmassen – ist bürgerlich. Allein wir Marxisten müssen wissen, dass es keinen anderen Weg zur wirklichen Freiheit des Proletariats und der Bauernmassen gibt und geben kann als den Weg der bürgerlichen Freiheit und des bürgerlichen Fortschritts. Wir dürfen nicht vergessen, dass es in der gegenwärtigen Zeit kein anderes Mittel gibt, dem Sozialismus näher zu kommen, als die volle politische Freiheit, als die demokratische Republik, die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft. Als Vertreter der fortgeschrittensten und der einzigen Klasse, die revolutionär ist ohne Vorbehalt, ohne Zweifel und ohne rückwärts zu schauen, müssen wir die Aufgaben der demokratischen Umwälzung vor dem ganzen Volke in so breitem Umfang, so mutig und so initiativ wie nur möglich aufrollen. Die Herabsetzung dieser Aufgaben ist theoretisch eine Karikatur auf den Marxismus und eine philisterhafte Verdrehung desselben; praktisch-politisch aber ist sie eine Auslieferung der Sache der Revolution an die Bourgeoisie, die sich vor der konsequenten Durchführung der Revolution unvermeidlich drücken wird. Die Schwierigkeiten, die sich dem vollen Siege der Revolution entgegenstellen, sind sehr groß. Niemand wird die Vertreter des Proletariats verurteilen können, wenn sie alles, was in ihren Kräften liegt, daransetzen und wenn dann schließlich ihre Bemühungen trotzdem am Widerstand der Reaktion, am Verrat der Bourgeoisie, an der Unaufgeklärtheit der Massen scheitern sollten. Aber jeder und alle, und vor allem das klassenbewusste Proletariat, werden die Sozialdemokratie verurteilen, wenn sie die revolutionäre Energie der demokratischen Umwälzung und den revolutionären Enthusiasmus durch die Angst vor dem Sieg und durch die Erwägung lähmen wird, dass die Bourgeoisie abschwenken könnte.

Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte, sagte Marx. Die Revolutionen sind Feste der Unterdrückten und Ausgebeuteten. Nie vermag die Volksmasse als ein so aktiver Schöpfer neuer Gesellschaftsordnungen aufzutreten wie während einer Revolution. In solchen Zeiten ist die Volksmasse, vom Gesichtspunkt des engen kleinbürgerlichen Maßes des allmählichen Fortschritts betrachtet, fähig Wunder zu wirken. Es ist aber notwendig, dass in einer solchen Zeit auch die Führer der revolutionären Parteien ihre Aufgaben umfassender und mutiger aufstellen, dass ihre Losungen der Selbsttätigkeit der revolutionären Masse stets vorangehen, ihnen als Leuchtturm dienen, ihnen unser demokratisches und sozialistisches Ideal in seiner ganzen Erhabenheit und Schönheit zeigen und den allerkürzesten, den direktesten Weg zum vollen, unbedingten und entscheidenden Sieg weisen. Überlassen wir es den Opportunisten der um das „Oswoboschdjenije" gruppierten Bourgeoisie, aus Angst vor der Revolution und aus Angst vor dem direkten Wege Umwege, Schleichwege und die Wege des Kompromisses ausfindig zu machen. Sollte man uns mit Gewalt zwingen, uns auf solchen Wegen dahinzuschleppen, so werden wir imstande sein, auch in der alltäglichen Kleinarbeit unsere Pflicht zu erfüllen. Vorerst aber mag der rücksichtslose Kampf über die Wahl des Weges entscheiden. Wenn wir die außergewöhnliche Energie der Massen und ihren revolutionären Enthusiasmus nicht für den ungehemmten, rücksichtslosen Kampf um den direkten und entscheidenden Weg ausnützen, werden wir uns als Verräter an der Revolution erweisen. Mögen die Opportunisten der Bourgeoisie in feiger Weise an die künftige Reaktion denken. Die Arbeiter werden weder vor dem Gedanken erschrecken, dass die Reaktion sich anschickt, fürchterlich zu sein, noch vor dem Gedanken, dass die Bourgeoisie sich anschickt, abzuschwenken. Die Arbeiter erwarten keine Kompromisse und erbitten keine Gaben; sie erstreben rücksichtslose Zertrümmerung der reaktionären Kräfte, d.h. die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft.

Kein Zweifel, in einer stürmischen Zeit drohen unserem Parteischiff mehr Gefahren als beim stillen „Dahinschwimmen" des liberalen Fortschritts, der das qualvolle, langsame Auspressen der Arbeiterklasse durch ihre Ausbeuter bedeutet. Kein Zweifel, die Aufgaben der revolutionär-demokratischen Diktatur sind tausendmal schwieriger und komplizierter als die Aufgaben der „extremen Opposition" und des nur parlamentarischen Kampfes. Wer es aber über sich bringt, im gegenwärtigen revolutionären Moment das stille Dahinschwimmen und den Weg der gefahrlosen „Opposition" vorzuziehen, der soll sich lieber für eine Zeit von der sozialdemokratischen Arbeit entfernen, soll das Ende der Revolution abwarten, bis das Fest vorbei ist und der Alltag wieder einkehrt, bis also ein beschränktes Alltagsmaß nicht eine so widerliche Dissonanz und nicht eine derartige Verkrüppelung der Aufgaben der Arbeiterklasse bedeutet.

An der Spitze des gesamten Volkes und besonders der Bauernschaft – für die volle Freiheit, für die konsequente demokratische Umwälzung, für die Republik! An der Spitze aller Werktätigen und Ausgebeuteten – für den Sozialismus! Das muss in Wirklichkeit die Politik des revolutionären Proletariats sein, so muss die Klassenlosung lauten, die in der Zeit der Revolution die Lösung jeder taktischen Frage und jeden praktischen Schritt der Arbeiterpartei bestimmen und durchdringen muss.

1 „Dürfen wir siegen" bei Lenin deutsch. D. Red.

3 Der Hinweis auf Nr. 10 des „Rabotscheje Djelo" (Genf, September 1901) betrifft den Artikel B. Kritschewskis: „Grundsätze, Taktik und Kampf."

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