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Wladimir I. Lenin 19071200 Der Internationale Sozialistenkongress in Stuttgart

Wladimir I. Lenin: Der Internationale Sozialistenkongress in Stuttgart

[Geschrieben Ende 1907. Veröffentlicht 1908 im „Kalendarj dlja wsjech" („Kalender für alle") für das Jahr 1908 Gez.: N. L. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 104-113]

Der kürzlich zu Ende gegangene Kongress in Stuttgart war der 12. Kongress der proletarischen Internationale. Die ersten fünf Kongresse fallen in die Zeit der I. Internationale (1866–1872), die unter Marxens Führung stand, der – um den glücklichen Ausdruck Bebels zu gebrauchen – versucht hat, die internationale Einheit des kämpfenden Proletariats von oben her zu verwirklichen. Dieser Versuch konnte keinen Erfolg haben, solange sich keine nationalen sozialistischen Parteien herausgebildet hatten und erstarkt waren, doch die Tätigkeit der I. Internationale erwies der Arbeiterbewegung aller Länder große Dienste und hinterließ bleibende Spuren.

Die II. Internationale beginnt mit dem Pariser Internationalen Sozialistenkongress von 1889. Auf den nachfolgenden Kongressen in Brüssel (1891), Zürich (1893), London (1896), Paris (1900) und Amsterdam (1904) erstarkte diese sich auf feste nationale Parteien stützende Internationale endgültig. In Stuttgart versammelten sich 884 Delegierte von 25 Völkern Europas, Asiens (Japan und z. T. aus Indien), Amerikas, Australiens und Afrikas (ein Delegierter von Südafrika).

Die große Bedeutung des Internationalen Sozialistenkongresses in Stuttgart besteht gerade darin, dass er die endgültige Festigung der II. Internationale und die Verwandlung der internationalen Kongresse in sachliche Tagungen bedeutet, die auf Charakter und Richtung der sozialistischen Tätigkeit in der ganzen Welt von größtem Einfluss sind. Formell sind die Beschlüsse der internationalen Kongresse für die einzelnen Nationen nicht bindend, doch ist ihre moralische Bedeutung so groß, dass Nichtbefolgung der Beschlüsse in Wirklichkeit eine Ausnahme ist, – vielleicht eine noch seltenere als die Nichtbefolgung von Beschlüssen der eigenen Parteitage. Der Amsterdamer Kongress setzte die Vereinigung der französischen Sozialisten durch, und seine Resolution gegen den Ministerialismus brachte tatsächlich den Willen des klassenbewussten Proletariats der ganzen Welt zum Ausdruck, bestimmte die Politik der Arbeiterparteien.

Der Stuttgarter Kongress tat einen großen Schritt in der gleichen Richtung und erwies sich in Bezug auf eine ganze Reihe wichtiger Fragen als die oberste Instanz für die Festlegung der politischen Linie des Sozialismus. Noch entschiedener als der Amsterdamer Kongress setzte der Stuttgarter diese Linie im Sinne der revolutionären Sozialdemokratie gegen den Opportunismus fest. Die von Clara Zetkin redigierte Zeitschrift der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterinnen, „Die Gleichheit", bemerkt dazu treffend:

Einmal haben in sämtlichen Fragen die besonderen Abweichungen einzelner sozialistischer Parteien nach der opportunistischen Seite hin durch das Zusammenwirken der Sozialisten aller Länder eine kräftige Korrektur im revolutionären Sinne erfahren".

Eine bemerkenswerte und traurige Erscheinung war hierbei, dass die deutsche Sozialdemokratie, die bisher stets die revolutionäre Auffassung im Marxismus vertreten hatte, diesmal schwankte oder sich auf einen opportunistischen Standpunkt stellte. Der Stuttgarter Kongress erbrachte die Bestätigung einer tiefgründigen Bemerkung von Engels über die deutsche Arbeiterbewegung. Am 29. April 1886 schrieb Engels an Sorge, den Veteranen der I. Internationale:

Überhaupt ist es gut, dass den Deutschen, namentlich seit sie so viele Philisterelemente gewählt (was freilich unvermeidlich), die Führung etwas streitig gemacht wird. In Deutschland wird alles in ruhigen Zeiten philisterhaft; da ist der Stachel der französischen Konkurrenz absolut nötig. Und; der wird nicht fehlen."1

Am Stachel der französischen Konkurrenz fehlte es in Stuttgart nicht, und dieser Stachel erwies sich tatsächlich als notwendig, denn die Deutschen legten nicht wenig Philistergeist an den Tag. Die russischen Sozialdemokraten müssen dies ganz besonders beachten, denn unsere Liberalen (und nicht nur die Liberalen allein) geben sich die erdenklichste Mühe, gerade die am wenigsten glänzenden Seiten der deutschen Sozialdemokratie als ein der Nachahmung wertes Beispiel hinzustellen. Die hervorragendsten und einsichtigsten Führer der Gedankenwelt der deutschen Sozialdemokratie haben diese Tatsache selber hervorgehoben und, jede falsche Scham beiseite werfend, auf sie als ein Warnungszeichen entschieden hingewiesen.

In Amsterdam – schreibt das Organ Clara Zetkins – war es die Dresdener Resolution, die das revolutionäre Leitmotiv der Verhandlungen des proletarischen Weltparlaments bildete, in Stuttgart waren die Rede Vollmars in der Militärkommission, Päplows in der Einwanderungskommission, Davids (und Bernsteins, wollen wir von uns aus hinzufügen) in der Kolonialkommission peinliche opportunistische Misstöne des Kongresses. In den meisten Fragen und Kommissionen waren die Vertreter Deutschlands diesmal die Wortführer des Opportunismus."

Kautsky aber schreibt über den Stuttgarter Kongress:

von der führenden Rolle, die bisher die deutsche Sozialdemokratie in der neuen Internationale tatsächlich einnahm, war diesmal nichts mehr zu merken."2

Betrachten wir nunmehr die einzelnen Fragen, die auf dem Kongress behandelt wurden. In der Kolonialfrage gelang es nicht, die Meinungsverschiedenheiten in der Kommission beizulegen. Der Streit zwischen Opportunisten und Revolutionären wurde auf dem Kongress selbst ausgetragen, und zwar zugunsten des revolutionären Flügels, mit einer Mehrheit von 127 Stimmen gegen 108 bei 10 Stimmenthaltungen. Dabei möchten wir auf die erfreuliche Erscheinung verweisen, dass alle Sozialisten Russlands in allen Fragen einmütig in revolutionärem Geiste gestimmt haben (Russland hat 20 Stimmen, von denen 10 der SDAPR, außer den Polen, 7 den Sozialrevolutionären und 3 den Vertretern der Gewerkschaften zuerkannt wurden. Ferner hat Polen 10 Stimmen – 4 die polnische Sozialdemokratie und 6 die PPS samt den nichtrussischen Teilen Polens, endlich hatten 2 Vertreter Finnlands 8 Stimmen).

In der Kolonialfrage kam in der Kommission eine opportunistische Mehrheit zustande, und im Resolutionsentwurf erschien der ungeheuerliche Satz:

Er (der Kongress. Die Red.) verwirft nicht prinzipiell und für alle Zeiten jede Kolonialpolitik, die unter sozialistischem Regime zivilisatorisch wirken können wird."

In Wirklichkeit war diese These gleichbedeutend mit einem offenen Rückzug in der Richtung bürgerlicher Politik und bürgerlicher Weltanschauung, die koloniale Kriege und Gräuel rechtfertigt. Das ist ein Rückzug auf Roosevelt, äußerte sich ein amerikanischer Delegierter. Die Versuche, diesen Rückzug durch die Aufgaben „sozialistischer Kolonialpolitik" und positiver Reformarbeit in den Kolonien zu rechtfertigen, sind ganz und gar misslungen. Der Sozialismus hat es niemals abgelehnt und lehnt es nicht ab, Reformen auch für Kolonien zu verfechten, das hat aber nichts zu tun und darf nichts zu tun haben mit der Schwächung unserer prinzipiellen Stellungnahme gegen Eroberungen, gegen Unterwerfung fremder Völker, gegen Gewalt und Raub, die den Inhalt der „Kolonialpolitik" bilden. Das Minimalprogramm aller sozialistischen Parteien gilt sowohl für Mutterländer als auch für Kolonien. Schon der Begriff „sozialistische Kolonialpolitik" ist heillose Konfusion. Der Kongress hat ganz richtig daran getan, obige Worte aus der Resolution zu streichen und sie durch eine noch schärfere Verurteilung der Kolonialpolitik, als sie in früheren Resolutionen enthalten war, zu ersetzen.

Die Resolution über die Beziehungen zwischen den sozialistischen Parteien und den Gewerkschaften hat für uns Russen besonders große Bedeutung. Diese Frage steht bei uns auf der Tagesordnung. Der Stockholmer Parteitag entschied sich zugunsten parteiloser Gewerkschaften, d. h. er bestätigte den Standpunkt unserer Neutralitätsanhänger mit Plechanow an der Spitze. Der Londoner Parteitag tat einen Schritt in der Richtung der Partei angeschlossener Gewerkschaften, gegen Neutralität. Die Londoner Resolution rief bekanntlich in einem Teil der Gewerkschaften, besonders aber in der bürgerlichen demokratischen Presse, eine lebhafte Diskussion und Unzufriedenheit hervor.

In Stuttgart stand die Frage eigentlich folgendermaßen: Neutralität der Gewerkschaften oder immer engere Annäherung derselben an die Partei? Wie der Leser sich aus der diesbezüglichen Resolution überzeugen kann, sprach sich der Internationale Sozialistenkongress für engere Annäherung der Gewerkschaften an die Partei aus. Weder von Neutralität noch von Parteilosigkeit der Gewerkschaften ist in der Resolution die Rede. Kautsky, der in der deutschen Sozialdemokratie für einen näheren Anschluss der Gewerkschaften an die Partei und gegen die von Bebel befürwortete Neutralität eintrat, erklärte daher in seinem Bericht an die Leipziger Arbeiter über den Stuttgarter Parteitag mit vollem Recht („Vorwärts", 1907, Nr. 209, erste Beilage),3 dass „die Resolution alles sagt, was wir brauchen. Sie macht der Neutralität für immer ein Ende". Clara Zetkin schreibt:

Im Prinzip hat in Stuttgart niemand mehr gegen die geschichtliche Grundtendenz des proletarischen Klassenkampfes opponiert, den politischen und ökonomischen Kampf sowie beide Organisationen möglichst innig zu einer einheitlichen Macht der sozialistischen Arbeiterklasse zu gestalten.

Nur der Vertreter der russischen Sozialdemokraten, Genosse Plechanow (Es sollte heißen: Vertreter der Menschewiki, die Plechanow als Verfechter der „Neutralität" in die Kommission entsandten. L.), und die Majorität der französischen Delegation suchten mit ziemlich verunglückten Argumenten die Besonderheiten ihrer respektiven Länder gegen dieses Prinzip als einschränkende Rücksichtsmomente ins Feld zu führen. Die überwältigende Majorität des Kongresses stellte sich auf die Seite der unumwundenen Politik der Einigkeit zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften.'"

Wir müssen bemerken, dass das, wie die Genossin Zetkin mit Recht meint, verunglückte Argument Plechanows in dieser Gestalt durch alle russischen legalen Zeitungen die Runde gemacht hat. Plechanow sagte in der Kommission des Stuttgarter Kongresses: In Russland gibt es 11 revolutionäre Organisationen, mit welcher sollen die Gewerkschaften in Verbindung treten? (nach dem „Vorwärts" Nr. 196, erste Beilage).4 Das ist weder faktisch noch prinzipiell richtig. Faktisch kämpfen in jeder Nationalität Russlands nicht mehr als zwei Parteien um den Einfluss auf das sozialistische Proletariat: Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre, polnische Sozialdemokraten und Polnische Sozialistische Partei, lettische Sozialdemokraten und lettische Sozialrevolutionäre (der sogenannte lettische „Sozialdemokratische Verband"), armenische Sozialdemokraten und Daschnakzutjun usw. Die russische Delegation in Stuttgart trennte sich ebenfalls gleich zu Anfang in zwei Teile. Die Zahl 11 ist ganz willkürlich und führt die Arbeiter irre. Prinzipiell aber ist Plechanow deshalb im Unrecht, weil der Kampf zwischen kleinbürgerlichem und proletarischem Sozialismus in Russland überall unvermeidlich ist, also auch in den Gewerkschaften. Die Engländer z. B. dachten nicht daran, sich gegen die Resolution zu wenden, obwohl auch in England zwei sozialistische Parteien einander gegenüberstehen – die Sozialdemokraten (SDF) und die „Unabhängigen" (ILP).

Dass der in Stuttgart abgelehnte Neutralitätsgedanke der Arbeiterbewegung bereits viel Schaden zugefügt hat, wird am Beispiel Deutschlands besonders klar. Hier wurde die Neutralität am breitesten propagiert und am meisten angewandt. Das Resultat war eine so offene Abweichung der deutschen Gewerkschaften in der Richtung des Opportunismus, dass selbst ein in dieser Frage so vorsichtiger Mann wie Kautsky dies offen zugeben musste. In seinem Bericht vor den Leipziger Arbeitern sagt er gerade heraus, dass der „Konservatismus" der deutschen Delegation in Stuttgart

begreiflich wird ... bei Betrachtungen ihrer Zusammensetzung: ihre Hälfte bestand aus Gewerkschaftlern und der ,rechte Flügel' der Partei erschien somit in einer Ausdehnung, wie er sie tatsächlich in der Partei nicht besitzt."

Die Resolution des Stuttgarter Kongresses wird den entscheidenden Bruch der russischen Sozialdemokratie mit dem bei unseren Liberalen so beliebten Neutralitätsgedanken zweifellos beschleunigen. Mit der erforderlichen Vorsicht und Allmählichkeit, ohne irgendwelche stürmische und taktlose Schritte müssen wir in den Gewerkschaften unbeirrt im Geist ihrer immer größeren Annäherung an die sozialdemokratische Partei arbeiten.

Auch in der Frage der Ein- und Auswanderung sind in der Kommission des Stuttgarter Kongresses die Meinungsverschiedenheiten zwischen Opportunisten und Revolutionären mit aller Deutlichkeit zutage getreten. Die ersten trugen sich mit dem Gedanken, das Übersiedlungsrecht der rückständigen, unentwickelten Arbeiter, insbesondere der Japaner und Chinesen, zu beschränken. Der Geist einer zünftlerisch beschränkten Abgeschlossenheit, trade-unionistischer Exklusivität überwog bei solchen Menschen das Bewusstsein der sozialistischen Aufgaben: Arbeit an der Aufklärung und Organisierung der in die Arbeiterbewegung noch nicht hineingezogenen Schichten des Proletariats. Der Kongress lehnte alle Versuche in dieser Richtung ab. Selbst in der Kommission blieben die Stimmen zugunsten einer Beschränkung des Übersiedlungsrechtes isoliert, und die Resolution des Internationalen Kongresses ist von der Anerkennung des solidarischen Klassenkampfes der Arbeiter aller Länder durchdrungen.

Die Resolution über das Frauenwahlrecht wurde ebenfalls einstimmig angenommen. Nur eine Engländerin aus der halb bürgerlichen „Fabier-Gesellschaft" vertrat die Zulässigkeit des Kampfes nicht um ein volles, sondern um ein zugunsten der Besitzenden beschränktes Frauenwahlrecht. Der Kongress lehnte diesen Standpunkt entschieden ab und sprach sich dafür aus, dass die Arbeiterinnen ihren Wahlrechtskampf nicht gemeinsam mit den bürgerlichen Anhängerinnen der Frauengleichheit, sondern zusammen mit den Klassenparteien des Proletariats führen sollen. Der Kongress stellte das Prinzip auf, dass in der Kampagne für das Frauenwahlrecht die sozialistischen Prinzipien und die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in vollem Umfang, ohne sie aus irgendwelchen Zweckmäßigkeitsgründen zu schmälern, zu vertreten seien.

In der Kommission kam es zu einer interessanten Meinungsverschiedenheit in dieser Frage. Die Österreicher (Viktor Adler, Adelheid Popp) rechtfertigten ihre Taktik im Kampf um das allgemeine Wahlrecht der Männer folgendermaßen: um der Eroberung dieses Wahlrechts willen sei es zweckmäßig gewesen, die Forderung des Wahlrechtes auch für Frauen in ihrer Agitation nicht in den Vordergrund zu rücken. Die deutschen Sozialdemokraten, besonders Clara Zetkin, protestierten dagegen schon zur Zeit, als die Österreicher ihre Kampagne für das allgemeine Wahlrecht entfalteten. Zetkin erklärte in der Presse, die Forderung des Wahlrechts für Frauen hätte keinesfalls in den Schatten gerückt werden dürfen, die Österreicher hätten opportunistisch das Prinzip ihren Zweckmäßigkeitserwägungen zum Opfer gebracht, sie würden ihren Agitationsschwung und die Kraft der Volksbewegung nicht geschwächt, sondern verstärkt haben, wenn sie das Frauenwahlrecht ebenso energisch vertreten hätten. Eine andere hervorragende deutsche Sozialdemokratin, Zietz, schloss sich in der Kommission dem Standpunkte von Clara Zetkin an. Ein Abänderungsantrag Adlers, der die österreichische Taktik indirekt zu rechtfertigen suchte, wurde mit 12 Stimmen gegen 9 abgelehnt (in diesem Antrag ist nur davon die Rede, dass es im Kampf um das Wahlrecht für wirklich alle Bürger keine Unterbrechung geben dürfe, nicht aber davon, dass man im Wahlrechtskampf stets die Gleichberechtigung der Frauen mit den Männern verlangen müsse). Der Standpunkt der Kommission und des Kongresses kann am besten durch folgende Worte der oben erwähnten Sozialdemokratin Zietz in ihrer Rede auf der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz wiedergegeben werden (diese Konferenz tagte in Stuttgart zu gleicher Zeit mit dem Kongress):

Wir müssen prinzipiell alles fordern, was wir für richtig halten – sagte sie – und nur, wenn unsere Macht nicht weiter reicht, nehmen wir das, was wir bekommen können. So ist immer die Taktik der Sozialdemokratie gewesen. Je bescheidener wir in unseren Forderungen sind,, desto bescheidener wird die Regierung in ihren Bewilligungen sein..."

Aus diesem Streit der österreichischen und der deutschen Sozialdemokratinnen ersieht der Leser, wie streng die besten Marxisten gegenüber den geringsten Abweichungen von einer konsequenten, prinzipiellen revolutionären Taktik sind.

Der letzte Tag des Kongresses war der Frage des Militarismus gewidmet, die das Interesse aller am meisten in Anspruch nahm. Der bekannte Hervé vertrat einen außerordentlich unhaltbaren Standpunkt – er verstand es nicht, den Krieg mit dem kapitalistischen Regime überhaupt und die antimilitaristische Agitation mit der ganzen Arbeit des Sozialismus in Zusammenhang zu bringen. Der Plan Hervés, jeden Krieg mit Generalstreik und Aufstand zu „beantworten", zeigt, dass ihm jegliches Verständnis dafür fehlt, dass die Anwendung des einen oder anderen Kampfmittels nicht von einem vorherigen Beschluss der Revolutionäre abhängt, sondern von den objektiven Bedingungen der durch den Krieg hervorgerufenen sowohl wirtschaftlichen wie politischen Krise.

Hat aber Hervé zweifellos Leichtfertigkeit, Oberflächlichkeit und übermäßigen Hang zu effektvollen Phrasen an den Tag gelegt, so wäre es außerordentliche Kurzsichtigkeit, ihm nur eine dogmatische Darlegung allgemeiner sozialistischer Wahrheiten entgegenzuhalten. In diesen Fehler (von dem auch Bebel und Guesde nicht ganz freizusprechen sind) verfiel besonders Vollmar. Mit der größten Selbstzufriedenheit eines in schablonenhaften Parlamentarismus verliebten Mannes wetterte er gegen Hervé, ohne zu bemerken, dass seine eigene Engherzigkeit und die Trockenheit des Opportunismus dazu zwingt, im Hervéismus einen lebendigen Kern anzuerkennen – ungeachtet der theoretischen Unsinnigkeit und Absurdität der Fragestellung bei Hervé selbst. Es kommt ja vor, dass hinter theoretischem Unsinn sich etwas praktisch Wahres bei einer neuen Wendung der Bewegung verbirgt. Und diese Seite der Frage, die Aufforderung, nicht allein die parlamentarischen Kampfmethoden zu schätzen, die Aufforderung zur Aktion gemäß den neuen Bedingungen des künftigen Krieges und der künftigen Krisen, wurde von den revolutionären Sozialdemokraten, besonders von Rosa Luxemburg, in ihrer Rede betont. Gemeinsam mit russischen sozialdemokratischen Delegierten (Lenin und Martow, die in dieser Frage solidarisch waren) stellte Rosa Luxemburg Abänderungsanträge zur Bebelschen Resolution, in denen die Notwendigkeit der Agitation unter der Jugend, der Ausnutzung der durch den Krieg hervorgerufenen Krise für die Beschleunigung des Sturzes der Bourgeoisie sowie die Notwendigkeit betont wurde, mit der fortschreitenden Verschärfung des Klassenkampfes und der Änderung der politischen Situation auch die unvermeidliche Änderung der Kampfmethoden und Kampfmittel ins Auge zu fassen. Aus der einseitig-dogmatischen, toten Resolution von Bebel, die im Geiste Vollmars ausgelegt werden konnte, kam auf diese Weise schließlich eine ganz andere Resolution zustande. Zur Belehrung der Hervéisten, die fähig sind, über den Antimilitarismus den Sozialismus zu vergessen, werden alle theoretischen Wahrheiten in ihr wiederholt. Doch sie dienen nicht als Einleitung zu einer Rechtfertigung des parlamentarischen Kretinismus, nicht zur Heiligsprechung nur friedlicher Methoden, nicht zum Kniefall vor der gegebenen, verhältnismäßig friedlichen und ruhigen Situation, sondern als Einleitung zur Anerkennung aller Kampfmittel, zur Berücksichtigung der Erfahrungen der russischen Revolution und zur Entwicklung der aktiven, der schöpferischen Seite der Bewegung.

In dem bereits mehrfach erwähnten Organ Clara Zetkins wird dieser hervorragendste und wichtigste Zug der antimilitaristischen Resolution des Kongresses außerordentlich richtig erfasst.

Und auch hier – sagt Zetkin über die antimilitaristische Resolution – siegte schließlich die revolutionäre Tatkraft und das männliche Vertrauen der Arbeiterklasse auf die eigene Aktionsfähigkeit über das pessimistische Evangelium der eigenen Ohnmacht und des starren Festhaltens an alten, ausschließlich parlamentarischen Kampfmethoden, ebenso wie auch nach der andern Seite über den simplen antimilitaristischen Sport der französischen Halbanarchisten à la Hervé. Die am letzten Ende von der Kommission wie von den 900 sozialistischen Delegierten aller Länder einstimmig angenommene Resolution spricht in kraftvollen Worten den enormen Aufschwung der revolutionären Arbeiterbewegung seit dem letzten Internationalen Kongress aus, und stellt als Grundsatz der proletarischen Taktik ihre 'Veränderlichkeit, ihre Entwicklungsfähigkeit, ihre Zuspitzung5 mit dem Reifen der Verhältnisse auf."

Der Hervéismus ist abgelehnt, doch nicht zugunsten des Opportunismus, nicht vom Standpunkt des Dogmatismus und der Passivität. Das lebendige Streben nach immer entschiedeneren und neuen Kampfmethoden ist vom internationalen Proletariat nunmehr in vollem Umfange anerkannt, und mit der ganzen Verschärfung der wirtschaftlichen Widersprüche, mit allen Bedingungen der durch den Kapitalismus ausgelösten Krisen in Verbindung gebracht.

Nicht leere hervéistische Drohungen, sondern klares Bewusstsein der Unvermeidlichkeit der sozialen Revolution, feste Entschlossenheit zum Kampf bis ans Ende, Bereitschaft zu den revolutionärsten Kampfmitteln, – dies ist die Bedeutung der Resolution des Stuttgarter Internationalen Sozialistenkongresses in der Frage des Militarismus.

Das proletarische Heer erstarkt immer mehr in allen Ländern. Sein Klassenbewusstsein, seine Geschlossenheit und Entschlossenheit wächst täglich und stündlich. Der Kapitalismus aber sorgt erfolgreich für die häufige Wiederkehr der Krisen, die dieses Heer für die Zerstörung des Kapitalismus ausnutzen wird.

1 Siehe: Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietzgen, Friedrich Engels, Karl Marx u. a. an F. A. Sorge und andere,. Stuttgart 1906, Verlag J. H. W. Dietz Nachf.

2Lenin zitiert den Artikel Karl Kautskys „Der Stuttgarter Kongress", „Neue Zeit", Jahrg. XXV, 1906–1907, II, S. 724–730, Nr. 48, 1907.

3Vorwärts" Nr. 209, 7. IX. 1907, erste Beilage.

4 Die vom „Vorwärts" in der Beilage von Nr. 196 angeführte Rede Plechanows ist in den Protokollen des Stuttgarter Kongresses veröffentlicht. (VII-e Congrès Socialiste International, tenu à Stuttgart du 16 au 24 Août 1907. Compte rendu analytique publie par le Secrétariat du Bureau Socialiste International, Bruxelles, 1908.) Die Rede Plechanows ist im Anhang zu Bd. XV der Sämtlichen Werke Plechanows (S. 467–468) abgedruckt, und zwar in zwei Varianten. Doch haben es die Redakteure unterlassen, darauf hinzuweisen, dass das „deutsche Protokoll" keine offizielle Veröffentlichung des Internationalen Sozialistischen Büros war, sondern ein Neuabdruck der im „Vorwärts" erschienenen Berichte.

5 Von Lenin gesperrt. Die Red.

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