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Wladimir I. Lenin 19181009 Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky

Wladimir I. Lenin: Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky

[Geschrieben am 9. Oktober 1918. „Prawda" Nr. 219. 11. Oktober 1918. Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 23, Moskau 1940, S. 274-284]

Ich habe angefangen, unter diesem Titel eine Broschüre zu schreiben, die der Kritik einer soeben in Wien erschienenen Broschüre Kautskys: „Die Diktatur des Proletariats" gewidmet ist. Da sich aber meine Arbeit verzögert, habe ich mich entschlossen, die Redaktion der „Prawda" zu bitten, mir Platz für einen kurzen Artikel über dasselbe Thema einzuräumen.

Der mehr als vier Jahre währende äußerst erschöpfende und reaktionäre Krieg hat das Seine getan. In Europa ist der Atem der ansteigenden proletarischen Revolution zu spüren – sowohl in Österreich wie in Italien, in Deutschland wie in Frankreich, ja selbst in England (höchst charakteristisch sind z. B. die „Bekenntnisse eines Kapitalisten" im Juliheft der erzopportunistischen „Socialist Review", die von dem Halbliberalen Ramsay Macdonald redigiert wird).

Und in einem solchen Augenblick lässt Herr Kautsky, ein Führer der II. Internationale, ein Buch über die Diktatur des Proletariats, d. h. über die proletarische Revolution erscheinen, ein Buch, das hundertmal schändlicher und empörender ist, hundertmal mehr den Stempel des Renegatentums trägt als die berühmt gewordenen „Voraussetzungen des Sozialismus" von Bernstein. Fast zwanzig Jahre sind seit der Herausgabe jenes Renegatenbuches verstrichen, und nun erscheint eine Wiederholung, eine Vertiefung des Renegatentums durch Kautsky!

Ein verschwindend kleiner Teil der Schrift ist eigentlich der russischen bolschewistischen Revolution gewidmet. Kautsky wiederholt so vollständig die menschewistischen Weisheiten, dass der russische Arbeiter dem nur mit homerischem Gelächter begegnen würde. Man stelle sich z. B. vor, dass eine mit Zitaten aus den halbliberalen Werken des Halbliberalen Maslow gespickte Erörterung darüber, wie die reichen Bauern bemüht seien, den Grund und Boden an sich zu reißen (wie neu!), wie vorteilhaft für sie hohe Getreidepreise seien u. a. m. „Marxismus" genannt wird. Und daneben die geringschätzige, schon ganz und gar liberale Erklärung unseres „Marxisten": „Der arme Bauer wird hier" (d. h. von den Bolschewiki in der russischen Sowjetrepublik) „als dauerndes und massenhaftes Produkt der sozialistischen Agrarreform der ,Diktatur des Proletariats' anerkannt" (Seite 48 der Kautskyschen Broschüre).

Hübsch, nicht wahr? Ein Sozialist, ein Marxist gibt sich die Mühe, uns den bürgerlichen Charakter der Revolution zu beweisen und macht sich dabei, ganz im Geiste eines Maslow, eines Potressow und der Kadetten über die Organisierung der Dorfarmut lustig.

Nur tragen sie" (die Enteignungen der reichen Bauern) „ein neues Element der Unruhe und des Bürgerkrieges in den Produktionsprozess hinein, der zu seiner Gesundung der Ruhe und Sicherheit dringend bedarf" (S. 49).

Unglaublich, aber wahr! Das ist wörtlich von Kautsky und nicht von Sawinkow und nicht von Miljukow gesagt!

In Russland haben wir schon so viele Male gesehen, wie sich die Verteidiger der Kulaken hinter „Marxismus" versteckten, dass wir uns über einen Kautsky nicht mehr wundern. Für den europäischen Leser wird man vielleicht auf diese niederträchtige Liebedienerei vor der Bourgeoisie, auf diese Angst des Liberalen vor dem Bürgerkrieg ausführlicher eingehen müssen. Was den russischen Arbeiter und Bauern betrifft, so genügt es, auf dieses Renegatentum Kautskys mit dem Finger zu weisen – und weiterzugehen.

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Beinahe neun Zehntel der Kautskyschen Schrift ist einer allgemeinen theoretischen Frage von allergrößter Bedeutung gewidmet: der Frage nach dem Verhältnis der Diktatur des Proletariats zur ..Demokratie". Und gerade hier ist der vollständige Bruch Kautskys mit dem Marxismus am allerdeutlichsten.

Kautsky versichert seinen Lesern – mit vollkommen ernster und höchst „gelehrter" Miene –, dass Marx unter „der revolutionären Diktatur des Proletariats" nicht eine die Demokratie ausschließende „Regierungsform" verstanden habe, sondern einen Zustand, nämlich den „Zustand der Herrschaft". Die Herrschaft jedoch des Proletariats als der Mehrheit der Bevölkerung sei möglich unter striktester Beachtung der Demokratie, so z. B. sei die Pariser Kommune, die eben die Diktatur des Proletariats war, durch allgemeines Stimmrecht gewählt worden. Dass aber Marx, wenn er von der Diktatur des Proletariats sprach, „keine Regierungsform im Auge hatte, wird schon dadurch bezeugt, dass er der Ansicht war, in England und Amerika könne sich der Übergang" (zum Kommunismus) „friedlich, also auf demokratischem Wege vollziehen" (S. 20).

Unglaublich, aber wahr! Gerade so argumentiert Kautsky und er wettert gegen die Bolschewiki wegen Verletzung der „Demokratie" in ihrer Verfassung, in ihrer ganzen Politik, und predigt aus Leibeskräften und bei jedem Anlass die „demokratischen und nicht die diktatorischen Methoden".

Das ist der vollständige Übergang auf die Seite derjenigen Opportunisten, die (wie die Deutschen David, Kolb und die anderen Säulen des Sozialchauvinismus, oder die englischen Fabier und Unabhängigen, oder die Reformisten in Frankreich und Italien) offener und ehrlicher erklärten, dass sie die Marxsche Lehre von der Diktatur des Proletariats nicht anerkennen, da sie dem Demokratismus widerspreche.

Das ist die vollständige Rückkehr zur Anschauung jenes vormarxistischen, deutschen Sozialismus, dass wir den „freien Volksstaat" anzustreben hätten, zur Anschauung der kleinbürgerlichen Demokraten, die nicht begriffen, dass jeder Staat eine Maschine ist zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere.

Das ist die vollständige Verleugnung der Revolution des Proletariats, an deren Stelle die liberale Theorie der „Gewinnung der Majorität" und der „Ausnutzung der Demokratie" gesetzt wird!

Alles, was Marx und Engels vierzig Jahre lang, von 1852 bis 1891, propagierten und bewiesen betreffs der Notwendigkeit für das Proletariat, die bürgerliche Staatsmaschinerie zu „zerschlagen", – all das ist von dem Renegaten Kautsky völlig vergessen, verzerrt und über Bord geworfen worden.

Eine ausführliche Untersuchung der theoretischen Irrtümer Kautskys würde bedeuten, das zu wiederholen, was von mir in „Staat und Revolution" gesagt worden ist. Dessen bedarf es hier nicht. Ich will nur in aller Kürze auf Folgendes hinweisen:

Kautsky hat den Marxismus verleugnet, denn er hat vergessen, dass jeder Staat eine Maschine ist zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere, und dass die allerdemokratischste bürgerliche Republik eine Maschine ist zur Unterdrückung des Proletariats durch die Bourgeoisie.

Die Diktatur des Proletariats ist keine „Regierungsform", sondern ein Staat von anderem Typus, ein proletarischer Staat, eine Maschine zur Niederhaltung der Bourgeoisie durch das Proletariat. Die Niederhaltung ist notwendig, weil die Bourgeoisie ihrer Enteignung stets erbitterten Widerstand leisten wird.

(Die Berufung darauf, dass Marx in den siebziger Jahren für England und Amerika die Möglichkeit eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus zuließ, ist das Argument eines Sophisten, oder einfacher gesagt, eines Gauners, der mit Hilfe von Zitaten und Hinweisen Schwindeleien betreibt. Erstens hielt Marx auch damals diese Möglichkeit für eine Ausnahme. Zweitens gab es damals noch keinen monopolistischen Kapitalismus, d. h. keinen Imperialismus. Drittens gab es damals gerade in England und Amerika kein stehendes Heer (jetzt gibt es eins) als Hauptapparat der bürgerlichen Staatsmaschine.)

Wo es Niederhaltung gibt, dort kann es keine Freiheit, Gleichheit usw. geben. Deshalb sagt Engels auch: „Solange das Proletariat den Staat noch gebraucht, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Niederhaltung seiner Gegner, und sobald von der Freiheit die Rede sein kann, hört der Staat als solcher auf zu bestehen."1

Die bürgerliche Demokratie, deren Wert für die Erziehung des Proletariats und für seine Schulung zum Kampf unbestreitbar ist, ist stets beschränkt, heuchlerisch, verlogen und falsch, bleibt stets eine Demokratie für die Reichen und ein Betrug für die Armen.

Die proletarische Demokratie hält die Ausbeuter, die Bourgeoisie, nieder – und darum heuchelt sie nicht, verspricht ihnen keine Freiheit und Demokratie – den Werktätigen aber gibt sie wirkliche Demokratie. Nur Sowjetrussland hat dem Proletariat und der ganzen riesigen werktätigen Mehrheit Russlands eine Freiheit und Demokratie gegeben, die in jeder bürgerlichen demokratischen Republik ungekannt, unmöglich und undenkbar ist; dadurch, dass es z. B. der Bourgeoisie ihre Paläste und Villen genommen (ohne das ist die Versammlungsfreiheit eine Heuchelei); dass es den Kapitalisten die Druckereien und das Papier genommen (ohne das ist die Pressfreiheit für die werktätige Mehrheit der Nation eine Lüge); dass es an Stelle des bürgerlichen Parlamentarismus die demokratische Organisation der Sowjets gesetzt, die dem „Volke" tausendmal näher stehen und tausendmal „demokratischer" sind als das demokratischste bürgerliche Parlament. Und so weiter.

Kautsky hat … den „Klassenkampf" in Anwendung auf die Demokratie über Bord geworfen! Kautsky ist zum regelrechten Renegaten und zum Lakai der Bourgeoisie geworden.

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Ganz nebenbei muss ich doch ein paar Perlen des Renegatentums hervorheben.

Kautsky ist genötigt anzuerkennen, dass die Sowjetorganisation nicht nur für Russland, sondern für die ganze Welt von Bedeutung ist, dass sie zu den „wichtigsten Erscheinungen unserer Zeit" gehört, dass sie eine „entscheidende Bedeutung" in den kommenden großen „Schlachten zwischen Kapital und Arbeit" zu gewinnen verspricht. Aber indem Kautsky die hohe Weisheit der Menschewiki wiederholt, die glücklich auf die Seite der Bourgeoisie gegen das Proletariat übergegangen sind, „schlussfolgert" er weise: die Sowjets seien gut als „Kampforganisationen", nicht aber als „Staatsorganisationen".

Großartig! Organisiert euch in Sowjets, ihr Proletarier und armen Bauern! Aber – um Gottes willen! .– wagt nicht etwa zu siegen! Lasst es euch nicht einfallen, siegen zu wollen! Sobald ihr die Bourgeoisie besiegt, seid ihr halt auch erledigt, denn „Staatsorganisationen" im proletarischen Staat dürft ihr nicht sein. Gerade nachdem ihr gesiegt habt, müsst ihr euch auflösen!!

Oh, dieser großartige „Marxist" Kautsky! Oh, dieser unvergleichliche „Theoretiker" des Renegatentums!

Perle Nummer zwei. Der Bürgerkrieg sei der „Todfeind" der „sozialen Revolution", denn diese, wie wir bereits gehört haben, „bedarf der Ruhe" (für die Reichen?) „und der Sicherheit" (für die Kapitalisten?).

Proletarier Europas! Denkt nicht an Revolution, solange ihr nicht eine solche Bourgeoisie finden werdet, die nicht für den Bürgerkrieg gegen euch die Sawinkow und Dan, Dutow und Krasnow, die Tschechoslowaken und die Kulaken in Sold nehmen wird!

Im Jahre 1870 schrieb Marx, dass der Krieg die französischen Arbeiter gelehrt habe, die Waffen zu handhaben, gebe die größte Hoffnung.2 Der „Marxist" Kautsky erwartet von den vier Jahren Krieg nicht etwa, dass die Arbeiter die Waffen gegen die Bourgeoisie anwenden (Gott bewahre, das wäre ja am Ende nicht ganz „demokratisch"), sondern … dass die netten Herren Kapitalisten einen netten Frieden schließen!

Perle Nummer drei. Der Bürgerkrieg hat noch eine unangenehme Seite: während es unter der „Demokratie" einen „Schutz der Minoritäten" gibt (den, in Klammern bemerkt, die französischen Verteidiger von Dreyfus oder Liebknecht, Maclean und Debs in der letzten Zeit so gut am eigenen Leibe spürten!), „droht" der Bürgerkrieg (hört! hört!) „dem Besiegten mit völliger Vernichtung".

Nun, ist er, dieser Kautsky, nicht etwa ein waschechter Revolutionär? Er ist mit Leib und Seele für die Revolution … nur darf die Revolution nicht einen ernsthaften Kampf heraufbeschwören, der mit Vernichtung droht! Er hat die alten Irrtümer des alten Engels, der begeistert die erzieherische Wirkung der gewaltsamen Revolutionen gepriesen, vollkommen „überwunden". Als „ernstzunehmender" Geschichtsschreiber hat er sich vollkommen von den Irrtümern jener Leute losgesagt, die da sagten, der Bürgerkrieg stähle die Ausgebeuteten und lehre sie, eine neue Gesellschaft ohne Ausbeuter zu schaffen.

Perle Nummer vier. Ob die Diktatur der Proletarier und Kleinbürger in der Revolution von 1789 in historischer Hinsicht groß und nützlich gewesen ist? Mitnichten! Denn Napoleon sei gekommen. Die Diktatur der unteren Schichten „ebnet den Weg für die Diktatur des Säbels" (S, 26). – Unser „ernstzunehmender" Historiker ist – wie auch alle Liberalen, in deren Lager er übergegangen ist – fest davon überzeugt, dass es in den Ländern, die keine „Diktatur der unteren Schichten" gekannt haben, wie z. B. in Deutschland, keine Diktatur des Säbels gegeben habe. Niemals habe sich Deutschland von Frankreich durch eine gröbere, eine gemeinere Säbeldiktatur unterschieden – das sei einfach eine Verleumdung, aufgebracht von Marx und Engels, die unverschämt gelogen hätten, als sie erklärten, dass es bisher unter dem „Volke" von Frankreich mehr Freiheitsliebe und Stolz bei den Unterdrückten gegeben habe, als in England oder in Deutschland, und dass das Frankreich eben seinen Revolutionen zu verdanken habe.

Aber genug! Man müsste eine besondere Broschüre schreiben, um alle Perlen des Renegatentums des niederträchtigen Renegaten Kautsky aufzuzählen.

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Doch kann man nicht umhin, beim „Internationalismus" des Herrn Kautsky zu verweilen. Versehentlich hat Kautsky ihn ins helle Licht gerückt, eben dadurch, dass er in Ausdrücken der höchsten Sympathie den Internationalismus der Menschewiki schildert, die ja auch Zimmerwalder seien – versichert der salbungsvolle Kautsky –, die ja – ohne Scherz! – die leiblichen „Brüder" der Bolschewiki seien.

Da habt ihr die süßliche Schilderung des „Zimmerwaldismus" der Menschewiki: .

„…die Menschewiki wollten den allgemeinen Frieden, und sie wollten, dass alle Kriegführenden die Parole annehmen: keine Annexionen und Kontributionen. Solange dies nicht erreicht sei, solle die russische Armee" (ihrer Meinung nach) „Gewehr bei Fuß schlagfertig bleiben." … Die bösen Bolschewiki jedoch haben die Armee „desorganisiert" und den schlimmen Brester Frieden geschlossen … Und Kautsky sagt klipp und klar, man hätte die Konstituante beibehalten müssen, die Bolschewiki hätten die Macht nicht ergreifen sollen.

Der Internationalismus besteht also darin, dass man seine „eigene" imperialistische Regierung unterstützt, so wie die Menschewiki und Sozialrevolutionäre Kerenski unterstützten, dass man die Geheimverträge der Regierung deckt, indem man das Volk mit der hübschen Phrase einwickelt: Wir „fordern" ja von der Bestie, dass sie gut werde; wir „fordern" von den imperialistischen Regierungen, dass sie die Parole annehmen: „Keine Annexionen und Kontributionen".

Nach Kautskys Meinung besteht eben darin der Internationalismus.

Nach unserer Meinung aber ist das absolutes Renegatentum.

Der Internationalismus besteht im Bruch mit den eigenen Sozialchauvinisten (d. h. den Vaterlandsverteidigern) und mit der eigenen imperialistischen Regierung; er besteht im revolutionären Kampf gegen diese Regierung, in ihrem Sturz und in der Bereitwilligkeit, die größten nationalen Opfer (selbst einen Brester Frieden) auf sich zu nehmen, falls das der Entwicklung der internationalen Arbeiterrevolution nützlich ist.

Wir wissen wohl, dass Kautsky und seine Gesellschaft (wie etwa Ströbel, Bernstein usw.) über den Abschluss des Brester Friedens sehr „empört" waren; sie hätten gewünscht, wir hätten eine „Geste" gemacht und … damit wäre in Russland sofort die Macht der Bourgeoisie übergeben! Diese stumpfsinnigen, aber gutmütigen und biederen deutschen Kleinbürger ließen sich nicht davon leiten, dass die proletarische Sowjetrepublik, die als erste in der Welt auf revolutionärem Weg ihren Imperialismus gestürzt hatte, sich bis zur Revolution in Europa hielte und den Brand in den anderen Ländern entfache (die Kleinbürger fürchten den Brand in Europa, sie fürchten den Bürgerkrieg, der „Ruhe und Sicherheit" gefährdet). O nein! Sie ließen sich davon leiten, dass in allen Ländern der kleinbürgerliche Nationalismus sich hielte, der sich wegen seiner „Mäßigung und Akkuratesse" als „Internationalismus" deklariert. Die russische Republik hätte eine bürgerliche Republik bleiben und … abwarten sollen… Dann wäre alle Welt zu guten, gemäßigten, nicht eroberungslustigen kleinbürgerlichen Nationalisten geworden, und darin hätte eben der Internationalismus bestanden!

So denken die Kautskyaner in Deutschland, die Parteigänger Longuets in Frankreich, die Independent Labour Party in England, Turati und seine „Brüder" im Renegatentum in Italien usw. usf.

Heute schon können höchstens ausgemachte Dummköpfe nicht sehen, dass wir nicht nur Recht hatten, als wir unsere Bourgeoisie (und ihre Lakaien, die Menschewiki und Sozialrevolutionäre) stürzten, sondern dass wir auch Recht hatten, als wir den Brester Frieden schlossen, nachdem der offene Aufruf zum allgemeinen Frieden, unterstützt durch die Veröffentlichung und die Zerreißung der Geheimverträge, von der Bourgeoisie der Entente abgelehnt worden war. Erstens, hätten wir den Brester Frieden nicht geschlossen, so hätten wir die Macht ohne weiteres der russischen Bourgeoisie überlassen müssen und würden dadurch der sozialistischen Weltrevolution in höchstem Grade geschadet haben. Zweitens haben wir uns um den Preis nationaler Opfer einen solchen internationalen revolutionären Einfluss bewahrt, dass Bulgarien uns jetzt geradezu nachahmt; dass es in Österreich und Deutschland brodelt, dass der Imperialismus beider Gruppen geschwächt ist, während wir erstarkt sind und mit dem Aufbau einer wirklichen proletarischen Armee begonnen haben.

Aus der Taktik des Renegaten Kautsky ergibt sich, dass die deutschen Arbeiter gegenwärtig zusammen mit ihrer Bourgeoisie ihr Vaterland zu verteidigen hätten und die deutsche Revolution mehr als alles fürchten sollten, denn die Engländer könnten ihr ein neues Brest aufzwingen. Das eben ist Renegatentum. Das eben ist kleinbürgerlicher Nationalismus.

Wir dagegen sagen: Die Eroberung der Ukraine war ein außerordentlich großes nationales Opfer, aber sie hat die Proletarier und die armen Bauern der Ukraine gestählt und gestärkt als revolutionäre Kämpfer für die internationale Arbeiterrevolution. Die Ukraine hat dadurch gelitten – die internationale Revolution hat gewonnen, indem diese Eroberung das deutsche Heer „demoralisierte", den deutschen Imperialismus schwächte und die deutschen, ukrainischen und russischen revolutionären Arbeiter einander nahebrachte.

Angenehmer" wäre es freilich gewesen, wenn wir einfach durch den Krieg sowohl Wilhelm wie Wilson hätten stürzen können. Aber das sind Hirngespinste. Durch einen äußeren Krieg können wir sie nicht stürzen. Aber wir können ihre innere Zersetzung vorwärtstreiben. Wir haben das durch die proletarische Revolution der Sowjets in gewaltigem Ausmaß erreicht.

Weit mehr Erfolge würden die deutschen Arbeiter erlangt haben, wenn sie zur Revolution geschritten wären, ohne auf die nationalen Opfer Rücksicht zu nehmen (darin allein besteht der wahre Internationalismus), wenn sie verkündet (und durch Taten bekräftigt) hätten, dass für sie die Interessen der internationalen Arbeiterrevolution höher stehen als die Unversehrtheit, Sicherheit und Ruhe dieses oder jenes, und namentlich ihres eigenen nationalen Staates.

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Das größte Unglück und die größte Gefahr für Europa besteht darin, dass es dort keine revolutionäre Partei gibt. Es gibt Parteien von Verrätern, nach Art der Scheidemänner, Renaudel, Henderson, Webbs und Konsorten oder von Lakaienseelen wie Kautsky. Es gibt keine revolutionäre Partei.

Gewiss, eine mächtige revolutionäre Bewegung der Massen kann diesen Mangel beseitigen, er ist und bleibt aber ein großes Unglück und eine große Gefahr.

Deshalb muss man die Renegaten vom Schlage Kautskys auf jede Weise entlarven, um dadurch die revolutionären Gruppen der wirklich internationalistischen Proletarier, die es in allen Ländern gibt, zu unterstützen. Das Proletariat wird schnell den Verrätern und Renegaten den Rücken kehren und wird diesen Gruppen folgen und aus ihrer Mitte sich seine Führer erziehen. Nicht umsonst heult die Bourgeoisie aller Länder über den „Weltbolschewismus".

Der Weltbolschewismus wird über die Weltbourgeoisie siegen.

1 Das Zitat ist dem Brief von F. Engels an Bebel vom 18. (28.) März 1875 entnommen. (Siehe K. Marx, Ausgewählte Schriften, Moskau 1934, Bd. II, S. 608.)

2 Siehe Brief von Marx an Kugelmann vom 13. Dezember 1870. („Briefe an Kugelmann", Moskau 1940, S. 100ff.)

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